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Jean-Claude Juncker: "Regieren - nahe an der Mitte". Discours à l'occasion du Dolder Meeting 2008, Zurich
Ich bin gerne nach Zürich gekommen. Die Anreise war einfach, die Landung auch, aber dann begannen die Schwierigkeiten, weil ein mittelmäßig freundlicher Zollbeamter mich in nicht unbarschem Tone darauf verwies, dass man einen Pass bräuchte, um in die Schweiz einzureisen. Der lag aber im Flugzeug. Also musste ich wieder ins Flugzeug zurück und ich habe diese gehobene Schengenlaune sehr genossen. Ich verstehe ja auch die Schweizerischen Zollbeamten, dass sie die letzten Monate, die sie im Vollgenuss ihrer Amtsgewalt erleben dürfen, bis zum für mich bitteren Ende, auskosten.
Herr Supino hat darauf aufmerksam gemacht, wie die Themensetzung für heute erfolgte. Und das war eigentlich keine lange Suche, sondern eine Laune des Augenblicks, weil man in Europa anfing, wieder über die Mitte zu reden. Und dass man in den Folgemonaten so intensiv darüber reden würde – vor allem im bundesrepublikanisch deutschsprachigen Gesamteinzugsgebiet, war mir damals noch nicht so klar. Mir ist aber auch heute so wenig wie damals im Detail klar, was ich denn zum Thema "Regieren nahe an der Mitte" sagen könnte.
Vielleicht dies, dass ich froh bin, hier beim «Tages-Anzeiger» und bei Tamedia Gast sein zu dürfen, weil Tamedia inzwischen in Luxemburg ein Begriff der neuen publizistischen Mitte geworden ist, weil Tamedia gemeinsam mit meinen Freunden von Editpress ein sehr erfolgreiches Presseprodukt, eine richtige Gratiszeitung auf den Markt gebracht haben, die sehr gut ist und bei deren Lektüre man merkt, dass sie von Menschen gemacht wird, die ihr Handwerk verstehen, und ein einfaches Handwerk ist das ja nicht - eine Gratiszeitung mit Erfolg auf einem eigentlich übersättigten Zeitungsmarkt wie der luxemburgische ist, unters Volk zu bringen. Ich lese sie jedenfalls jeden Tag, muss sie aber immer abholen, weil sie ja nicht frei Haus geliefert wird. Ich muss dann auf einen öffentlichen Platz in Luxemburg ausweichen, 400 Meter von meinem Büro entfernt, und dieser morgendliche Gang tut mir eigentlich sehr gut. Trotzdem wäre ich dankbar dafür, wenn man sich mal überlegen könnte, mir einen Sonderservice anzubieten, dergestalt, dass mir die Zeitung, "L’Essentiel" frei Haus geliefert würde - das sage ich für die luxemburgischen Gäste hier im Saal. Besser noch wäre es, der hier anwesende Direktor sie mir die jeden Morgen bringen würde, dann könnte ich ihm auch auf die für mich sehr oft lästigen Leitartikel antworten, die er in seiner anderen Zeitung, dem "Tageblatt", schreibt.
Edgar Faure der frühere französische Premierminister der 4. Republik und später Parlamentspräsident, hat sich in allgemeiner Erinnerung gehalten durch einen Satz über die Regierungskunst. Von der hat er gesagt, sie bestünde in der Fähigkeit, die größte Hälfte der Nation zufrieden zu stellen, ohne die kleinere Hälfte zu vergrämen.
Das hat etwas mit Mitte und nahe an der Mitte zu tun, und hat etwas in dieser Faur’schen Definition damit zu tun, dass Politik ihm wie vielem anderen auch, als die Kunst erscheint, genug zu regieren ohne zu viel zu regieren. Aus der Schnittmenge beider Prinzipien von Faure und anderen, ergibt sich eigentlich so etwas wie Politik in der Mitte. Und die Mitte ist bei der politischen Standortbestimmung ein sehr beliebter Ort. Wobei es mich immer wundert, dass man die Mitte für die Mitte hält. Weil die Mitte, so haben wir das in der Geometrie gelernt, ist eigentlich keine Fläche, sondern ein Punkt. Nun ist es in hohem Masse erstaunlich, dass alle zu diesem Punkt drängen, was auch erklärt, dass dieser Punkt dicht besetzt ist. Dieser Mittelpunkt ist so dicht besetzt, dass viele sich dort auf die Füße treten und sich im Wege stehen. Deshalb ist so viel Lärm auch in der Mitte zu hören.
Nun ist Mitte nicht einfach Beliebigkeit, nicht die Haltung, die darin besteht, an einer Kreuzung beide Wege einzuschlagen. Nein, Mitte ist schon der Versuch, den eigenen Weg zu gehen. Politik ist überhaupt nicht das Erreichen von Zielen, sondern der Versuch, festgelegte Ziele, die man immer wieder abwandelt, zu erreichen. Man wandelt diese Ziele immer wieder ab, weil man die Wirklichkeit nicht mehr massiv ändern kann. Die Begrifflichkeit ändert, die die Ziele und den Weg dorthin beschreiben.
Die Mitte ist ein Punkt, und der Versuch der punktgenauen Landung wird immer wieder unternommen, weil man versucht, Politik zu gestalten, fernab von dem, was als radikal zu kategorisieren wäre oder was man als Extreme einstufen könnte. Weil die Mitte nun aber kein Punkt ist, sondern eine mehr oder weniger große und breite Fläche, habe ich in der ersten Eingebung dafür optiert, über Regieren nahe an der Mitte zu sprechen. Und der Punkt, die Fläche, dort wo man die Nähe der Mitte mutmaßt, ist eigentlich der Ort, wo der größtmögliche Konsens entsteht. Deshalb sind auch alle Beschreibungen der Mitte eigentlich Schall und Rauch: neue Mitte, linke Mitte, rechte Mitte, postmoderne Mitte – alle diese Termini sagen in der Tat wenig aus, weil es im Endeffekt darum geht: Macht man Politik nah an der Mitte, regiert man nah an der Mitte aus diesem konsensuellen Grundgefühl - das nichts mit dem schäbigen, oberflächlichen, nicht in die Tiefe dringenden Konsensualismus zu tun hat - praktische Politik zu gestalten, die auf Dauer Bestand hat.
