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Jean Asselborn, "Die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union", Discours à l'occasion de la réunion du cercle des chefs d'entreprise de la Friedrich-Ebert-Stiftung
Einleitung
Ein langfristiges politisches Projekt kennt notgedrungen Höhen und Tiefen. Die Europäische Union hat als solches in seiner noch jungen und doch schon sehr reichen Geschichte, neben vielen Erfolgen eben auch eine Reihe Misserfolge verbuchen müssen. Erstere sollten uns nicht berauschen. Letztere sollten wir nicht überbewerten. Auf dem steinigen Weg zu einer immer engeren Zusammenarbeit der Europäischen Staaten dürfen wir uns nicht so leicht ablenken oder abschrecken lassen. Vielmehr müssen wir zielstrebig das Friedens- und Sozialprojekt Europa vorantreiben, damit auch die künftigen Generationen in einem sicheren Umfeld leben und sich in guten Lebens- und Arbeitsbedingungen entfalten können.
Bejaht man die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union vorbehaltlos, muss man trotzdem sich im Klaren sein, welche EU wir überhaupt wollen, wie diese funktionieren und bis wohin sie sich ausdehnen soll, welche politische Rolle wir ihr in der Welt von morgen zutrauen, in welche Bereiche des Lebens sie sich einzumischen hat und in welche nicht. Muss die Union vertieft oder erweitert werden? Oder beides? Und wenn ja, in welcher Reihenfolge, sollte es eine Reihenfolge geben? All das sind prinzipielle Fragen, die die Politologen beschäftigen und auf die wir Politiker versuchen pragmatische Antworten zu finden. Auch ist es unmöglich all diese Fragen im Rahmen dieses Beitrages zu beantworten. Ich möchte mich an dieser Stelle darauf beschränken, meine Erfahrung als Außenminister mit ihnen zu teilen und ich werde versuchen, anhand konkreter Beispiele, einen Weg zu skizzieren, wie die Zukunftsfähigkeit der EU aussehen könnte und welche internationalen Herausforderungen auf die Union zukommen.
Institutionelle Fragen
Einer der notorischen Rückschläge der EU fand leider unter Luxemburgischer Ratspräsidentschaft im Jahr 2005 statt, als Niederländer und Franzosen in naher Abfolge den Verfassungsvertrag per Referendum ablehnten. Als dann auch noch wenig später der Budgetgipfel in Brüssel scheiterte, war dies für sämtliche Euroskeptiker ein allzu willkommener Anlass, die institutionelle Krise zur Pleite des gesamten europäischen Projekts zu erklären. Dem war aber nicht so. Nach intensiven Verhandlungen wurde der Finanzrahmen für den Zeitraum 2007-2013 schließlich im Frühjahr 2006 verabschiedet und die Handlungsfähigkeit der EU für die nächsten Jahre gesichert. Freilich kann man bedauern, dass der Union nicht mehr Mittel zur Verfügung stehen, aber der unter österreichischer Ratspräsidentschaft abgeschlossene Finanzrahmen ist ein Kompromiss zwischen ehrgeizigen Zielen und strenger Haushaltsdisziplin.
Weniger erfolgreich war bis dato das Schicksal des Verfassungsvertrags. Nach zweijähriger Gedenkzeit und der Ausarbeitung eines neuen Vertragswerks, wird auch der so genannte Lissabonner-Vertrag nach dem Nein der Iren nicht so schnell in Kraft treten wie geplant.
Als EU-Politiker muss man sich daher die Frage gefallen lassen, warum in den Ländern in denen eine Volksabstimmung veranstaltet wurde, die Bevölkerungen mehrheitlich gegen den Verfassungsvertrag, beziehungsweise gegen den Lissabon-Vertrag gestimmt haben? Nun, die Antwort ist einfach und komplex zugleich.
