Interview mit Martine Deprez im Luxemburger Wort "Ich möchte nicht auf einem Podest stehen"

Interview: Luxemburger Wort (Annette Welsch)

Luxemburger Wort: Martine Deprez, Sie haben sich mittlerweileeingearbeitet. Was war die größte Überraschung?

Martine Deprez: Ich bin erstaunt darüber, welchen Unterschied es macht, wie man auf die Leute zugeht. Für mich war es normal, die Rundedurch das Haus zu machen und jedem Hallozu sagen. Mir schlug eine Welle von Sympathie entgegen, weil man das nicht gewohntwar. Überrascht hat mich auch, dass ich zunächst in Watte gepackt und vor verschiedenen Sachlagen verschont werden sollte. Ichbin eher ein Mensch, der direkt anpackt, mitarbeitet und mitzieht und da brauche ich jeden auf Augenhöhe. Ich möchte nicht aufeinem Podest stehen.

Luxemburger Wort: Und von den Dossiers her?

Martine Deprez: In der Sozialversicherung kenne ich denUnterbau, in der Gesundheit kannte ich verschiedene Dossiers aus dem Staatsrat, aberdas war nur die Spitze des Eisbergs. Erstwenn man "auf das Terrain" geht, merktman, wie schwierig dieses in Texte zu fassenist. Man kann nicht alles regeln, besondersdie zwischenmenschlichen Beziehungennicht.

Luxemburger Wort: Und was wird die größte Herausforderung?

Martine Deprez: Die Bedürfnisse im Sektor direkt zu erkennen und darauf zu reagieren. Bodenständigund ich selbst zu bleiben.

Luxemburger Wort: Das ist die Form, wie ist es bei den Inhalten?

Martine Deprez: Wenn man will, dass der Patient das bekommt, was er braucht und dass der Versicherte nicht durch ein Loch im Netz fällt,muss alles ineinandergreifen. Die digitaleWende ist auch eine große Herausforderung– damit hier keiner auf der Strecke bleibt.

Die Kenntnisse sind sehr unterschiedlich. Ichkann beispielsweise meine Eltern mit über80 Jahren nicht mit einer App auf dem Handy zum Arzt schicken.

Luxemburger Wort: Sie haben in den letzten Tagen die Runde derKrankenhäuser gemacht – welche Anliegenwurden vorgetragen?

Martine Deprez: Überall wurde die Personaldotation angesprochen, überall würde man gerne mehrPersonal einstellen, weiß aber nicht, wieman dann finanziell noch über die Rundenkommt. Insofern ist es gut, dass Gesundheitund Sozialversicherung nun in einer Handliegen – der, der Mittel braucht, und der, dersie gibt.

Luxemburger Wort: Und der Personalmangel?

Martine Deprez: Ich habe keine Klagen gehört, dass Postennicht besetzt werden können, außer für ganzspezifische Berufe.

Luxemburger Wort: Wenn man im internationalen Vergleichschaut, hat Luxemburg mit die höchste Personalzahl pro Bett und doch wird über eine hoheBelastung gerade bei der Arbeit am Bett geklagt. Sehen Sie Effizienzprobleme?

Martine Deprez: Die Arbeitsbedingungen des Personals –das ist unsere größte Herausforderung fürdie nächsten Monate. Ich höre vom Pflegepersonal, dass sie nicht genug Zeit haben,sich um den Patienten zu kümmern und zuviel mit Bürokratie und Organisation aufgehalten werden. Auf der anderen Seite höreich, dass nicht genug Mittel da sind, ummehr Personal einzustellen. Wir sind dabei,herauszufinden, wie der Bedarf von jedembesser gedeckt werden kann. Ich sehe jedenfalls, dass viele den Sektor verlassen, um keine Schichtdienste mehr machen zu müssenoder nicht zu viele Tage hintereinanderarbeiten zu müssen. Der Druck würde sinken, wenn Ressourcen, die jetzt mit administrativen Arbeiten belegt sind, freigemachtwerden könnten.

Luxemburger Wort: Verfolgen Sie die Idee weiter, dass nicht mehrjedes Spital alles anbieten soll, wie es bei derKrankenhausplanung angedacht war?