Nun ist es - wir erleben das auch in älteren Demokratien - einfacher, extreme Positionen zu artikulieren, sie zu besetzen, sie verständlich zu machen, sie nachvollziehbar rhetorisch rüber zu bringen. Wer radikale Positionen formuliert, wer Einschneidendes vorträgt, der ist sich des Applauses all derer sicher, die die Extreme für die Mitte halten. Und die Zahl derer nimmt eigentlich ständig zu. Wer sich mit dem Raum nah an der Mitte beschäftigt, wird unschwer feststellen, dass die Mitte sich nicht automatisch einstellt. Sie ergibt sich nicht aus sich selbst. Wer zur Mitte vordringen möchte, ohne den genauen Punkt zu erreichen, der die eigentliche Mitte beschreibt, der muss für seine Positionen kämpfen. Die Mitte muss also erstritten werden. Und dies merkt man sehr gut, wenn man sich mit klassischen Mitte-Beispielen beschäftigt. Zwei, drei Beispiele: nicht zur Auswahl, sondern zum Abschreiben.
Soziale Marktwirtschaft ist ein klassisches Konzept nah an der Mitte. Hat sich die soziale Marktwirtschaft einfach so eingestellt? War sie eine spontan wachsende Eingebung der Geschichte oder hat es einen langen, mühseligen Weg gebraucht, um zu ihr vorzustoßen? Es hat einen langen mühseligen Weg gebraucht, bis man zur sozialen Marktwirtschaft als typisches Mittekonzept vorstoßen konnte. Es hat - und ihm wurde kaum widersprochen, und sich ihm auch kaum in den Weg gestellt - über lange Jahrzehnte, ja mehr als ein Jahrhundert den wilden Kapitalismus gegeben, der rücksichtslos an den Menschen vorbei sich entwickelte, eher zum Gewinn einer kleinen Zahl von direkten Nutznießern. Es hat darauf - ich vereinfache die Bilder und die Geschichtsabläufe - die Reaktion aus dem Bereich Marxismus und Kommunismus gegeben, zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Die Macht spielte keine Rolle, der Staat und die angeschlossenen Sendeanstalten waren für Produktion und das Glück der Menschen allein selig machend zuständig. Es gab den lang anhaltenden, auch in Europa, mit kräftigsten Argumenten ausgetragenen Kampf zwischen Kapital und Arbeit. Und diese Auseinandersetzung hielt sehr lange an. Man muss die Jüngeren im Saal daran erinnern, dass es lange gedauert hat, bevor dieser massive auch europäisch-kontinentale Konflikt sich in der Mitte oder nah an der Mitte im Regelwerk der sozialen Marktwirtschaft wiederfand. Erstaunlicherweise ist es heute so, dass alle immer schon für die soziale Marktwirtschaft waren. Auch die, die in jungen Jahren noch in andere Richtungen dachten und schrieben. Nur als es darum ging, der sozialen Marktwirtschaft eine dauerhafte Adresse auf dem europäischen Kontinent zu geben, brauchte es einen langen und beharrlichen Kampf, um sozial-marktwirtschaftliche Ideen durchzusetzen. Ludwig Erhard, Müller-Armack und viele andere stehen für die Kämpfe dieser Zeit. Mit der sozialen Marktwirtschaft und ihrer späten Vereinnahmung durch alle ist es fast so, wie mit der europäischen Einheitswährung. Es gibt mit Ausnahme unverbesserlicher Wirtschaftsprofessoren an deutschen und manchmal auch an schweizerischen Universitäten, kaum jemand, der die Berechtigung, die Richtigkeit dieses währungspolitischen Zusammenschlusses Europas noch in Frage stellt. Der Euro hat unwahrscheinlich viele Spätberufene. Ähnlich geht es der sozialen Marktwirtschaft auch.
Erstaunlich ist allerdings, dass man über die Dimension des Sozialen an dieser marktwirtschaftlichen, ordnungspolitischen Regulierungs- und Verhaltensdichte streitet. Mein Eindruck ist, dass wir uns immer mehr auf dem Weg in die nur noch Marktwirtschaft befinden, und dass man das Soziale als ein schmückendes Beiwort aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts hält. Ich finde es bemerkenswert, dass beispielsweise 62% der deutschen Bundesbürger sich inzwischen in der sozialen Marktwirtschaft nicht mehr zurechtfinden. Dass sie dieses Ambiente des europäischen Kontinentes zunehmend als nur markt-expressionistisch empfinden und das soziale Korrektiv eigentlich auf einem schon lang anhaltendem Abwärtstrend sich befindlich einschätzen. Und das hat wesentlich auch mit Sprache zu tun.
Der Markt wird hoch gepusht in seiner Bedeutung. Es wird so getan, als ob der Markt vieles, wenn nicht alles regeln könnte, und es wird so getan, als ob das Soziale die freie Entfaltung des Marktes wesentlich beeinträchtigen würde. Nun bleibe ich der Überzeugung, dies ist dann wahrscheinlich eine Position der Mitte, dass Markt allein, so notwendig er ist, und so unverzichtbar er ist, als solcher keine Solidarität produziert. Erst aus dem Miteinander von Marktgeschehen, von Marktentscheidungen und von politischem Eingriff, der auch tarifpolitischen Zuschnittes sein kann, entsteht soziale Marktwirtschaft und entsteht so etwas wie Solidarität.