Die Debatten rund um die Verträge wurden meines Erachtens zweckentfremdet. In Frankreich und in den Niederlanden haben innenpolitische Fragen die eigentliche Debatte in den Hintergrund gedrängt. Auch war das Engagement der Regierungen hier nicht 100%. In Irland waren unbegründete Argumente mit im Spiel. Erste Analysen haben gezeigt, dass die EU-Gegner schlicht und einfach Unwahrheiten in die Welt gesetzt haben: Das Land würde seine Steuerhoheit und seine Neutralität verlieren, hieß es, und weiter, dass mit dem Vertrag das strikte Abtreibungsrecht aufgeweicht und die Prostitution in Irland erleichtert werde. So viel zur einfachen Antwort.
Die komplexere Frage jedoch lautet: Warum lassen sich die Bevölkerungen so leicht beirren und von der populistischen Rhetorik einiger Politiker ablenken? Warum ist die EU bei den Bürgern so unpopulär?
Nun, es scheint außer Zweifel, dass in weiten Schichten der europäischen Bevölkerungen in Bezug auf die Europäische Union eine zum Teil erschreckende Unkenntnis herrscht. Und wo Unkenntnis herrscht sind Vorurteile und Ablehnung nicht weit. Das hat seinen guten Grund: die Europäische Union hat sich, zumindest in ihrer Anfangsphase, wo es prioritär und zu Recht um die kapitale Frage Krieg oder Frieden ging, ohne den Bürger entwickelt. Auch wenn Jean Monnet behauptete, Europa einige keine Nationen, sondern bringe Menschen zusammen, so muss man doch gestehen, dass das Konzept des "Europas der Bürger" erst in den siebziger und achtziger Jahren zu einem politischen Ziel wurde. Im Bereich der Kommunikation wurde in den letzten Jahren viel geleistet; dennoch empfinden viele Bürger die EU immer noch als bürokratisch und realitätsfremd. Zudem hat sich in den letzten Jahren eine diffuse Unzufriedenheit mit dem ökonomischen und sozialen Abschwung breit gemacht, der teilweise der Osterweiterung angekreidet wurde.
Nebenbei bemerkt: Auch die Politik ist hier nicht unschuldig. Allzu oft sieht man Kollegen die sich ihrer Verantwortung entziehen und die Schuld unpopulärer Maßnahmen dem fernen Brüssel in die Schuhe schieben wollen. Geht es dem Land gut kommt der Verdienst der jeweiligen Regierung zu, geht es dem Land schlecht dann ist die EU dran schuld. Nicht selten macht sich in verschiedenen Ländern auch wieder ein Nationalismus breit, für den die EU den anonymen Überstaat verkörpert, der die nationalen Traditionen verkennt und alle Differenzen nivellieren will. Man spielt mehr oder weniger bewusst mit den Ängsten der Leute. Der Leitgedanke lautet hier: Wer Sicherheit will, wer Schutz vor Prekarität, Globalisierung oder Identitätsverlust sucht, der tut besser daran sich an seine Regierung zu wenden. Dass die EU weit besser aufgestellt ist, um diese Probleme in Angriff zu nehmen, wird oft verschwiegen. Denn: keines der Weltprobleme ist mehr im nationalen Alleingang zu bewältigen.
Damit die EU ihrer Rolle gerecht werden kann und in Zukunft ihren Ziele besser nachkommen kann, müssen ihre historisch gewachsene Institutionen modernisiert und ihre Arbeitsmethoden verbessert werden. Nach wie vor bin ich der Überzeugung, dass der Lissabon-Vertrag vielleicht nicht der beste aber immerhin ein guter Vertrag ist, der in vielen Bereichen die EU demokratischer, effizienter und transparenter gestalten wird. Vereinfachte Abstimmungsregeln, Ausdehnung der qualifizierten Mehrheit, Bürgerinitiative, Verkleinerung der Kommission, Schaffung eines Präsidenten des Europäischen Rates und eines Hohen Beauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik… das sind nur einige der Verbesserungen, die der Vertrag vorsieht.
