Jean-Claude Juncker: Die sich langsam erholenden Wachstumskräfte nicht umknicken

LW: Herr Premierminister, die Staats- und Regierungschefs der EU wollen sich auf dem Brüsseler Gipfeltreffen über die Wettbewerbsfähigkeit unterhalten. Der italienische Vorsitz hat die Transeuropäischen Netze wiederentdeckt, die jetzt energischer vorangetrieben werden sollen. Aber die staatlichen Kassen sind leer. Inwiefern könnten dennoch Impulse vom Gipfel ausgehen?

Jean-Claude Juncker: Die italienische Präsidentschaft, die EU-Kommission und einige Finanzminister haben nicht nur die europäischen Netze wiederentdeckt, sondern möchten einen Wachstumsimpuls in die erlahmende europäische Konjunktur dadurch hineinbringen, dass wir 29 Großprojekte identifiziert haben. Dazu gehören aber auch bestimmte Initiativen im Bereich Forschung und Entwicklung. Es handelt sich also nicht nur um klassische Großbaustellen wie Infrastrukturprojekte, sondern auch um weiterführende Investitionen im technologischen Bereich. Ich begrüße dies sehr, und bin der Meinung, dass das Paket, das von den Finanzministem vergangene Woche in Luxemburg erörtert wurde, den Binnenmarkt effizienter gestalten wird und die europäische Wettbewerbsfähigkeit infrastrukturell und technologisch stärken wird. Allerdings bin ich der Auffassung, dass die jetzt in Angriff genommenen Investitionen sich in strikter Vereinbarkeit mit dem Stabilitäts- und Wachsturnepakt bewegen müssen.

LW: Was heißt das konkret?

Jean-Claude Juncker: Konkret bedeutet das eine Mischfinanzierung zwischen Mitteln der Europäischen Investitionsbank, die bis zu 90 Milliarden Euro aufbringt und Mitteln des Privatsektors, ohne dass die öffentlichen nationalen Kassen oder der EU-Haushalt strapaziert werden.

LW: Deutschland und Frankreich verletzen das Maastricht-Kriterium der Neuverschuldung zum wiederholten Male. Gilt der Pakt überhaupt noch?

Jean-Claude Juncker: Der europäische Stabilitätspakt gilt. Gäbe es ihn nicht, müssten wir ihn erfinden, weil außer Zweifel steht, dass im Falle seines Nichtvorhandenseins die öffentlichen Schuldenstände in Frankreich, Deutschland, Italien um ein Vielfaches höher wären, als sie es sind. Es war stets unsere Position, auf beide Aspekte des Pakts hinzuweisen: Haushaltsstabilität und die Wachstumssorge. 75 Prozent des Bruttosozialprodukts der Eurozone entfallen auf Italien, Frankreich und Deutschland. Wenn sich diese in einer Rezession befinden, muss man sehr darauf achten, dass nicht durch zusätzliche Sparanstrengungen, die man den drei Ländern, vor allem Frankreich aufzwingen würde, die sich langsam erholenden Wachstumskräfte wieder umgeknickt werden. Beispielsweise dadurch, dass man im öffentlichen Investitionsbereich die drei Staaten zu weiteren Haushaltskorrekturen nach unten zwingt. Mir genügt es, wenn Frankreich erklärt, dass es im Jahr 2005 wieder unter der Drei-Prozent-Defizit-Grenze, die in Maastricht festgelegt wurde, ist. Und sich gleichzeitig dazu verpflichtet, die durch eine wünschenswerte Konjunkturerholung erzielten Haushaltsmehreinnahmen konsequent zum Schuldenabbau zu verwenden.

LW: Das verstehen Sie demnach unter einer "intelligenten" Anwendung des Euro-Stabilitätspakts.

Jean-Claude Juncker: Dies halte ich für intelligenter als das einfache Beharren auf einem sturen Automatismus, der sinnlos wird, wenn er keine Ergebnisse zeitigt.

LW: Die Regierungskonferenz zum Verfassungsvertrag streitet sich seit zehn Tagen über die institutionellen Probleme. Auf dem Gipfel soll es eine Debatte über die künftige Stimmengewichtung im Ministerrat geben. Spanien und Polen legen sich quer. Wie könnte ein Kompromiss aussehen?

Jean-Claude Juncker: Mir wäre es lieber, wenn man die Außenminister, die man mit der Führung dieser Regierungskonferenz beauftragt hat, ihre Arbeiten konsequent machen ließe, statt immer wieder die Staats- und Regierungschefs dazwischenzuschalten. Die können sinnvollerweise eigentlich nur zwischengeschaltet werden, wenn Vorschläge auf dem Tisch liegen, zwischen denen es zu wählen gilt. Oder aber sich die Möglichkeit zu einem weiterführenden zielorientierten Kompromiss anbietet. Ich denke, das man in Fragen wie der Stimmengewichtung einen Kompromiss dadurch erzielen kann, dass bei dem Prozentsatz, den es bei Mehrheitsabstimmungen zu erreichen gilt, sich alle aufeinander zu bewegen. Allerdings muss die Effizienz der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden.

LW: Insgesamt sind drei Stunden für die Regierungskonferenz vorgesehen. Sind Beschlüsse zu erwarten, etwa zur Zusammensetzung der Kommission, der Leitung der Fachministerräte oder zum ständigen Außenminister?

Jean-Claude Juncker: Man kann das am Vortag des Europäischen Rates noch nicht sagen. Die Außenminister sind ja bei all diesen Punkten stecken geblieben. Ich hielte es schon für verwunderlich, wenn jetzt eine Generaldebatte des Europäischen Rates all diese Probleme lösen könnte. Aber wir werden stückweise auf eine zufrieden stellende Lösung hinarbeiten.

LW: Themenwechsel. Innere Sicherheit. Mit einer europäischen Agentur sollen die neuen EU-Außengrenzen insbesondere im Osten besser geschützt werden. Was hat man sich darunter vorzustellen und inwiefern ist Luxemburg betroffen?

Jean-Claude Juncker: Wir, die Luxemburger Regierung, waren stets der Meinung, dass wir dort, wo nationalstaatliche Leistungen an einer Außengrenze der Europäischen Union erbracht werden, hin zu einer etwas kollektiv organisierten Finanzierung dieses Grenzschutzes kommen. Ansonsten gilt für uns, dass wir sowohl im Bereich der Einwanderung als auch im Asylbereich stärker europäische Lösungen brauchen.

LW: Man ist aber wohl noch nicht so weit, eine europäische Grenzschutz-Truppe aufzubauen?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube nicht, dass man so schnell so weit kommen wird. Wünschenswert wäre es allerdings.

LW: Außenpolitisch dürfte der Irak das Hauptthema sein ...

Jean-Claude Juncker: Ich gehe davon aus, dass sich die Außenminister und die Chefs mit den internationalen Brandherden beschäftigen werden. Zum Rahmen einer besser koordinierten Außen- und Sicherheitspolitik werden sicherlich auch inhaltliche Festlegungen in Bezug auf eine neue Irak-Resolution gehören.

LW: Befürchten Sie nicht ein Wiederaufbrechen der alten Frontlinien - Frankreich/Deutschland auf der einen und Großbritannien auf der ändern Seite?

Jean-Claude Juncker: Ich denke, dass wir uns davor hüten sollten, dauerhaft unser Geschick unter Beweis zu stellen, alte Fronten wieder zu bilden. Es ist jetzt an der Zeit, dass wir gemeinsam in eine Richtung marschieren.