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Interview mit Martine Deprez im Lëtzebuerger Journal "Ich bin immer noch Martine"
Interview: Lëtzebuerger Journal (Pascal Steinwachs, Lex Kleren)
Lëtzebuerger Journal: Im 2023er Wahlkampf spielten die Renten absolut keine Rolle, um nach den Wahlen urplötzlich zu einem der politischen Topthemen zu werden. Können Sie nachvollziehen, dass sich dadurch vielleicht manch einer veräppelt fühlt?
Martine Deprez: Im Wahlkampf war ich nicht dabei, aber im CSV-Wahlprogramm stand unter anderem, dass wir darauf achten müssten, unser Rentensystem im Gleichgewicht zu behalten.
Lëtzebuerger Journal: Das mag sein, aber die Wahlprogramme werden ja wohl von den wenigsten gelesen. In den Wahlversammlungen wurden die Renten jedenfalls nicht oder nur sehr wenig thematisiert.
Martine Deprez: In den Wahlversammlungen meiner Partei, denen ich beiwohnte, wurde zwar hauptsächlich über unser 10-Punkte-Programm gesprochen, aber ein Wahlprogramm besteht ja nicht nur aus zehn Punkten. In den Koalitionsverhandlungen waren die Renten auf jeden Fall ein Thema.
Lëtzebuerger Journal: Sie waren ja auch Teil der entsprechenden Arbeitsgruppe zur Sozialversicherung.
Martine Deprez: Genau, weil ich in diesem Bereich eine Expertise habe. Im Koalitionsabkommen wurde anschließend ja festgehalten, dass wir eine breit angelegte Debatte über die Absicherung der Renten führen.
Lëtzebuerger Journal: Von welcher Seite ging die Notwendigkeit einer Rentendebatte denn hauptsächlich aus? Mehr von der CSV oder mehr von der DP?
Martine Deprez: Von beiden Seiten.
Lëtzebuerger Journal: Wenn hier ein Handlungsbedarf besteht, dann hätte die Politik das ja vor den Wahlen deutlicher machen können.
Martine Deprez: Das hätte man machen können, ja. Nach einer Bilanz der Generalinspektion der Sozialversicherung zum allgemeinen Pensionssystem im Privatsektor im Jahre 2022 hatte die damalige Regierung den Wirtschafts- und Sozialrat mit einem Gutachten beauftragt, das jedoch erst nach den Wahlen, im Sommer dieses Jahres, fertiggestellt war. Ab da wurde definitiv über die Renten gesprochen.
Lëtzebuerger Journal: Sie waren zuletzt 2009 Kandidatin bei den Kammerwahlen. Warum wurden Sie als Seiteneinsteigerin überhaupt von Luc Frieden ins Regierungsboot geholt? Weil Sie als gelernte Mathematikerin und Mitarbeiterin der Generalinspektion der Sozialversicherung, wo sie unter anderem für die Rentenversicherung und die Zusatzrenten zuständig waren, das nötige Wissen für eine Rentenreform mitbringen? Und in Ihrer Eigenschaft als Staatsrätin waren Sie vor allem für Gesetzesentwürfe und großherzogliche Verordnungen im Bereich der Gesundheit und der sozialen Sicherheit zuständig.
Martine Deprez: Über die genauen Beweggründe weiß ich natürlich nichts, aber nach den Koalitionsverhandlungen hat Luc Frieden mich um eine Unterredung gebeten. Ich war gerade im Schulunterricht, als mich eine unbekannte Nummer auf meinem Smartphone anrief. Als ich zurückrief, meldete sich Luc Frieden.
Lëtzebuerger Journal: Und dann?
Martine Deprez: Dann machten wir ein Rendezvous aus, während dem wir rund eine Stunde über Fragen der sozialen Sicherheit und der Gesundheit gesprochen haben, bis er mich zum Schluss fragte, ob ich in seiner Mannschaft dabei sein wolle. Da war mir immer noch nicht klar, was er meinte. Erst dachte ich, als Regierungsrat in seiner Mannschaft, bis er dann sagte, 'nein, als Minister'.