Muss man mit dem Nein der Iren den Lissaboner-Vertag für tot erklären? Keineswegs. Der Ratifizierungsprozess wurde nach dem Referendum fortgesetzt. Eine gute Nachricht kam gestern aus der tschechischen Republik: dort hat das Verfassungsgericht den Reformvertrag nicht blockiert. Damit kann jetzt der Ratifizierungsprozess für den Vertrag durch die beiden tschechischen Parlamentskammern fortgeführt werden. Ich bin zuversichtlich, dass sich in Tschechien eine parlamentarische Mehrheit für den Vertrag finden wird. Wie sie wissen hat Vaclav Klaus’ konservative ODS bei den Regional- und Senatswahlen Ende Oktober massiv Stimmen einbüßen müssen. Dieser Umschwung zugunsten der Sozialdemokraten stimmt mich auch hier eher optimistisch, was die Ratifizierung des Lissaboner-Vertrags angeht. Allerdings kann man mit Blick auf die Anfang Januar beginnende tschechische Ratspräsidentschaft besorgt sein. Dass der notorisch europafeindliche Präsident Vaclav Klaus sich während seines Staatsbesuches in Irland mit Millionär Declan Ganley trifft und sich demonstrativ als EU-Dissidenten feiern lässt, ist ein Hohn. Schon allein der Begriff "Dissident" ist eine peinliche Verballhornung der Geschichte, weil er die EU als totalitären Machtapparat karikiert! Aber zum Glück steht die tschechische Regierung der EU weitaus positiver gegenüber.
Bliebe also noch Irland. Ein möglicher Ausweg aus der jetzigen Sackgasse wäre z.B. eine Zusatzerklärung, das auf die wesentlichen Fragen und Bedenken der Iren eingehen würde. Aber lassen wir uns nichts vormachen: auch eine Umrahmung des Textes mit einem kraftvollen politischen Erklärungsteil würde ein erneutes Referendum in naher Zukunft nicht leicht machen. Wie es aussieht, wird der Vertrag jedenfalls nicht vor den nächsten Europawahlen in Kraft treten. Ich gehe auch nicht davon aus, dass Irland noch vor Ende des Jahres eine Roadmap vorlegen kann, was ein zweites Referendum betrifft. Dennoch gibt es Grund zu moderatem Optimismus. Mit der Finanzkrise macht sich nämlich ein Sinneswandel in der irischen Bevölkerung breit. Mit dem wirtschaftlichen Rückgang ist vielen Iren nämlich bewusst geworden, dass auch sie ein Interesse an einer starken EU haben und dass es riskant sein kann, sich selbst ins Abseits zu manövrieren.
Wie auch immer: ein Inkrafttreten des Lissabonner-Vertags nach den Europawahlen wird Konsequenzen mit sich bringen. Der bis zum Eintreten des Lissaboner-Vetrags gültige Nizza-Vertag sieht nämlich eine Reduzierung der Europa-Parlamentarier und der EU-Kommissare vor. Der Vertrag besagt, dass wenn die EU 27 Mitglieder umfasst, die Zahl der Kommissionsmitglieder unter der Zahl der Mitgliedsstaaten liegen muss. In anderen Worten: mindestens ein Land wird auf seinen Kommissaren verzichten müssen. Wenn man weiß, dass mit der Entsendung eines Kommissars das Zugehörigkeitsgefühl eines Landes zur Union gefördert wird, gestaltet sich eine Lösungsfindung schwierig. Fazit: es besteht große Hoffnung in der tschechischen Republik, moderate Hoffnung in Irland, Hoffnungslosigkeit was Kaczynski betrifft. Aber dieser wird genau wie Klaus vom polnischen und tschechischen Volk eines Besseren belehrt werden. Ihre "Dissidenz" wird am Ende in Bedeutlungslosigkeit, gar in Lächerlichkeit münden.
Finanzkrise
Die von den USA ausgehende Finanzkrise hat in aller Schärfe gezeigt, wie anfällig die nationalen Wirtschaften in einer globalisierten Welt geworden sind. Sie hat aber auch bewiesen - und das war den meisten Bürgern vielleicht nicht so klar - dass die EU fähig ist, sich in solchen Krisensituationen erfolgreich zu koordinieren.