Nun ist dies ja keine einfach Frage, weil Politik, sehr oft mit Berechtigung, beschrieben wird, als der Ort, den die Wirtschaft zur freien politischen Gestaltung eigentlich übrig lässt. Ich mache Politik dort, wo die Wirtschaft sich zurückhält, bis zu dem Moment, wo alle Marktmechanismen plötzlich hereinragen. Dann kommt manchmal ein sich weinerlich anhörender Appell an die Politik, die an ihr Primat erinnert wird, das ihr ansonsten vom Markt und von den reinen Marktphilosophen abgesprochen ja strittig gemacht wird.
Die aktuelle Finanzkrise ist vielleicht ein gutes Beispiel für derartige Irrungen und Wirrungen, ja regelrecht ordnungspolitischen Verirrungen. Man lässt den Markt machen. Und wenn man sich dazu versteigt, das Marktgeschehen kritisch zu beobachten, es kritisch zu kommentieren, wird einem sehr oft von denen, die es immer schon wussten, und die es in 10 Jahren wieder besser wissen, bedeutet, dass man sich besser um typisch politische, partei-politische, tages-politische kleinlich politische Themen zu kümmern hätte, als sich in das Gespräch der Grossen dieser Welt einzumischen.
Ich habe hier nicht die Absicht, über die aktuelle Krise und Turbulenzen in den Finanzmärkten zu reden. Ich staune nur über vieles, was passiert, und auch darüber, dass man so tut, als ob niemand dies vor drei, vier Jahren schon vorausgesagt hätte. Als ob nicht Zentralbanker, Finanzminister - die verstehen auch ein bisschen etwas von diesen Dingen - nicht von diesem Under pricing der Risiken gewarnt hätten. Ich kann mich an viele Gespräche auch in der G7-Runde erinnern, an denen ich als Vorsitzender der Eurogruppen teilnahm, wo vor allem aus dem angelsächsischen Raum derartige Warnungen als vor-hysterische Ausraster abgetan wurden. Dass es möglich ist, wie beispielsweise in Frankreich - wenn es denn so war - dass ein Einzelner, von dem ich nicht wusste, dass er in der Wirtschaft noch eine derartig große Rolle spielen kann, 5 Mrd. Euro auf ein Konto verbucht, dann wirft dies doch einige Fragen auf. Meine Hochachtung für das Bankgewerbe ist inzwischen auf dem Niveau angekommen, auf dem der Respekt der Bankenfachwelt vor der Politik schon längst angekommen ist. Und ich halte diese Aussage aufrecht, bis ich eines besseren belehrt werde.
Nahe der Mitte, das hat auch mit Lebensgefühl etwas zu tun. Und ich denke mir schon, bei aller Nuancierung im Detail, die es braucht, dass das europäische Sozialmodell, das man so dringend auch nicht einheitlich und stromlinienförmig beschreiben kann, auch ein Konzept der Mitte ist. Eben diese Idee, die immer wieder erstritten werden muss, dass Markt alleine keine Solidarität produziert, und dass es Verantwortung für einander gibt. Ich mag kein System sich in Europa einstellen sehen, in dem man denkt, es reiche, dass jeder an sich selbst denkt, damit an jeden gedacht würde. Ich bin schon der Meinung, dass das Primat der Politik in der dauerhaften Aufrechterhaltung dieses weitgehenden Appells an den gesunden Menschenverstand - der natürlich darunter leidet, dass er unterschiedlich verteilt ist - besteht, dass Politik im Zusammenwirken mit noblen Antrieben der Wirtschaft für gesellschaftliche und gesellschaftspolitische - das begreift auch einkommenspolitische - Verhältnisse sorgen muss, die die Zustimmung der Menschen auf unserem Kontinent finden kann.
Im Übrigen: wenn sich das Soziale aus der Marktwirtschaft zurückzieht oder aber, wenn die Menschen den Eindruck haben als täte das Soziale dies, dann führt dies zu Entladungen sehr oft an der falschen Stelle.
Ich habe mich sehr intensiv mit dem europäischen Verfassungsvertrag beschäftigt und den negativen Referendumsergebnissen in den Niederlanden und in Frankreich. Das so genannte Nein-Lager, hat eigentlich in seinem Argumente-Bauch-Laden eine Tüte gehabt, die so war, dass das französische und niederländische Volk liebend gerne in diese Tüte griff. Und das war, dass die Europäische Union sich auf dem Wege befände, ihre Seele zu verlieren, weil das Soziale unterentwickelt in der Gesamtpolitik der Europäischen Union. Und dies stimmt ohne jeden Zweifel. Wir reden in der Europäischen Union, die nicht mit Europa gleich zu setzen ist, über Markt, wir reden über Euro, wir reden über Deregulierung, wir reden über Privatisierung - aber wir reden nie über die sozialen Zwänge, Pflichten eigentlich, die es bei der Gestaltung der europäischen Gesamtpolitik gibt.