Martine Deprez: Grundsätzlich sieht das Regierungsprogramm nicht vor, die Verteilung der nationalen und spezialisierten Abteilungen auf denKopf zu stellen, ich habe auch keine entsprechende Forderung vom Sektor gehört. Spannend finde ich die Geschichte des Herzzentrums INCCI, das als Exzellenzzentrum mittlerweile Experten aus dem Ausland anzieht.Vielleicht bekommt man das auf anderen Gebieten auch hin.

Luxemburger Wort: Die ambulante Wende bereitet dem Spitalsektor Sorgen, während die Ärzteschaft daraufwartet, mehr Dienstleistungen außerhalb derSpitäler anbieten zu können. Wie sieht es umdas Thema aus?

Martine Deprez: Es besteht das Gesetz vom Juli 2023 (zurAuslagerung von Aktivitäten in Spitalantennen, A.d.R.). Auf dessen Basis liegt bislangnur ein formeller Antrag vor – der des CHLfür eine nicht-chirurgische Tagesklinik mitMammografie und Onkologie in Grevenmacher. Der Anreiz, die vier legal möglichenAngebote (Dialyse, Radiodiagnostik, leichtechirurgische Eingriffe und onkologische Behandlungen, A.d.R.) auszulagern, ist gering –wer kein Spital findet, das seine Initiativemitträgt, bleibt auf dem Projekt sitzen. Dasist keine gesunde Situation. Man muss jetztprüfen, ob der Elan durch das Gesetz gebremst wird.

Luxemburger Wort: Im Regierungsprogramm steht, dass das Gesetz überarbeitet werden soll.

Martine Deprez: Wir können aber in den ersten 100 Tagennicht etwas infrage stellen, was über fünf,zehn Jahre angedacht war. Der Rahmen hätteso gesetzt werden müssen, dass der, der extern etwas anbieten möchte, Auflagen bekommt. Zum Beispiel sich am Dienstsystemzu beteiligen oder jeden Patienten annehmenzu müssen, unabhängig von dessen finanzieller Situation, oder keinen unlauteren Wettbewerb zu machen, indem dem Personal versprochen wird, nur von acht bis 16 Uhr arbeiten zu müssen. Auch muss die Qualität dermedizinischen Aktivität den Normen entsprechen, die im Spital gelten. Ich höre jetzt zu und dann müssen wir zusammen herausfinden, welche Angebote ohne Krankenhausbeteiligung gemacht werden können. Mit der Garantie, dass der Kontakt mit einem Spital besteht, damit der Patient idealerweise zu jedem Moment dorthin überwiesen werden kann, um seine Sicherheit zu garantieren.

Luxemburger Wort: Was stellen Sie sich vor?

Martine Deprez: Eine Regelung innerhalb des Spitalsgesetzes sehe ich hier nicht. Aber es könnte ein Kapitel in einem Gesetz sein, das sich um die spitalsmäßige Versorgung und die gleitenden Übergänge dreht. Darunter fällt auch die Hospitalisierung zu Hause - ob im Rahmen einer Nachsorge oder von Leistungen eines externen Anbieters zu Hause beim Patienten. Es schwebt mir vor, diese Schnittstellen in einem Gesetz zu regeln, um die Rundumversorgung zu garantieren.

Luxemburger Wort: Die elektronische Patientenakte ist bislang kein großer Erfolg und wird wenig genutzt. Was sehen Sie vor?

Martine Deprez: Das Dossier de Soins Partagé DSP entstand aus der Logik, dass die Daten extrem sicher sein müssen und dass jeder selber entscheiden kann, ob er es eröffnet oder nicht, welchem Gesundheitsprofessionellen er Zugang gibt und welchem nicht, dazu kann auch der Professionelle selber noch entscheiden, ob er es nutzt oder nicht. Es sind so viele Ausschlussmöglichkeiten gegeben, bis das Dossier operabel ist, dass schlecht vorauszusehen ist, ob es je funktionieren wird. Die Agence eSanté, wo ja nun neue Leute das Sagen haben, sieht selber, dass es so wie das DSP jetzt aufgestellt ist, nicht viel Wert hat.

Es wird über ein DSP der zweiten Generation nachgedacht, um alle Leute mitzunehmen, aber wie das konkret aussieht, kann ich noch nicht sagen.

Luxemburger Wort: Das System ist auch extrem schwerfällig, weil die Daten als PDF hochgeladen werden.