Wie sie wissen, war der Auslöser der Krise im vergangenen Jahr der Rückgang der Hauspreise in Amerika und die damit einhergehenden Wertverluste von Wertpapieren, die mit Forderungen aus Hypothekendarlehen verbrieft sind. Die Ursache ist aber auch darin zu suchen, dass Regulierung und Aufsicht nicht streng genug waren und die Aufweichung der Kriterien in der Kreditvergabe nicht verhindert haben. Es wurden zu viele zu riskante Hypothekendarlehen vergeben. Das ging eine Weile gut und es wurden hohe Gewinne eingestrichen. Aber nun hat diese Sorglosigkeit in die Krise geführt. Ein Grossteil der verbrieften Hypothekendarlehen fand sich, mit geliehenem Geld, in den Portfolios der Investmentbanken wieder, welche diese wiederum verbrieften und veräußerten. Nach dem Kollaps der zwei größten Hypothekendarlehensfirmen - Fannie Mac und Freddie Mac - gerieten auch die Investmentbanken ins Strudeln, was die jetzige Krise auslöste.
Die Ursachen der Finanzkrise in den Vereinigten Staaten gehen damit auch auf die spezifische Organisation des US-amerikanischen Finanzsystems zurück. Die Trennung von Investment- und Geschäftsbanken war eine der Lehren, die die Regierung aus der großen Depression in den 1930er Jahren gezogen hatte. Die Spaltung sollte verhindern, dass Geschäftsbanken die Ersparnisse von einfachen Bürgern an den Kapitalmärkten verspielen. Im Zuge der Deregulierungswelle in den Neunziger Jahren erlaubten die USA den Geschäftsbanken aber, Investmentbanken bei Wertpapiergeschäften Konkurrenz zu machen. Die Investmentbanken spekulierten fortan noch stärker mit geliehenem Geld, um ihre Gewinnmargen zu verteidigen. Die Finanzkrise hat gezeigt, wie gefährlich dieses Geschäftsmodell ist.
Europa ist in diesem Sinne besser aufgestellt und darum weniger anfällig. In Europa hat man sich nicht so sehr auf das Investmentbankgeschäft ausgerichtet, wie das in Amerika der Fall war. Investmentbanken sind in Europa meist schon Teil von Universalbanken, so wie es sich nun in Amerika entwickelt. Sie unterliegen dadurch den gleichen Eigenkapitalregeln. Doch konnten Europas Finanzinstitute der Krise nicht entkommen, weil sie an den hohen Verlusten der komplexen Finanzprodukte, die sie in den USA gekauft haben, beteiligt waren. Der Liquiditätsengpass, der durch Dollar-Knappheit und die Kreditkrise, so wie das Platzen der heimischen Immobilienblasen, z. B. in Irland und Spanien haben die Krise noch verschärft.
In dieser Krise hat die EU trotz aller Differenzen schnell und geschlossen reagiert. Auf dem EU-Gipfel im Oktober, haben sich die Staats- und Regierungschefs einstimmig auf einen gemeinsamen Rettungsplan für die Banken geeinigt, der milliardenschwere Garantien und die Teilvertstaatlichungen von Banken vorsieht. Somit konnte das europäische Finanzsystem vorläufig gerettet werden. Aber die Finanzkrise greift langsam aber sicher auf die reale Wirtschaft über. Die ungewisse Geschäftsentwicklung wird auch die Investmentbereitschaft bremsen. Für die meisten Mitgliedsstaaten bedeutet dies: schwächerer Wirtschaftswachstum (oder gar wirtschaftliche Rezession) und höhere Arbeitslosigkeit.