Wir haben es in der Europäischen Union geschafft den größten Binnenmarkt der Welt auf die Beine zu stellen. Er ist längst nicht fertig, weder im wirtschaftlichen noch in sonstigen Bereichen. Aber immerhin Handelshemmnisse wurden abgebaut, Barrieren jeder Art wurden weggerückt, Hürden wurden eliminiert, wir machen Wirtschaft miteinander und wir betreiben Handel miteinander als ob wir ein Wirtschaftsraum wären, wie man in vorherigen Jahrzehnten die Nationalökonomie, die es nicht mehr gibt, beschrieb und wie man dort gehandelt hat. Es gibt den europäischen Binnenmarkt, es gibt den europäischen Wirtschaftsraum. Wenn man alle Unterschiede versucht wegzuschwemmen, und wenn man auch dieses Werk zu einem hohen Prozentanteil zum Gelingen bringt, dann bleibt es erstaunlich, wieso man sich nicht mit derselben Inbrunst, mit der man Markthemmnisse eliminiert hat, den sozialen Themen zugewandt hat. Das soziale Differenzial unbeantwortet stehen zu lassen, ja es eigentlich durch das Wegschwemmen von Handelshemmnissen in seiner marginalen Bedeutung zur zentralen Bedeutung werden zu lassen, ist ein Fehler. Ein System fast bewusst herbeizuführen, wo Wettbewerbsunterschiede dadurch entstehen, dass man sich den sozialen Anforderungen nicht im gleichen Masse stellt wie früher, halte ich für einen Fehler, einen Konstruktionsfehler, dessen negativen Auswirkungen, was die Zustimmungfähigkeit der Bevölkerung zu dem europäischen Projekt anbelangt, uns in ernste Bedrängnis bringen wird. Deshalb war ich stets der Meinung - und das hat mit Arbeiterromantik nichts zu tun - dass wir auf diesem europäischen Binnenmarkt, der auch durch die europäische Währungsunion logischerweise verlängert und verdichtet wurde, einen Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten brauchen, der nicht darin bestehen würde, dass man luxemburgische, deutsche Niveaus zu Mindestanforderungen machen würde, aber ein System, das darin bestünde, dass es minimale Mindestregeln gibt, die von nationaler Politik oder von nationaler Tagespolitik in allen Fällen zu erreichen wären. Geschieht dies nicht, wird es immer wieder zu ablehnenden Gesamtreaktionen europäischer Bevölkerungen kommen, wenn es um die Zustimmungs zur europäischen Union oder überhaupt zum europäischen Projekt kommt.
Als zweites Beispiel, das die Suche nach der Mitte, aber nicht der Versuch der punktgenauen Landung eigentlich zusammenraffend und über Jahrhunderte verstreut gut auf den Punkt bringt, ist die Erweiterung der Europäischen Union nach Ost- und Mitteleuropa.
Mitte kann sich verschieben und die kontinentale Mitte hat sich nach dem Fall der Mauer und nach dem Zusammenbruch der administrierten Volksökonomien unter kommunistischer Zwangsherrschaft, verschoben. Westeuropa ist nicht mehr die Mitte des Kontinents, ja es war nie die Mitte des Kontinents. Wir hatten uns an den Gedanken gewöhnt, dass dieses schreckliche Nachkriegsdekret, das Europa auf Dauer in zwei Blöcke geteilt werde, die sich feindlich gegenüber standen, für alle Zeiten und auf ewig bleiben würde. Nun haben die Menschen in Mittel- und Osteuropa sich auf den Weg gemacht, um sich des Kommunismus zu entledigen.
Wieso hat die Erweiterung der Europäischen Union mit Mitte etwas zu tun? Die Mitte finden, die Mitte suchen setzt voraus, dass man die Verschiebung der kontinentalen Parameter und die Dimensionierungen sehr genau zur Kenntnis nimmt. Wieso ist die Europäische Union mit der Erweiterungsstrategie eigentlich dort gescheitert, wo sie hätte zum Erfolg geführt werden müssen – nämlich in den Herzen der Menschen? Als die Mauer fiel im November 1989 war die Begeisterung in Europa groß. Das hatten wir ja immer gewollt. In so vielen Sonntagsreden haben wir auch immer die Menschen in Ost- und Mitteleuropa aufgerufen, sich endlich auf den Weg zu machen. Und wenn sie auf dem Weg fortgeschritten wären, dann würden sie, wenn sie nur an unsere Tür klopften, auch liebend gerne in unser europäisches Haus hineingelassen werden. Diese Begeisterung hat sich sehr schnell gelegt. Wie immer haben die Miesmacher die Auseinandersetzung letztendlich gewonnen, haben diejenigen gewonnen, die wie so oft Extrempositionen beschreiben und Extrempositionen sind immer Positionen der Angstmacherei. Anstatt darüber zu reden, dass jetzt zusammenwächst, was zusammen gehört - nach der berühmten Brandt’schen Formulierung - wurde über den Kostenpunkt der Erweiterung der Europäischen Union nach Ost-Mittel-Europa geredet, wurde über die Gefahren geredet, die dadurch enstünden, dass wilde Horden von Bulgaren und Rumänen unsere Arbeitsmärkte überschwemmen würden. Man hat den Menschen Angst gemacht mit einer geschichtlichen Entwicklung oder mit Hinweisen auf eine geschichtliche Entwicklung, die per se und also solche und in sich selbst ein unwahrscheinlicher Glücksfall europäischer Nachkriegspolitikgestaltung war. Mir ist es lieber, auf einem europäischen Kontinent zu leben, wo die Erwartungen von 100, 120 Mio Europäern sich auf uns richten, als weiterhin in einem europäischen Gesamtkonglomerat zu leben, in dem sich Raketen, die in Osteuropa stehen, auf Westeuropa richten. Die Welt staunt was die Europäische Union und der gesamte europäische Kontinent nach dem 2. Weltkrieg auf die Beine gebracht hat, nur wir selbst, die Europäer, können nicht darüber staunen, auch weil wir uns nicht mehr richtig freuen können. Die Europäer haben die Freude über das Erreichte eigentlich verlernt. Ich reise nicht so viel, wie viele denken, aber genug, um zumindest das bisschen Bildung von den Reisen mit zurückzubringen, das man zu Hause nicht kriegt.
