Interview von Xavier Bettel in der Revue

"Die Chemie stimmt"

Interview: Revue (Stefan Kunzmann)

Revue: Herr Premierminister, was zeichnet die Arbeit Ihrer Regierung seit nunmehr vier Jahren aus? 

Xavier Bettel: Die größte Herausforderung war, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen: Wir haben es geschafft, die Arbeitslosenquote von 7,1 auf 5,8 Prozent zu senken. Eine weitere Herausforderung war es, die Lebensqualität zu erhalten, Infrastrukturen aufzubauen, die Schuldenspirale zu bremsen, das Schulwesen zu modernisieren und die Bürger nicht dazu zu zwingen, zwischen Beruf und Erziehung ihrer Kinder zu wählen. Sie sollen beides haben können: einen Beruf und eine Familie. Das waren die großen Aufgaben, die wir uns gestellt hatten. 

Revue: Aber was ist der alles verbindende rote Faden der Regierung? 

Xavier Bettel: Uns zeichnet aus, dass wir die Wirtschaft weiterentwickelt haben, ohne die soziale Komponente zu vergessen und ohne dass Umwelt und Natur auf der Strecke bleiben. Diese drei Komponenten sind ausschlaggebend: eine wirtschaftliche, eine soziale und eine ökologische. Das haben wir als drei Koalitionspartner geleistet. 

Revue: Sie kommen nun auf die Zielgerade der Legislaturperiode. Brauchen Sie manchmal eine Verschnaufpause? Woher holen Sie die Energie? 

Xavier Bettel: Ich mache meine Arbeit sehr gern. Wenn dem nicht so wäre, würde es mir viel schwerer fallen. Aber ich brauche auch Momente, die ich mit meinem Mann, mit Freunden oder mit der Familie zusammen verbringe. Das kann an einem Wochenende sein, an dem ich mit meinem Ehepartner eine Ausstellung besuche oder spazieren gehe, egal ob dies in Clerf, Echternach oder im Ausland ist. Die Feiertage waren für mich dieses Mal nicht ausschließlich eine entspannende Zeit, weil ich für 30 Leute kochen musste. Hinzu kamen die beruflichen Aufgaben, die nicht warten konnten und erledigt werden mussten. Daher brauche ich auch meine Verschnaufpausen. Ich bin schließlich kein Supermensch. Ab und zu nutze ich auch die Zeit zum Lesen. 

Revue: Was lesen Sie zurzeit? 

Xavier Bettel: "La vérité sur l'affaire Harry Quebert" von dem Schweizer Schriftsteller Joël Dicker. Einen Krimi. 

Revue: Das neue Jahr ist ein Wahljahr. Umfragen deuten auf vieles hin, aber nicht auf eine Fortsetzung der Dreierkoalition. Wie gehen Sie damit um? Ignorieren Sie die Umfrageergebnisse, die ja die meiste Zeit in den vergangenen vier Jahren nicht besonders positiv waren? 

Xavier Bettel: Ich ignoriere die Umfragen nicht. Ich nehme sie zur Kenntnis. Aber ich kommentiere sie nicht weiter. Meine Motivation ist es, Dinge zu ändern, und das ist mir in den letzten Jahren gelungen. Die Zahlen sprechen für sich. Das ist wichtig. 

Revue:  Wollen Sie die Dreierkoalition überhaupt fortsetzen? 

Xavier Bettel: Ich würde sie am liebsten weiterführen. Aber erstens muss das der Wähler entscheiden, und zweitens weiß ich noch nicht, was die einzelnen Parteien in ihren Programmen an Forderungen stellen werden. Es geht nicht darum, ob ich Premierminister bin oder nicht. Ich will ja nicht auf Teufel komm raus Regierungschef sein. Dieses Amt an sich ist ein Privileg, aber kein Lebensziel. Es geht vielmehr darum, einen gemeinsamen Nenner zu finden, um weiter zusammenzuarbeiten. Dass wir weiter ein gut funktionierendes Team sind. Ich bin ein Teamplayer — ein Kapitän mit einer Roadmap. Letzteres ist unser Koalitionsabkommen, an das wir uns halten. Ich bin um ein Gleichgewicht bemüht. Jeder Minister hat seine verfassungsmäßigen Kompetenzen. Das respektiere ich — und ich versuche, die einzelnen Arbeitsbereiche ineinanderfließen zu lassen und trage Sorge für das große Ganze. 

Revue: Sie wurden in letzter Zeit mal als "abwesender" Premierminister bezeichnet. Müssten Sie in der Regierung nicht mehr die Zügel in der Hand halten? 

Xavier Bettel: Ich habe mitbekommen, dass der Fraktionschef der CSV dies gesagt hat. Ich muss Ihnen ehrlich gestehen, dass es mich ziemlich kalt lässt, wenn Claude Wiseler meinen Führungsstil bemängelt. Ich stelle fest, dass diese Koalition seit vier Jahren gut zusammenarbeitet und sehr viel erreicht hat. Es wurden in den letzten Jahren mehr Gesetze und Reformen auf den Weg gebracht, als das jemals zuvor in einer Legislaturperiode der Fall war. Worauf es ankommt, ist das Resultat, und das stimmt. 