Auch hier ist die EU gefordert: neben der besseren Regulierung der Finanzmärkte, wird die Europäische Union auch koordinierte Maßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft ergreifen müssen. Dies könnte im Rahmen der Lissabon-Strategie ausgeführt werden, durch eine gezielte Förderung der Kleinen und Mittleren Betrieben mit Hilfe der Europäischen Investitionsbank, aber auch durch weitere Investitionen im Bereich der Forschung und Entwicklung. Erlauben Sie mir an dieser Stelle, die von meinem Amtskollegen und Freund Frank-Walter Steinmeier ausgearbeiteten Pläne zur Bewältigung der Finanzkrise zu begrüßen. Die neun Punkte seines "Europäischen Zukunftspaktes für Arbeit" sind vertrauensbildende Maßnahmen sowohl was die Wirtschaft als auch den Verbraucher betrifft. Frank-Walters Papier zeigt, dass Beschäftigung Vorfahrt haben muss und dass man angesichts der Wirtschaftskrise rasch reagieren muss, indem man Investitionen in Energieinfrastrukturen und Breitbandinfrastruktur zeitlich vorzieht. Außerdem brauchen wir eine Forschungsoffensive. Zudem müssen wir auch die protektionistischen Tendenzen abschaffen, und da wünsche ich mir vor allem ein Abschluss der Doha-Runde. Frank-Walter trifft den Kern wenn er sagt: "Europa steht besonders in der Pflicht: als größter Binnenmarkt der Welt und als Verkörperung einer politischen Idee, für die Wohlstand und sozialer Zusammenhalt keine Gegensätze sind."
Das gestern von der Kommission vorgelegte Konjunkturpaket, das die europäische Wirtschaft ankurbeln soll, geht in eine ähnliche Richtung. Dieses Konjunkturprogramm beruht auf zwei Punkten. Erstens, soll der private Konsum durch eine massive Geldinjektion von 200 Milliarden Euro wieder angeheizt werden - davon sollen 170 Milliarden aus den nationalen Haushalten und 30 Milliarden aus dem EU-Haushalt finanziert werden - und, zweitens, sollen die Maßnahmen im Einklang mit der Lissabon Strategie vor allem die Entwicklung neuer Technologien fördern. Es bleibt zu hoffen, dass wir am 11. und 12. Dezember auf dem EU-Gipfel eine für die gesamte europäische Wirtschaft optimale Lösung finden und weiterhin Geschlossenheit demonstrieren.
Denn: Geschlossenheit zeigte die EU bisher nicht nur intern, als sie - wie erwähnt - auf dem EU-Gipfel im Oktober ein Rettungspaket für die europäischen Banken verabschiedete; Geschlossenheit hat sie hat auch anschließend auf dem Weltfinanzgipfel, dem G20, Mitte November in Washington demonstriert. Die Einsicht, dass man die Finanzmärkte nicht allein der von den neoliberalen Wirtschaftspropheten so oft beschworenen unsichtbaren Hand überlassen soll, entspricht einer kontinental-europäischen Grundeinstellung, die die Marktwirtschaft immer im Dienste des Menschen versteht. Dass der G20 eine größere Überwachung der Ratingagenturen, sowie eine stärkere Reglementierung der spekulativen Hedge-Fonds ins Auge fasst, ist ausdrücklich zu begrüßen. Mit dem G20 wurden denn auch für die Zukunft die Weichen gestellt, die - so hoffe ich - dazu beitragen werden, den Kapitalismus zu zivilisieren, wie es vor über einem Jahrzehnt Gräfin Dönhoff forderte.
Der Weltfinanzgipfel könnte auch aus einem anderen Grund in die Geschichte eingehen. Bis dato waren es nämlich die westlichen Industriestaaten, die allein die Geschicke der Weltwirtschaft bestimmt haben. Mit der Finanzkrise ist es offensichtlich geworden, dass die von Bretton Woods entworfene und auf der Präeminenz des Westens beruhende Wirtschaftsordnung nicht mehr zeitgemäß ist. In einer globalisierten Welt, und in einer globalisierten Weltwirtschaft, brauchen wir eine umfassende Reform der Finanzinstitutionen, die Schwellenländern wie z. B. China, Brasilien, Indien ein größeres Mitbestimmungsrecht zugestehen. Es ist Zeit einzugestehen, dass wir in Wirtschafts- und Finanzfragen nicht mehr das Monopol haben: weder das Monopol der Lösungen, noch das der Verantwortungen. Ich glaube auch, dass die EU bei dieser "Umgestaltung der Welt", wie es Gordon Brown treffend formulierte, eine führende Rolle spielen kann und spielen sollte.