Was ich sagen will ist, dass man in Asien, in Afrika, oder sonst wo, die Art und Weise - wie Geschichte und Geografie in Europa sich aufeinander zu bewegt haben, sehr bewundert wurde, weil man außerhalb Europas sehr oft die Geschichte dieses gefolterten Kontinentes besser kennt als wir Europäer. Die Iren werden jetzt irgendwann vor Ende Mai über den so genannten Lissabonner Reformvertrag abstimmen. Dreiviertel der irischen Wähler, die zur Wahl gehen, haben den zweiten Weltkrieg nicht erlebt, d.h. dass die Erinnerung an das, was war, immer weniger farbig wird und die Menschen eigentlich nicht mehr wissen, wieso und weshalb das europäische Integrationsprojekt in den 50er-Jahren auf einen, wie ich finde, erfolgreichen Weg geschickt wurde. Aber dass wir aus der Europäischen Union der 15, die 380 Mio Menschen zählte eine Europäische Union der 27 mit 480 Mio Menschen gemacht haben, dass die Bevölkerung der EU inzwischen größer ist als die Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Amerika, und dass wir dies auf friedfertigem und friedlichem Wege gemacht haben, finde ich, ist ein Produkt europäischer Erfolgserlebnisse und eigentlich die Krönung derselben.
Man vergisst sehr schnell, weil man die Mitte für einen Punkt hält, anstatt sie als Fläche, die sich im Raume selbst verrückt zu begreifen, dass nach 1989 in Europa und an der direkten Peripherie Europas insgesamt 23 neue Staaten entstanden sind. 23 neue Staaten sind auf der politischen europäischen Karte hinzugekommen, diese Karte bereichernd, die Karte aber auch, von der Gestaltungsaufgabe her betrachtet, schwieriger machend. Wenn plötzlich 23 neue Staaten auftauchen, wenn plötzlich 23 Akteure internationalen Rechtes sich zu denen gesellen, die sich auch vorher schon nicht bestens verstanden, dann stellt dies Herausforderungen an kontinentales Politikdenken, die man in ihrer Dramatik - wenn man sie denn zur Kenntnis nimmt - nicht unterschätzen sollte.
Da tauchen in Europa und an der Peripherie 23 neue Staaten auf, und viele von ihnen frühere Sowjetrepubliken. Deshalb ist der Kaukasus Teil Europas geworden, nicht im weitesten Sinne sondern im sofortigen Sinne des Wortes. Und im Herzen Europas, in der neu geordneten geografischen Mitte, wurden am 1. Mai 2004 sechs Staaten Mitglieder der Europäischen Union, die 15 Jahre vorher als Staaten noch gar nicht bestanden hatten. Die drei Baltischen Republiken, die Slowakei, die Tschechische Republik und Slowenien als eine frühere jugoslawische Republik. Allein an der Tatsache, dass die europäischen Union nun sechs Mitglieder zählt, die es 1989 überhaupt nicht als einheitliche erfasste selbständig autonom handelnde Staaten gab, zeigt die dramatischen Entwicklungen, die es auf dem europäischen Kontinent gegeben hat.
Hätte man jetzt die sechs genannten und die 23 Neuankömmlinge insgesamt sich selbst überlassen, hätte man es zugelassen, dass sie aufgrund unerledigter Geschichtsaufgaben und nicht stattgefundener eigener Geschichtsbetrachtung, ihre Souveränität, ihre Autonomie voll ausgelebt hätten und zwar vor dem Hintergrund der ungelösten Grenzkonflikte und der ungelösten Minderheitenprobleme, die es in diesem Gesamtraum gibt, wäre der europäische Kontinent im Chaos untergegangen. Wenn man sich vorstellt, was alles hätte passieren können auf unserem Kontinent, wenn es nicht diesen friedensstiftenden und stabilitätsgebende Europäische Union gegeben hätte, dann reicht die Fantasie eigentlich nicht, um sich dies alles vorzustellen. Nun wurden die neuen Mitglieder der Europäischen Union ja nicht in die Europäische Union hineingezwungen, nein, die Weisheit der Völker hat es eigentlich gewollt, dass nach dem Wiederentdecken oder erstmaligen Entdeckten freier Gestaltungsräume, diese Staaten, diese Länder, diese stolzen Nationen sich selbst durch Aufgabe einiger Souveränitätsattribute in die Europäische Union einbringen wollten. Dies war ja kein aufgezwungener Prozess sondern dies war ein von beiden Seiten gewolltes aufeinander Zugehen. Und dass das gelungen ist, obwohl das Gelungene selbstverständlich mangelhaft bleibt, ist doch ein Mitte-Erlebnis in Europa, über das man sich freuen sollte.