Lëtzebuerger Journal: Da hat es Luc Frieden ja richtig spannend gemacht.
Martine Deprez: Ja, und als ich dann wissen wollte, an was für ein Ressort er denn gedacht habe, da antwortete er mir, dass wir uns ja gerade über die Sozialpolitik unterhalten hätten, worauf ich einwendete, dass wir ja ebenfalls über die Gesundheitspolitik gesprochen hätten. Da fragte ich ihn, ob man die beiden Ressorts nicht zusammenlegen könne.
Lëtzebuerger Journal: Und die Reaktion?
Martine Deprez: Die Idee fand er so gut, dass er sie noch am selben Abend mit Xavier Bettel besprach.
Am Freitag, den 10. November rief er mich an, um mir mitzuteilen, dass alles geklappt hat, ehe dann am 15. November in der Presse zu lesen war, dass ich Ministerin werde.
Vorher durfte ich keinem etwas sagen.
Lëtzebuerger Journal: Wie fühlt man sich denn so als Nicht-Politikerin unter lauter Politikern und Politikerinnen?
Martine Deprez: Ich benehme mich, wie ich mich immer benommen habe. Ich stelle da keinen Unterschied zu meinem früheren Leben fest. Ich sehe aber, dass ich andere Reflexe als andere Politiker habe, und nicht unbedingt direkt an die nächsten Wahlen denke.
Lëtzebuerger Journal: Bis zu Ihrem Eintritt in die Regierung waren Sie als Mathematiklehrerin am Lycée Hubert Clément tätig. Somit dürfte es Ihnen höchstwahrscheinlich nicht allzu schwerfallen, komplizierte Sachverhalte einfach zu erklären? Also: Wie funktioniert unser aktuelles Rentensystem, und warum muss dieses schon wieder reformiert werden? Die letzte Reform liegt doch erst zwölf Jahre zurück.
Martine Deprez: Also: Die aktuellen Renten werden von den Beiträgen derjenigen bezahlt, die erwerbstätig sind. Auf jedem Bruttogehalt werden acht Prozent zur Rentenfinanzierung zurückbehalten. Der gleiche Beitrag von jeweils acht Prozent wird dann auch noch einmal vom Arbeitgeber und vom Staat gezahlt. Mit diesen 24 Prozent der Lohnsumme werden die Renten ausbezahlt.
Lëtzebuerger Journal: So weit, so klar...
Martine Deprez: Wenn jetzt einer in Rente geht, dann fällt dessen Gehalt weg und muss durch ein anderes Gehalt ersetzt werden. Dieses Gehalt ist aber wahrscheinlich nicht so hoch wie dasjenige des gerade in Rente gegangenen Menschen, so dass am besten zwei Beitragszahler dazukommen. Das hat bis jetzt auch funktioniert, weil unser Beschäftigungsmarkt bis jetzt schneller gewachsen ist als die Zahl der Leute, die in Rente gehen.
Lëtzebuerger Journal: Und das ist demnächst nicht mehr der Fall?
Martine Deprez: Es ist jetzt nicht so, dass wir direkt morgen eine Reform bräuchten, aber wir müssen jetzt darüber nachdenken, 'was machen wir wenn'. Deshalb haben wir jetzt auch die breit angelegte Rentendebatte aufgenommen.
Lëtzebuerger Journal: Wo wir schon dabei sind: Was hat es mit den drei Pfeilern auf sich, auf denen unser Rentensystem basiert?
Martine Deprez: Bei uns ist der erste Pfeiler der gesetzlichen Pflichtbeiträge größer als in allen anderen europäischen Ländern, sodass in Luxemburg an sich kein Bedarf für einen zweiten und dritten Pfeiler bestand. Den zweiten Pfeiler der betrieblichen Zusatzrente gibt es hauptsächlich im Finanzsektor, derweil die dritte Säule die privaten Altersvorsorgeverträge betrifft.