Wie sich die Krise jetzt entwickeln wird, ist ungewiss. Aber auch wenn noch schwere Zeiten auf uns zukommen, steht bereits fest, dass einer der Gewinner dieser Finanzkrise der Euro ist. Sieben Jahre nach seiner Einführung hat die Einheitswährung Europa vor noch schwereren Auswirkungen der Finanzkrise erfolgreich geschützt. Die dramatische Situation Islands oder das Beispiel Ungarns haben gezeigt, dass es teuer zu stehen kommt, außerhalb der Euro-Zone zu bleiben.
Ein weiteres Beispiel gut koordinierter Europapolitik war in diesem Sommer die Antwort der Europäischen Union auf den Kaukasuskonflikt.
Außen- und Sicherheitspolitik
Mit seinem Angriff auf Südossetien am 7. und 8. August 2008 hat der georgische Präsident Michail Saakaschwili im Kaukasus einen Konflikt losgetreten, der noch dramatischere Folgen hätte haben können. Wenn es jedoch nicht zum gefürchteten Flächenbrand kam und die Auseinandersetzungen auf einer regionalen Konfliktebene beschränkt werden konnten, dann ist das hauptsächlich der Verdienst der Europäischen Union und der französischen Ratspräsidentschaft. Die EU ist, und das muss man betonen, von Anfang an geschlossen und dezidiert aufgetreten. Bereits nach einigen Tagen war es der Ratspräsidentschaft mit dem Sechs-Punkte-Plan gelungen, einen Waffenstillstand zwischen Russland und Georgien auszuhandeln. Der Plan wurde von den EU-Außenministern am 13. August bestätigt und am 8. September um einen Fahrplan zur Beilegung der Kaukasuskrise ergänzt.
Die Antwort der Union war klar, kohärent und pragmatisch zugleich:
- die Einstellung der Feindseligkeiten sichern
- die humanitäre Hilfe organisieren und den betroffenen Bevölkerungen zur Hilfe kommen
- die Entsendung von Beobachtern ermöglichen, um die Umsetzung des Waffenstillstandes zu überwachen
- die Verantwortungen am Ausbruch des Krieges durch eine unabhängige Untersuchungskommission klarzustellen
- die Diskussion um eine nachhaltige politische Lösungen einzuläuten
Politisch gesehen, haben sich die europäischen Staats- und Regierungschefs auf ihrem Kaukasus-Sondergipfel am 1. September auf eine gemeinsame Linie geeinigt, was die Beziehungen mit Russland betrifft. In der gemeinsamen Schlusserklärung hat der Rat Russlands Reaktion als unverhältnismäßig bezeichnet und die einseitige Anerkennung Abchasiens und Südossetiens als inakzeptabel verurteilt. Gleichzeitig wurden die Verhandlungen über das neue Partnerschaftsabkommen mit Russland aufgeschoben, um der Stellungnahme auch den nötigen politischen Druck zu verleihen. Zugleich wurde an die georgische Regierung appelliert, die Demokratisierung des Landes voranzutreiben.
Diese, wie ich glaube, sehr ausgeglichene Position der EU hat schnell ihre Früchte getragen. Auch wenn sich Russland zum verhängnisvollen Schritt der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens hat verleiten lassen, so haben seither die Waffen überwiegend geschwiegen und die Verhandlungen wurden wieder aufgenommen. Das ist an und für sich ein positives Zeichen, auch wenn jeder weiß, dass die Beziehungen mit Russland nicht von heute auf morgen einfacher werden. Das liegt nicht nur an Russland, das liegt z.T. auch an der Haltung verschiedener Länder innerhalb der EU, die Moskau gegenüber gerne härtere Tönen anschlagen. Das Verhalten dieser Länder geht auf eine schmerzliche Vergangenheit zurück und man sollte dafür auch Verständnis aufbringen. Aber man kann nicht einseitig von Russland verlangen alte Vorurteile aufzugeben. Wir sollten alle – Europäer wie Russen – die Logik des Kalten Krieges begraben.