Es gibt ein anderes Erlebnis, das mit Mitte zu tun hat, das ist die Schaffung der Europäischen Währungsunion. Dass wir es in Europa geschafft haben, nach dem Ende des 2. Weltkrieges eine Friedensordnung herzustellen, trifft im Rest der Welt auf größte Bewunderung. Dass ein Kontinent, der so schreckliche Blutbäder erlebt hat, als europäischer Kontinent in sich selbst die Kraft fand, um die Gegensätze von gestern und vorgestern zu überwinden, trifft auf die Bewunderung der gesamten Welt. Wir Luxemburger haben es immer wieder in unserer Geschichte erlebt, dass wir zerrieben wurden zwischen den Antagonismen, die zwischen Frankreich und Deutschland bestanden. Immer wieder war Luxemburg Kriegsschauplatz. Mein Vater war deutscher Soldat im 2. Weltkrieg, nicht weil er deutscher Soldat sein wollte, sondern weil die deutschen Besatzer in Luxemburg alle Luxemburger, die zwischen 1920 und 27 geboren waren in die Wehrmacht gezwungen haben, die Zwangsrekrutierten nennen wir sie. Ich hab als kleiner Bub, dann stellt man ja alle Fragen, auch die, die man nicht stellen soll, an meinem Vater beobachtet, dass er Verletzungen, Narben am Knie, am Hals, an der Hand hatte. Er konnte seine Hand nicht richtig bewegen. Ich habe dann immer wieder gefragt, was das ist. Und darauf habe ich keine Antwort gekriegt. Die kriege ich ja erst jetzt, wo er denkt, er könne mir die Antworten auch zumuten. Dann erzählte er mir, was in Serbien passiert ist, was in Kroatien passiert ist, was in Russland passiert ist - er, der in einem kleinen luxemburgischen Dorf im hohen Norden Luxemburgs geboren war, und nie bis zu seinem 18. Lebensjahr mehr als 10 Kilometer sich von diesem Dorf entfernt hatte, wurde drei Wochen nach dem Stellungsbefehl an die russische Front geschickt. Wir können uns mit unserem Lebens- und Ermessensraum von heute überhaupt nicht mehr vorstellen, was das eigentlich an Entwurzelung bedeutet hat für eine Generation, die ja von der Welt nichts wusste. Und ich habe einfach keine Lust mehr, dass Väter ihren Kindern ihre Kriegserlebnisse erzählen müssen. Und wenn wir das europäisches Projekt in den Sand setzen, das kann uns immer wieder passieren, dann wird es wieder zu diesen Erlebnisschilderungen der Väter für ihre Kinder und ihre Enkel kommen müssen und deshalb bin ich der Auffassung, dass diese Rede über Krieg und Frieden, von der mir immer wieder bedeutet wird, ich solle sie in der Mottenkiste ablegen, weil es die jungen Menschen nicht interessiert, immer wieder gehalten werden muss, weil die dramatische Auseinandersetzung zwischen Krieg und Frieden bleibt ein europäisches Thema.
Wieso haben wir eigentlich schon vergessen, dass 1999, das sind ja noch keine 10 Jahre, im Kosovo gemordet, gebrandschatzt, vergewaltigt wurde? Wieso vergessen wir eigentlich so schnell? Und wir tun so, als ob dies mit Europa nichts zu tun hätte. Dies ist mitten in Europa, dies ist in der dramatischen, komplizierten Mitte Europas passiert. Dass wir dann aufgrund der Lebensweisheit der Kriegsgeneration, die aus den Konzentrationslagern und von den Frontabschnitten in ihre zerstörten Städte und Dörfer zurückgekehrt waren, dass wir ihrer Lebensweisheit das verdanken, dass sie aus diesem ewigen Nachkriegssatz "Nie wieder Krieg" nicht nur ein Gebet gemacht haben sondern ein politisches Programm, das wirkt. Dies ist ein historisches Verdienst der Kriegsgeneration, dass das europäische Projekt gelungen ist, nicht das der schwächelnden Erben, die wir eigentlich sind.
Dass wir dieses friedens-politische Aufbauwerk versucht haben neu zu schreiben, dadurch dass wir es in Europa geschafft haben, bis jetzt 15 nationale Währungen zu einer einheitlichen Währung zu fusionieren, ist ein Kraftakt im europäischen Maßstab der Geschichte, der nicht unterschätzt werden darf. Es ist in der Welt noch nie passiert, wenn ich von einigen zögerlichen Versuchen früherer Jahrhunderte absehe, 15 hoch entwickelte Volkswirtschaften zu einer einheitlichen, in einem Binnenmarkt-System funktionierenden Währungsgebiet zusammenzuschweißen. Wir haben es uns selbst nicht zugetraut und andere uns auch nicht.
Als ich am 7. Februar 92 in Maastricht im niederländischen Limburg den Maastrichter-Vertrag unterschrieb, da dachten wir im besten Falle könnten fünf oder sechs EU-Staaten am 1. Januar 1999 sich auf den Weg in die europäische Wirtschafts- und Währungsunion machen. Bestenfalls sechs. Luxemburg war lange Jahre lang das einzige EU-Mitgliedsland, das sämtliche Konvergenzkriterien, die im Maastrichter-Vertrag figurieren, überhaupt erfüllte, und es kam mir Jahre lang so vor, als ob die kritische Masse da nicht gegeben wäre, weil nur Luxemburg diese Kriterien erfüllt. Obwohl ich doch an dem Vertrag sehr hänge, dem Maastrichter-Vertrag, weil ich bin der einzige noch im aktiven Dienst befindliche Finanzminister, der diesen Vertrag unterschrieben hat. Alle anderen sind weg. Der Euro und ich sind die einzigen Überlebenden des Maastrichter-Vertrages. Fünf oder sechs dachten wir, jetzt sind es 15. Wer jetzt nachliest, was vor der Ratifizierung dieses Maastrichter-Vertrags alles geschrieben wurde, auch in den Bereichen Publizistik und Wissenschaft, der kann sich überhaupt nur wundern, dass man überhaupt noch über den Euro redet. Wir haben uns das nicht zugetraut, viele andere auch nicht, aber wir haben es geschafft, und dies trifft auf bewundernde Zustimmung im Rest der Welt, weil wir aus der aktuelle Krise zu einem Stabilitätsanker in der Welt geworden sind.
Viel früher als ich dachte, dass wir es werden könnten. Dass wir angesichts der aktuellen Krise an den Märkten in den Augen der Welt als der stabilitätsgebende Faktor gelten, ist doch etwas, von dem man nicht dachte, dass wir diesen Zustand so schnell erreichen könnten.