Revue: Trotzdem werden bestimmte Dossiers den jeweiligen Ministern zugeordnet. Wie zum Beispiel Schneider das Space Mining. 

Xavier Bettel: Ja, und damit habe ich überhaupt kein Problem. Etienne Schneider hat sehr viel dafür getan, dass diese Initiative ein Erfolg sein kann.Gleichzeitig kann so ein Projekt nur gelingen, wenn die ganze Regierung dafür gerade steht. Das tut sie. Als zuständiger Minister für den Satellitenbereich bin ich ebenso mit an Bord, wie beispielsweise der Hochschulminister für den Bereich Forschung. Es gibt kein Dossier, das nur das eines Ministers ist. Das gilt für populäre ebenso wie für umstrittene Initiativen. So wie ich für bestimmte Themen nicht einen Minister aufs Podest stelle, mache ich auch nicht einen einzigen für ein unpopuläres Dossier verantwortlich. Nicht nach dem Motto: Damit haben wir nichts zu tun. Unsere Entscheidungen sind gemeinsame Entscheidungen. 

Revue: Gab es von Anfang an in der Regierung einen gemeinsamen "Spirit"? 

Xavier Bettel: Die Chemie stimmt. Am Abend der Wahl im Oktober 2013 gab mir die CSV zu verstehen, sie würde mir sagen, was ich —als Koalitionspartner — erhalten würde. So im Stil: Junge, du kriegst gesagt, was du bekommst. So funktioniert das aber nicht bei uns. Am Ende der ganzen Geheimdienstaffäre merkte man, dass CSV und LSAP nicht mehr miteinander konnten. Sie haben sich gegenseitig blockiert. Damit wurde die neue Regierungskoalition regelrecht provoziert. Es gibt in der Tat einen Mannschaftsgeist bei uns. 

Revue: Es gibt also keinen Weg zurück zum alten patriarchalischen, paternalistischen Regierungsstil. 

Xavier Bettel: Ich kann nur für mich sprechen. Was dann der Wähler entscheidet, ist eine andere Sache. Mit mir wird es jedenfalls keinen patriarchalischen Stil geben. Ich habe nicht die Ambitionen, in der Politik Vater, Mutter oder Schwiegermutter zu spielen.Was wir im Koalitionsabkommen ausgehandelt haben, ist unsere Linie, auf der wir fünf Jahre lang arbeiten. 

Revue: Was hätten Sie anders gemacht? 

Xavier Bettel: Wir haben sehr ehrgeizig angefangen und sehr viele verschiedene Initiativen ergriffen. Statt mit jeder Baustelle voller Energie zu beginnen, hätten wir mehr eins nach dem anderen machen sollen. 

Revue: Was war schwieriger als erwartet? 

Xavier Bettel: Ich war mir sehr wohl bewusst, dass es eine Herkulesaufgabe sein würde, einige Reformen endlich umzusetzen, nachdem dies Jahrzehnte lang vertagt wurde. 

Revue: Das Referendum von 2015 — eine Enttäuschung? 

Xavier Bettel: Das Resultat war selbstverständlich eine Enttäuschung. Aber ich bereue nicht, es durchgeführt zu haben. Bürgerbeteiligung und Basisdemokratie müssen gefördert werden, auch wenn das Resultat am Ende nicht das gewünschte ist. 

Revue: Manch ein Regierungschef, wie Ihr Vorgänger, hätte mit einem Referendum sein persönliches Schicksal verbunden. 

Xavier Bettel: Und genau das wollte ich nicht. Es sollte um Themen, nicht um Bettel gehen. Wir haben das Referendum zu diesen Themen organisiert, weil es in diesen Fragen jahrzehntelang keinen Konsens gab. Für mich war es wichtig zu wissen, in welche politische Richtung wir gehen sollten. Deshalb fragten wir die Bürger, was sie davon hielten. Sie gaben uns dann eine klare Antwort. Wenn man aber bei einem Referendum jedes Mal das eigene persönliche Schicksal auf die Waagschale legt, ist es ein Für oder Gegen die Regierung. Das war jedoch nicht das Ziel. Es ging um die drei Fragen und nicht um die Regierung. 

Revue: Hat es aber nicht vielleicht gezeigt, dass die Gesellschaft doch nicht so weit ist, so modern wie angenommen? 

Xavier Bettel: Es ging nicht darum, ob die Gesellschaft modern oder nicht modern ist. Zum Beispiel die Mandatsbegrenzung, ob ein Minister nach zehn Jahren aufhören muss: Der Wähler wollte nicht in seiner Wahl eingeschränkt werden. 

Revue: Luxemburg steht besser da, als vor vier Jahren. Aber ist das nicht auf die gute internationale Konjunktur zurückzuführen? 