Der Ansatz einer vollkommenen Wiederherstellung der Beziehungen geht für mich nur über den Weg eines kritischen Dialogs mit Russland. Dieser kann aber nur innerhalb eines rechtlichen Rahmens geführt werden. Deshalb liegt es mir auch am Herzen, dass die Verhandlungen über ein neues Partnerschaftsabkommen im Dezember wieder aufgenommen werden und dass wir die Beziehungen zwischen der EU und Russland im Interesse beider Partner auf eine neue Grundlage stellen. Russland ist und wird auch in Zukunft weiterhin ein wichtiger Handelspartner der EU bleiben. Wir leben mit Russland sozusagen in gegenseitiger Abhängigkeit. Moskau braucht unsere Investitionen und wir brauchen Russlands Erdgas für unsere Energieversorgung zu sichern. Es wäre jedoch zynisch zu behaupten, dass unsere Zusammenarbeit sich nur auf wirtschaftliche Aspekte beschränkt. Auch außenpolitisch ist Moskau ein Schlüsselpartner. Wir sind uns in der Europäischen Union sehr wohl bewusst, dass man weder im iranischen Atomstreit noch im Nahen Osten ohne Russlands Unterstützung eine Lösung finden kann. Wir brauchen Russlands militärische Unterstützung in Afghanistan und im Tschad. Wir brauchen Russlands Kooperation im Bereich der Drogenbekämpfung und im Kampf gegen den Klimawechsel. An Moskau geht kein Weg vorbei.
Damit diese Partnerschaft Realität werden kann, muss zwischen der EU und Russland auch ein vertrauliches Klima hergestellt werden. Gerade in der Kaukasus-Krise hat man deutlich gesehen, dass die EU als einzige politische Macht die nötige Glaubwürdigkeit besaß, um als Schlichter zwischen den streitenden Parteien zu vermitteln. Ich wage hier anzuzweifeln, dass wir diese Rolle als "honest broker", als ehrlichen Makler, hätten erfüllen können, wenn wir auf dem NATO-Gipfel in Bukarest dem Druck der USA nachgegeben hätten und Georgien das MAP, also das "Membership Action Plan" angeboten hätten. Und es wird uns voraussichtlich auch gelingen dies im Dezember zu vermeiden. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir haben im April dieses Jahres Georgien und der Ukraine versprochen, sie eines Tages in die NATO aufzunehmen. Wir werden unseres Versprechen auch einhalten. Man sollte diese wichtige Entscheidung aber nicht übers Knie brechen. Zum jetzigen Zeitpunkt sind Georgien und die Ukraine noch nicht reif, Mitglied der NATO zu werden. Ein Zerschlagen der Gleichgewichte im strategischen Sinne gesehen zu Ungunsten Russlands kann weder im Interesse der Europäischen Union noch in dem der NATO, der Ukraine oder Georgiens sein. Auch plädiere ich mit Frank-Walter Steinmeier für eine schnelle Wiederaufnahme des Dialoges in der NATO; im Russland Rat.
Im Bereich der Außenpolitik muss die EU noch tiefer in ihre Rolle hineinwachsen. Gleichzeitig ist dies für sie der einzige Weg, wenn sie nicht zum Spielball zwischen den USA und Russland werden will. Der konsequente Ausbau der GASP ist daher in meinen Augen ein wesentlicher Bestandteil der Zukunftsfähigkeit der EU.