Lëtzebuerger Journal: Können Sie versprechen, dass eine Erhöhung des Rentenalters nicht zur Debatte steht? Hierzulande gehört es ja quasi zum guten Ton, spätestens mit 60 Jahren in Rente zu gehen.
Martine Deprez: Im Moment steht noch gar nichts zur Debatte. Jeder kann seine Vorschläge einreichen.
Lëtzebuerger Journal: Wann kommt die Rentenreform zum Tragen? Noch in dieser Legislatur?
Martine Deprez: Wir befinden uns ja immer noch in der Konsultation. Die wird Ende November abgeschlossen, ehe im Januar dann die partizipative Phase anfängt, bei der alle eingegangenen Vorschläge und Ideen synthetisiert und die entsprechenden Kosten ausgerechnet werden.
Lëtzebuerger Journal: Kann man als Politikerin überhaupt ehrlich sein?
Martine Deprez: Ich bin immer ehrlich (lacht).
Lëtzebuerger Journal: Worauf wir hinauswollen: CGFP-Präsident Romain Wolff vertrat vor kurzem ja in einem Radiointerview die Meinung, dass die Regierung jetzt schon wisse, was sie in Sachen Renten vorhabe. Die ganzen Konsultationen würden hieran nichts ändern...
Martine Deprez: Interessant, dass er glaubt, meine Gedanken lesen zu können...
Lëtzebuerger Journal: OGBL und LCGB haben ebenfalls bereits rote Linien gezogen und werfen der Regierung vor, voreingenommen in die Debatte zu gehen. Alle sind sie der Meinung, dass in der Rentendebatte nicht mit offenen Karten gespielt wird.
Martine Deprez: Mein Auftrag ist, eine breit angelegte Debatte zu führen, über die ich meine Regierungskollegen anschließend informiere. Dann ist es an der Regierung zu entscheiden, was alles in einer zweiten Runde diskutiert werden soll, bei der uns die jeweiligen Experten sagen, was die entsprechenden Folgen sind — auch für die Wirtschaft.
Lëtzebuerger Journal: Das Ganze geht also nicht von heute auf morgen...
Martine Deprez: Wir hoffen, dass wir noch vor nächstem Sommer wissen, auf welchen Weg wir eventuell gehen können.
Lëtzebuerger Journal: Und dann sind Sommerferien und sind es noch drei Jahre bis zu den nächsten Wahlen...
Martine Deprez: Wir müssen ausloten, ob die Punkte, die wir vorschlagen, noch in dieser Legislatur umsetzbar sind oder nicht.
Lëtzebuerger Journal: Das mit dem Pokerface, das man sich als Politikerin zulegen sollte, haben Sie ja schon gut drauf. Freundlich lächeln, aber nichts wirklich Konkretes sagen, dies mit dem Verweis auf die laufenden Konsultationen.
Martine Deprez: Ich habe im Moment keine andere Wahl. Wenn ich zu viel sage, dann werde ich gefragt, warum ich überhaupt noch Konsultationen führe, und wenn ich nicht genug sage, dann heißt es, ich hätte ein Pokerface.
Lëtzebuerger Journal: Neben all den Organisationen, Gewerkschaften und Vereinigungen darf ja sogar auch Otto Normalbürger bei der Rentendebatte mitreden. Dieser kann seine Meinung über die Online-Plattform www.pensioun.schwätzmat.lu kundtun, allerdings maximal in 500 Zeichen. Was soll das bringen, und wer soll das alles lesen? Vor allen aber, wer soll das alles bündeln und zusammenfassen? Ist das Ganze nicht L'art pour l'art?
Martine Deprez: Nein, ganz sicher nicht. Im Dezember und Januar werde ich meine Hausaufgabenmachen und alles lesen. Deshalb haben wir uns ja auf 500 Zeichen beschränkt, wobei ich aber auch schon E-Mails von Leuten bekommen habe, denen die 500 Zeichen nicht ausreichten.
Lëtzebuerger Journal: Das Leben besteht aber Gott sei Dank aus mehr als nur aus Renten. Was steht in Ihrem Ministerium denn außer diesen noch so an?