Martine Deprez: Das soll ganz verschwinden, das bringt gar nichts. Das nenne ich auch nicht Digitalisierung und DSP. Das ist nur den Schein erwecken, als hätte man anstelle von Papier digitalisiert. Die Patientenakte - das müssen strukturierte, informatisch verarbeitete Daten sein.

Luxemburger Wort: Und wie geht es mit der direkten Rückerstattung von Arztrechnungen weiter?

Martine Deprez: Das Modul steht bereit für die Hausärzte, scheint aber nicht wirklich genutzt zu werden. Wir sehen, dass jede Woche Ärzte dazukommen, aber es fehlt eine systematische Förderung davon. Die Ärzteschaft ist ganz unterschiedlich digitalisiert - die jungen eher als die älteren, die noch viel mit Papier arbeiten. Ich setze darauf, dass die Patienten aktiver werden - solange der Patient keinen Druck macht, wird keine Dynamik entstehen.

Luxemburger Wort: Wie steht es um das Pandemiegesetz?

Martine Deprez: Wir sind uns einig, dass ein Pandemiegesetz alleine nicht reicht, sondern das Gesetz zur öffentlichen Gesundheit, das recht alt ist, überarbeitet werden muss. Denn wir wussten in der Pandemie nicht, wer für was zuständig ist und konnten das System nicht direkt hochfahren. Auch die Pandemie-Vorstufen müssen geregelt werden - es müssen viele kleine Rädchen geschaffen werden. Ich schaue mir natürlich an, was schon ausgearbeitet ist und dann bauen wir aus.

Luxemburger Wort: Werden die Covid-Maßnahmen evaluiert?

Martine Deprez: Die Pandemie habe ich persönlich aus verschiedenen Blickwinkeln erfahren - von der Schulseite, der Staatsratseite, von der Familie aus. Entscheidungen mussten meinem Gefühl nach aus der Situation heraus getroffen werden und ich finde es als Wissenschaftlerin extrem schwierig, im Nachhinein auf wissenschaftlicher Basis zu bewerten, ob das ein oder andere sein musste oder nicht. Man kann sich nicht noch einmal in diese Situation versetzen, man kann auch nicht Jahre später herausfinden, was passiert wäre, wenn die Masken drei Wochen früher aufgesetzt worden wären, die Restaurants doch geöffnet geblieben wären oder die Ausgangssperre nicht eingeführt worden wäre. Wie und mit welchem Dispositiv analysieren wir das? Man musste sich auf die Daten der Wissenschaftler verlassen und konnte ja auch anhand der Infektionszahlen feststellen, welche Maßnahmen griffen. Was die Schäden, wie Impfschäden, anbelangt: Sie werden erfasst.

Luxemburger Wort: Die Diskussion um eine Pensionsreform ist entfacht - mitten im Sozialwahlkampf - und wird recht emotional geführt. Wie geht es jetzt weiter?

Martine Deprez: Nach den Sozialwahlen kommt das Gutachten des Wirtschafts- und Sozialrats und im Herbst werden wir die Diskussionen beginnen. Ich habe in der Chamberkommission beim Vorstellen des Regierungsprogramms drei Sätze gesagt: Wir führen eine breite Diskussion, um einen breiten Konsens zu finden; das System steht auf wackligen Beinen; und wir müssen über die ganze Architektur reden und nicht nur das allgemeine Pensionssystem. Das kann ein Verschieben der Formel sein, das bewirkt, dass die Rentner eine bessere Allgemeinversorgung bekommen und die, die es sich leisten können und damit in ihren Augen nicht genug bekommen, können sich eine zweite und dritte Säule aufbauen. Mit Betonung auf die, die es sich leisten können. Das einzige, was von verschiedenen Abgeordneten gehört wurde, war: Wir kürzen die Renten und alles muss über die Eigen- und Betriebsvorsorge laufen. Das war so nicht gesagt worden. Ab und zu hört man eben nur, was man hören will und jeder pocht auf sein Hoheitsgebiet. Meine Botschaft ist: Lasst uns als Gesellschaft darüber diskutieren, was wir unserer älteren Bevölkerung unbedingt garantieren wollen, damit sie mit Gelassenheit ihr Alter leben kann. Genauso müssen wir uns fragen, was ein junger Mensch in Luxemburg braucht, um vollwertig ins Leben starten zu können. Ich vermisse diese großen, gesellschaftsübergreifenden Debatten. Wir tun uns leider schwer damit.