Xavier Bettel: Zwei Dinge: Wir wollten nicht das Triple A verlieren. Wenn wir das verloren hätten, wäre keine chinesische Bank nach Luxemburg gekommen. Wenn wir nicht in die digitale Infrastruktur investiert hätten, würde Google nicht mal wissen, wo Luxemburg liegt. In der Diversifizierung gelangen uns Reformen. Der internationale Kontext hat sicher dazu beigetragen, aber er reichte nicht aus. Die Reduzierung der Arbeitslosigkeit beispielsweise gelang nicht überall. 

Revue: Stichwort Luxleaks: Die Regierung musste auch den Imageschaden reparieren. 

Xavier Bettel: Den haben wir wahrlich geerbt und alles getan, um unser Image zu verbessern. Mit Erfolg übrigens. Nun ist Luxemburg auf keiner schwarzen oder grauen Liste mehr. Wir haben große Anstrengungen unternommen. Wenn wir diese nicht unternommen hätten, wären wir nicht da, wo wir heute sind. Viele glaubten, nach dem Ende des Bankgeheimnisses und mehr Transparenz in Steuerfragen, dass der Finanzsektor kein Wachstum mehr erzielen würde. Das Gegenteil ist der Fall. 

Revue: Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat viele Hoffnungen geweckt, was die europäische Zukunft angeht. Zu viele Vorschusslorbeeren? Wie sehen Sie die Situation? 

Xavier Bettel: Die ist gut. Die Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich ist gut. Beide sind der Motor Europas und die Benelux-Länder das Benzin. Emmanuel Macron weiß, dass wir umso stärker sind und besser was bewegen können, je mehr wir uns zusammensetzen. Europa ist der Kontinent mit der größten Kaufkraft. Wir sind uns dessen manchmal gar nicht bewusst. 

Revue: Jean-Claude Juncker galt schon während seiner Zeit als Premierminister als Vermittler und Vorzeige-Europäer. Wie sehen Sie Ihre Rolle? 

Xavier Bettel: Als Premier verteidige ich die Interessen Luxemburgs, um zusammen zu agieren. Ich blockiere nicht. Die Regeln sollten für jeden gelten. Ich komme mit den anderen Regierungschefs gut aus und habe ein gutes Vertrauensverhältnis zu Herrn Macron, Frau Merkel und anderen aufgebaut. Letzteres hat man und spricht nicht darüber. Das ist menschlich. Und das Menschliche ist auch in der Politik sehr wichtig. 

Revue: Vor allem in Mittel- und Osteuropa gibt es ein paar schwierige Partner — Ungarn, Polen,... 

Xavier Bettel: Man soll und muss mit ihnen reden. Über alles. Es macht keinen Sinn sie auszugrenzen, denn sie sitzen auch am europäischen Tisch. Solidarität ist ein Grundprinzip Europas. Es sollte nicht von Richtern darüber entschieden werden. 

Revue: Eine gewisse Strenge... 

Xavier Bettel:...ist nötig, aber man sollte, wie gesagt, mit ihnen reden. Das gilt auch für Putin und Trump. Es gilt, auch ihnen zu sagen, was geht und was nicht. Auch in Bezug auf den Brexit. Auch bei Frau May gilt das. Dabei sollten wir uns bewusst sein, dass Großbritannien 2019 nicht mehr Mitglied der Familie ist. Heute sind wir alle zufrieden, dass Firmen zu uns kommen, weil wir wettbewerbsfähiger sind als andere. Wir sollten jedoch aufpassen, dass Großbritannien ab 2019 nicht attraktiver ist als wir und der Trend dann in eine andere Richtung geht. 

Revue: Wohin steuert derweil Luxemburg? Probleme wie die Wohnungsnot sind längst nicht gelöst. 

Xavier Bettel: Richtig. Und gleichzeitig ist in den letzten Jahren so viel in öffentliche Wohnprojekte investiert worden wie nie zuvor. Ohne, dass der Wohnungsbau zur "Chefsache" erklärt wurde, wurde dieses Problem als solches behandelt. Das Angebot wurde verdreifacht, die Mietbeihilfe wurde vereinfacht, usw. Der Privatsektor und die öffentliche Hand müssen dabei eng zusammenarbeiten. Der soziale Wohnungsbau muss weiter verstärkt werden. 

Revue: Was tun, wenn die soziale Schere weiter auseinander geht? 

Xavier Bettel: Wir müssen alles tun, damit sie sich nicht weiter öffnet. Das tun wir, indem wir Ungerechtigkeiten aufheben und die Möglichkeiten schaffen, dass niemand auf der Strecke bleibt. Sei es durch Förderprogramme, sei es durch Investitionen in Kinderbetreuung, oder in Bildung und Infrastrukturen. 

Revue: Und haben Sie sich schon etwas für das Jahr 2018 vorgenommen — außer natürlich, die Wahlen zu gewinnen? 

Xavier Bettel: Die soziale Kohäsion zu erhalten, die Arbeitslosigkeit weiter zu senken, damit es uns weiter gut geht. Und persönlich: Dass ich mehr Sport treibe. 

Revue: Inwiefern? 

Xavier Bettel: Ich will mehr laufen und weniger Schokolade essen.

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