Martine Deprez: Da wäre zum Beispiel die Gesundheitskasse, wo es im nächsten Jahr noch keine Probleme mit den Finanzen gibt, aber das wird sich ändern.
Lëtzebuerger Journal: Sie sind ja auch noch Gesundheitsministerin. Stünden wir jetzt am Anfang der Corona-Pandemie, so müssten Sie mehrmals die Woche vor die Kameras treten und würden womöglich zur beliebtesten Politikerin des Landes, so wie zuvor Paulette Lenert. Wäre das was für Sie?
Martine Deprez: Ich wünsche mir keine Pandemie, und ob man zur beliebtesten Politikerin des Landeswird, das hat man nicht selbst in der Hand. Das ist auch nicht unbedingt mein Wunsch.
Ich mache meinen Job, und wenn die Leute der Meinung sind, dass ich meine Arbeit gut mache, dann nehme ich das dankend zur Kenntnis.
Lëtzebuerger Journal: Hatten Sie sich das politische Geschäft so vorgestellt, und was hat Sie bislang am meisten überrascht?
Martine Deprez: Am meisten überrascht war ich, und das habe ich bereits in einem anderen Interview gesagt, dass ich quasi auf einen Altar gestellt wurde. Dass die Leute mich auf einmal alle mit Frau Ministerin angesprochen haben. Ich bin immer noch Martine. Ich bin das nicht gewöhnt.
Lëtzebuerger Journal: Bereuen Sie Ihren Wechsel in die Politik noch nicht? Als Lehrerin und Staatsrätin haben Sie ja bestimmt ein ruhigeres Leben geführt.
Martine Deprez: (wie aus der Pistole geschossen) Nein! Viel ruhiger war mein Leben vorher auch nicht.
Wenn man schon vormittags vier verschiedene Schulklassen unterrichten muss, ist das alles andere als ruhig, und im Staatsrat ging es je nach Thema manchmal auch hoch her.
Wäre ich im Staatsrat geblieben, wäre ich jetzt Präsidentin.
Lëtzebuerger Journal: Wie groß ist eigentlich Ihr Spielraum bei der Gestaltung Ihrer Politik?
Martine Deprez: Im Koalitionsabkommen stehen die Hausaufgaben. Wenn man jedoch etwas sieht, das bewegt werden muss, diskutiert man das im Regierungsrat, und wenn der Koalitionspartner einverstanden ist, dann wird das umgesetzt.
Lëtzebuerger Journal: Ist Luc Frieden ein strenger Chef?
Martine Deprez: Bis jetzt habe ich ihn noch nicht so erlebt. Unsere bisherigen Gespräche waren immer konstruktiv.
Lëtzebuerger Journal: Wie würden Sie Ihr erstes Jahr als Regierungsmitglied zusammenfassen, wenn Sie das in einer Schlagzeile tun müssten?
Martine Deprez: E neit Liewen, a lass! (Ein neues Leben, los gehts)
Lëtzebuerger Journal: Was macht eine Ministerin und Mathematikerin eigentlich, um sich nach einem langen Arbeitstag zu entspannen? Primzahlen addieren? Möglichst viele Nachkommastellen der Zahl Pi (3,1415...) auswendig lernen?
Martine Deprez: Was ich abends mache, das ist gewöhnlich, meine noch verbleibenden E-Mails zu lesen.
Ich versuche immer, so gegen 19.00 oder 20.00 Uhr zu Hause zu sein. Es kann, wie in dieser Woche des Öfteren, aber auch 22.00 Uhr werden. Wenn ich mich aber wirklich mal entspannen kann, dann koche ich.
Lëtzebuerger Journal: Gibt es so was wie ein Lieblingsessen?
Martine Deprez: Leider mag ich alles (lacht). Lesen tue ich auch gerne, und zwar nicht nur Fachliteratur, sondern auch Romane, und am Sonntagabend schaue ich gerne Tatort.
Lëtzebuerger Journal: Wie ich feststelle, haben wir, bis auf das Kochen, so einiges gemeinsam...