Amerika
Erlauben sie mir in diesem Zusammenhang auch kurz die Wahl des neuen Präsidenten in Amerika zu kommentieren. Denn man kann in diesen Zeiten nicht von Russland reden, ohne Amerika im gleichen Atemzug zu erwähnen. Ich sagte vorhin, man müsse die Logik des Kalten Krieges hinter sich lassen. Die Wortwahl war nicht zufällig; gerade im Zusammenhang mit der Kaukasuskrise wurde der Begriff immer wieder von den Medien ins Gespräch gebracht. Den Begriff halte ich für übertrieben. Dennoch muss man feststellen, dass sich in den vergangenen Jahren das Verhältnis zwischen Russland und den Vereinigten Staaten allmählich verschlechtert hat. Wenn die zwei stärksten Militärmächte der Welt zeitweise nicht mehr miteinander reden, darf man sich die Frage stellen, ob die russisch-amerikanischen Beziehungen nicht tatsächlich heute an einem historischen Tiefpunkt angelangt sind. Die Aufrüstungsspirale in der Iskander-Raketen in Kaliningrad gegen US-Raketenabwehrschild in Polen und der Tschechischen Republik aufgestellt werden, ruft ungute Erinnerungen wach.
Dennoch kann man die Situation nicht mit der aus den siebziger und achziger Jahren vergleichen. Unter anderem weil die Europäische Union seit den neunziger Jahren ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik kontinuierlich ausgebaut hat und nun mit verstärktem Selbstvertrauen auf der internationalen Weltbühne auftritt und handelt. Daher müssen wir unseren Partnern ganz klar zu verstehen geben, dass wir als Europäische Union als ein Ganzes zu betrachten sind und dass wir auch als solches behandelt werden wollen. Konkret heißt das, dass wir es vermeiden wollen, dass z.B die USA bilateral mit Polen oder der tschechischen Republik verteidigungspolitische und sicherheitspolitische Entscheidungen treffen die die Europäische Union als Ganzes angehen.
Wir erwarten uns vom neuen amerikanischen Präsidenten einen Neuanfang unserer Beziehungen und wir wollen den USA auf Augenhöhe begegnen. Mit Barak Obama bietet sich vielleicht eine einzigartige Gelegenheit dazu, die wir nicht versäumen sollten. Schließlich teilen wir auf beiden Seiten des Atlantiks Werte wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. Ich bin überzeugt, dass der neue Präsident versteht, dass es kein altes und kein neues Europa mehr gibt und dass die europäische Diplomatie die amerikanische in vielen Erdteilen vorteilhaft ergänzen kann. Im Idealfall wünsche ich mir ein Amerika, als Großmacht im Dienste der Vereinten Nationen.
Meine Damen und Herren,
Ich habe mich im Rahmen dieses Vortags nur auf einige wenige aktuellen EU-Themen beschränken wollen. Die Beispiele auf die ich eingegangen bin, zeigen, dass die EU sich trotz vieler Schwierigkeiten positiv entwickelt. Unser Weg ist kein geradliniger! Er wird es auch nie werden. Aber der politische Willen, die EU zu vertiefen, ist präsent. Er muss es auch weiterhin bleiben. Dass wir eine Wirtschaftsmacht sind, wissen wir längst. Aber eine Zukunft als globaler Spieler hat die EU nur wenn sie es schafft, eine richtige politische Weltmacht zu werden. Gerade die rasche Entwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) in den letzten Jahren zeigt, dass die Europäische Union in diesem Bereich wesentliche Fortschritte gemacht hat. Heute ist die EU mit einer Dutzend zivilen und militärischen ESVP-Missionen auf drei Kontinenten im Einsatz. Seine Führungsrolle als Schlichter hat sie in Georgien und im Kosovo unter Beweis gestellt. Mit dem Lissaboner-Vertrag wird sie im Bereich der Außenpolitik über weitere Instrumente verfügen können. Die Aussichten sind also eher gut.
Aber wir dürfen dabei nicht die "innere Front" aus den Augen verlieren. Europa muss seinen Bürgern immer aufs Neue erklärt werden, weil wir keine gewachsene natürliche Schicksalsgemeinschaft sind. Unsere heutige Zusammenarbeit ist aus jahrhundertealten Rivalitäten und Kriegen hervorgegangen. Sie beruht auf der Überzeugung, dass es ohne Stabilität, Frieden und Wohlstand keine Zukunft auf dem europäischen Kontinent gibt. Genau dafür steht die EU. Für mich gibt es dazu keine Alternative.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.