Unsere Fundamentaldaten sind unendlich viel besser als die Fundamentaldaten unserer amerikanischen Freunde. Während man in Amerika besorgt darüber redet und ich glaube, dass es gute Gründe für diese Besorgnis gibt, dass die amerikanische Wirtschaft in Rezession abrutschen könnte, gibt es diese Rezessionsgefahr in Europa nicht. Unsere Wachstumsaussichten sind relativ gut, obwohl wir uns im Jahr 2008 leicht unterhalb des Wachstumspotenzials entlang entwickeln werden. Wir haben unser Haushaltsdefizit auch unter 1% im Euro-Durchschnitt gesenkt, das amerikanische Haushaltsdefizit liegt wesentlich höher. Unsere Leistungsbilanz ist positiv, die amerikanische Leistungsbilanz ist negativ. Die Beschäftigungsquoten in Europa steigen, die Arbeitslosenbestände korrigieren sich nach unten. Wir haben also jeden Grund, davon auszugehen, dass wir auch angesichts der globalen Ungleichgewichte, dessen Ausgleichungslast der Euro leider Gottes alleine tragen muss, zum eigentlichen stabilisierenden Faktor im Finanz- und Währungsgefüge der Welt geworden sind.
Aber es ist nicht so, dass diese Währungsunion perfekt funktionieren würde. Ich bin ein sehr engagierter Verteidiger der Unabhängigkeit der europäischen Zentralbank, weil ich auch an die Mühsal zu erinnern weiß, die es brauchte um dieses Prinzip der sich unabhängig gestaltenden Geldpolitik in den europäischen Maastrichter-Vertrag einschreiben zu können. Es hat damals und das flackert immer wieder auf, einen heftigen Streit zwischen deutscher und französischer geldpolitischer Anschauungswelt gegeben. Es ist gut, dass Geldpolitik von der europäischen Zentralbank unabhängig gestaltet wird. Es ist richtig, dass der Maastrichter-Vertrag auch die Mission der europäischen Zentralbank relativ stur darauf ausgerichtet ist, die Preisstabilität im Währungsraum zu garantieren und unüberlegte, übereilte, auf das kurzfristige Ergebnisse ausgerichtete politische Schnellschüsse aus der Hüfte zu vermeiden, die geldpolitische Kohärenz und ihre konsequente Führung eher verhindern als beschleunigen. Das heißt nicht, dass die europäische Zentralbank nicht gut beraten wäre, auch einen Blick auf das Konjunkturfeld zu werfen, und eine Feinabstimmung zu machen zwischen dem notwendigen Erhalt der Preisstabilität, was ja eine soziale Tat an sich ist - die Inflation ist der Todfeind des kleinen Mannes, andern macht das weniger aus - und den Notwendigkeiten der anhaltenden Wirtschaftsbewegung, für die die Zentralbank aber nicht in erster Linie zuständig ist, sondern die Wirtschaftspolitik der Euro-Mitgliedstaaten, die besser koordiniert werden muss und die stärker achten muss auf die "spill over" Effekte, die wirtschaftspolitisches Fehlverhalten in einem größeren Flächenstaat auf andere Miteigentümer der einheitlichen Währung zur Folge haben könnte. Aber dass wir jetzt 300 Mio Europäer haben, die sich den Euro teilen und die diese gemeinsame Währung kollektiv und solidarisch führen müssen, ist ein großer Erfolg europäischer Nachkriegspolitik und ist für die kommenden Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, Friedenspolitik mit anderen Mitteln.
Es geht bei der Währungsunion nicht nur um Währung. Es geht auch um Währung. Aber mich hat das währungspolitische weniger interessiert als das gesamtpolitische Kraftwerk, das dadurch entstand, dass die Europäer über eine einheitliche Währung verfügen. Das im Übrigen angegliederte Währungsräume auch mitstabilisiert. Und auch den Gesamtkontinent stabilisiert hat. Man muss sich eine Sekunde vorstellen: Wenn wir uns nicht auf dem Wege ins Euro-Land befunden hätten oder nicht im Euro-Land angekommen wären, im Moment der mexikanischen Finanzkrise, im Moment der argentinischen Finanzkrise, der russischen Finanzkrise, am 11. September 2001 im Moment der schrecklichen Anschläge auf New York und Washington, im Moment des nicht gerechtfertigten Einmarsches der US-Truppen im Irak, im Moment des Neins der Franzosen und der Niederländer zum europäischen Verfassungsvertrags - im gegenwärtigen Moment, das europäische Währungssystem wäre in tausend Stücke zerstoben. Und die durch den Euro hergestellte Abschaffung des Währungsrisikos zwischen europäischen Ländern, die auf einem Binnenmarkt funktionieren, wäre in voller Breite wieder ausgebrochen. Wir würden jetzt in chaotischen währungs- und geldpolitischen Zusammenhängen leben, wenn es die stabilisierende Wirkung des Euros nicht gäbe. Und dies gilt nicht nur für die Mitglieder der Euro-Zone, dies gilt auch für die Briten, dies gilt auch für die Schweizer, und dies gilt auch für andere, die denken, sie hätten mit dem Euro nichts zu tun. Es ist so, dass alle in Europa von dieser stabilisierenden und Anker werfenden Dimension des Euros profitieren.
Wir dürfen angesichts dieser Erfolge nicht denken, dass wir alles richtig machen, denn das tun wir dezidiert nicht, vor allem irren wir uns, wenn wir uns die zukünftige Mitte der Welt vorstellen. Wir denken ja immer noch, wenn wir ehrlich sind, dass wir in Europa die Mitte der Welt wären. Wir Europäer denken, wir wären diejenigen, die den historischen Auftrag hätten, immer und überall zu sagen, wie Probleme sich stellen und wie Probleme gelöst werden müssen. Die Europäer sind in keiner Sparte besser als in öffentlichen Belehrungen, die sie an andere Kontinente oder an die sofortigen Nachbarn wie die Russe richten. Wir sollten uns etwas bescheidener geben und versuchen, die Welt durch den Beweis der Tat zu überzeugen, weil die Welt sich rasant ändert. Dies stimmt nicht nur im wirtschaftlichen Gesamtzusammenhängen.
Die Mitte des 21. und 22. Jahrhunderts wird die Begegnungsstätte zwischen Geografie und Demografie sein, und wir beschäftigen uns nicht genug mit demografischen Vorgängen. Anfang des 20. Jahrhunderts – im Jahre 1900 – hat es von 100 Erdeinwohnern 20 Europäer gegeben. Genau 20% der Weltbevölkerung war europäisch, 1/5 der Weltbevölkerung. Heute gibt es noch in einem Dorf, in dem 100 Einwohner wohnen noch genau 11 Europäer und im Jahre 2050, das ist übermorgen früh, gibt es noch genau 7% Europäer. Im Jahr 2100 sind es noch 4%.
Wieso denken wir eigentlich, wir Europäer - und dies trifft in stärkerem Masse noch für unsere amerikanischen Freunde zu - dass wir alleine bestimmen könnten, wie die Geschicke der Welt zu regeln sind. Alleine in Afrika wird es im Jahre 2025 1,3 Mrd. Afrikaner geben, heute gibt es 850 Mio. Afrikaner. Von diesen 1,3 Mrd. Afrikanern werden 750 Mio jünger als 25 Jahre sein. Wieso muss man in Europa über gemeinsame Einwanderungspolitik reden angesichts dieser nur afrikanischen Zahl? Wenn sich nur 10% der unter 25jährigen Afrikaner in Richtung Europa auf den Weg machen, haben wir ein massives Problem. Wir brauchen also europäische Einwanderungspolitik. Aber wir brauchen nicht nur das, weil europäische Einwanderungspolitik klingt immer nach Festung, nach Abwehr, nach Wegschicken, nach krepieren lassen, wer einen Blick aufs Mittelmeer zu werfen noch im Stande ist.
Nein, es geht darum, dass wir eine neue Logik des Teilens lernen hier in Europa, weil sich die Mitte der Welt und vor allem die europäische Position nahe an der Mitte der Welt dramatisch verschieben werden. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Menschen dort wo sie aktuell leben, wo ihre Lebensräume sich befinden, das finden, was sie brauchen, damit sie nicht von diesem irrsinnigen Drang weiterhin getrieben werden, ihr Glück in Europa oder teilweise in Amerika, aber vor allem in Europa zu suchen.
Deshalb braucht es ein europäisches Projekt - das hat mit einer Politik nah an der Mitte des nächsten Jahrhunderts zu tun - um die entwicklungspolitischen Anstrengungen dramatisch nach oben zu korrigieren.
Dieses Vertrauen auf die Wirtschaftskraft der Chinesen und der Inder mag ja ein richtiger Politikansatz sein und um die Weltwirtschaft stünde es aktuell viel schlimmer, wenn es diese neuen Wachstumsräume in den Schwellenländern, vornehmlich in China, nicht gäbe. Wir wissen, was das für die Chinapolitik bedeutet. Und wir behandeln China wie ein kleines Land. Wir schauen uns China nie an. Es gibt 150 Mio Rentner, die über 65 Jahre alte sind. Im Jahr 2050 wird es 450 Mio chinesische Rentner geben. In Indien ist die Hälfte der Bevölkerung weniger alt als 15 Jahre. Die indische Bevölkerung wird wachsen, sie wird massiv wachsen, so zwar, dass in China die Menschen älter werden, die in Indien aber jung bleiben, was als Folge wiederum hat, dass allein in Indien 15 Mio Arbeitsplätze im Jahr geschaffen werden müssen, damit die indische Bevölkerung ihr Auskommen haben kann. Diese geografisch-demografischen Eckpunkte muss man im Kopf haben, wenn man über die Aufgabenstellungen für die nächsten Jahrzehnte redet. Und das hat mit einer Neuzuspitzung der entwicklungspolitischen Leistungsbereitschaft zu tun, zu der wir in Europa fähig sind. Es gibt nur fünf Länder in der Welt, die mehr als 0,7% ihres Wirtschaftsproduktes zur Verfügung stellen in diesem globalen Aufbauwerk, das absolut Priorität genießen muss. Alles kleine Länder: Dänemark, Norwegen, die Niederlande, Schweden und Luxemburg. Auch Luxemburg - deshalb sage ich das - sonst hätte ich diesen Hinweis überhaupt nicht gemacht. Wenn man als Eurogruppenchef im G7 sitzt, und redet über Entwicklungspolitik, dann sage ich manchmal, ich wäre froh, als 0,7-Land im G7 zu sitzen und ich hätte lieber das G7 wäre ein G0,7, weil, wenn alle in der Welt die Anstrengung machen, wie diese fünf kleinen Länder in Sachen Entwicklungspolitik, dann würde nicht jeden Tag 26 000 Kinder den Hungertod sterben.
Und ich halte es für ein Projekt der zukünftigen Eroberung der neuen Gefühlsmitte, dass wir dies als einen europäischen Auftrag begreifen. Nachdem die Sklaverei im 19. Jahrhundert abgeschafft wurde hätte ich gerne, dass in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts vor allem die Europäer mehr tun, und sich an der Logik des neuen Teilens beteiligen, dass die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts eines Tages die fünf Jahrzehnte sein werden, in denen es uns gelungen sein wird, weil wir uns als Europäer diese Aufgabe gestellt haben, Hunger und Armut von der Weltoberfläche zu vertreiben.
Vielen Dank.