Jean-Claude Juncker: Nizza ist den Tod nicht wert. Premierminister Juncker über die Europäische Union, die Chancen auf eine Verfassung und über die "Kerneuropa"-Idee

profil: Der Brüsseler Gipfel ist gescheitert. Ist das das Ende des Traums von einer europäischen Verfassung?

Jean-Claude Juncker: Die europäische Verfassung ist kein Traum, sondern eine Notwendigkeit. Die EU steckt auch nicht in einer Krise, sondern in einer kritischen Situation. Wir werden nach einer hoffentlich fruchtbringenden Denkpause weiter am Verfassungsentwurf arbeiten.

profil: Wann ist diese Pause zu Ende?

Jean-Claude Juncker: Vor Ende 200. Mir scheint das realistisch. Frühestens Ende des Jahres sollte, denke ich, die Verfassung stehen.

profil: Aber in der Frage der Machtverteilung sind doch die Positionen derzeit völlig fastgezurrt. Polen und Spanien zum Beispiel denken nicht daran, auf das unverhältnismäßig hohe Stimmgewicht, das man ihnen beim Gipfel von Nizza eingeräumt hat, zu verzichten. Wie kann in eine solche Situation Bewegung hineinkommen?

Jean-Claude Juncker: Jene Mitgliedsländer, die die neue Machtverreilungsregel, also das System der so genannten Doppelten Mehrheit im Rat, gerne sofort hätten, müssen jetzt überlegen, ob sie sie wirklich sofort haben müssen oder ob man die Einrührung der Doppelten Mehrheit auf 2014 verschiebt, um den neuen Mitgliedern die Möglichkeit zu geben, selbst zu testen, wie es gehen soll. Die zutreffende Lösung darf aber nicht ergebnisoffen sein, sondern es muss eindeutig festgeschrieben sein, dass 2014 die Doppelte Mehrheit in Kraft tritt.

profil: Sie bauen auf Erkenntnisprozesse.

Jean-Claude Juncker: Ja, genüsslich wird man zur Kenntnis nehmen, dass beim System der Doppelten Mehrheit bei der ersten Abstimmung jedes Land eine Stimme hat: Polen eine Stimme, Deutschland eine, Österreich eine, Luxemburg eine Stimme. Und dass erst in der zweiten Runde festgestellt wird, ob 60 Prozent der Bevölkerung damit erreicht werden. Ich finde, dass dieses System, wie es vom Konvent vorgeschlagen wird, beide Prinzipien trifft: das Prinzip der Gleichheit der Staaten und auch die demografische Dimension. Zur Doppelten Mehrheit gibt es keine gangbare Alternative.

profil: Wieso Beschlussfassung jetzt, In-Kraft-Treten aber erst 2014?

Jean-Claude Juncker: Die Polen haben vor der Volksabstimmung zum Beitritt stark mit der Stimmengewichrung von Nizza argumentiert:. Da muss man Verständnis dafür haben, dass man die nicht sofort beim polnischen EU-Beitritt ändern kann. Wir müssen einen Weg suchen, der es ermöglichen soll, dass beide Standpunkte zusammengeführt werden. Wer sich bemüht, im Endeffekt das zu erreichen, was einem der gesunde Menschenverstand ins Logbuch diktiert, der wird sich bemühen, einen Kompromiss auf der Zeitachse zu finden.

profil: Der Konvent hat nun also mehr als ein Jahr diskutiert. Es waren Vertreter der nationalen Parlamente, der Regierungen, des EU-Parlaments vertreten. Alle haben dem Text zugestimmt. Und dann kommen die Regierungen und schnüren alles wieder auf. Dabei haben die Regierungen doch weniger demokratische Legitimation als der Konvent.

Jean-Claude Juncker: In einer exzessiv naiven Betrachtung stimmt das. Weniger naiv muss gesagt werden: Der Konvent hat zwar in großer Transparenz funktioniert - mit einer bemerkenswerten Ausnahme: den instititionellen Reformen. Da bestand überhaupt nicht die Möglichkeit, kontrovers und in der nötigen Breite und Tiefe darüber zu reden. Im Konvent wurde über die institutionellen Reformen eigentlich nicht gesprochen. Nur im Präsidium.

profil: Aber der Text wurde doch vom Konvent beschlossen.

Jean-Claude Juncker: Nein, er wurde nicht beschlossen. Er wurde in einem vagen und losen Konsensgefühl nicht abgelehnt. In der Regierungskonferenz muss jede Regierung zu jedem Satz, jeder Zeile, jedem Wort Ja sagen. Im Konvent wurde niemand gefragt, zu allem Ja zu sagen. Konsens ist mehr als die Minderheit und weniger als die Mehrheit. Wo er dann genau liegt, weiß ich nicht.

profil: Also, wer ist schuld am Scheitern der Konferenz?

Jean-Claude Juncker: Ich mache keine Schuldzuweisungen, das wäre der Weiterfuhrung der Gespräche nicht zuträglich. Bei aller Würdigung der Konventsereignisse aber würdige ich jenen Teil über die insntutionellen Bereiche überhaupt nicht. Die sind unklar und undurchführbar. Und gestört hat mich, dass einige Länder gesagt haben: Konvent, Konvent und nichts als Konvent - wohl wissend, dass Teile des Textes nicht durchführbar wären -, und die anderen haben gesagt: Nizza, Nizza, nichts als Nizza, bis hin zu dieser etwas morbiden Formulierung "Nizza oder der Tod". Nizza ist den Tod nicht wert. Die sture Art, hundert Prozent Recht haben zu wollen, führt nicht zu Europa.

profil: Und trotzdem hoffen Sie, die Mitgliedsstaaten schon binnen Jahresfrist wieder kompromissfähig zu sehen?

Jean-Claude Juncker: Es gibt eine Erfahrung in dem Einigungsprozess: dass wir große europäische Fortschritte immer dann erreicht haben, wenn wir vorher bei demselben Versuch gescheitert sind. So als ob man manchmal mit dem Kopf gegen die Wand laufen müsste, um dann betäubt am Boden zu liegen, sich wieder hochzurappeln und dann - oh, Wunder - den Sprung über die Mauer zu schaffen.

profil: Wann war das so?

Jean-Claude Juncker: 1954 hat man gedacht, der europäische Gedanke ist erledigt, nachdem die französische Nationalversammlung die Europäische Gemeinschaft für Verteidigung gekippt hat. Danach haben wir die Römischen Verträge unterschrieben. Charles de Gaulle hat 1963 bis 1967 jedem, der es hören wollte, und auch jenen, die es nicht hören wollten, erklärt, dass Großbritannien nie Zugang zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft haben werde. 1969 haben die Franzosen in einem Referendum zugestimmt, dass die Briten beitreten. Als sich 1993 - ein Jahr nach Unterschreiben des Vertrags zur Schaffung einer gemeinsamen europäischen Währung - das europäische Währungssystem beinahe in seine Bestandteile auflöste, hätten nicht nur deutsche Professoren keinen Pfennig mehr auf den Euro gewettet. Jetzt ist er da.

profil: Vergangenes muss nicht für die Zukunft gelten.

Jean-Claude Juncker: Die historischen Erfahrungen, die ich beispielhaft aufgezählt habe, stimmen mich zwar nicht echt optimistisch. Ich tröste mich nur mit der Beobachtung früherer Krisen, die dann ex post eigentlich nur Episoden waren. Ich glaube, dass es diesmal auch so sein wird.

profil: War es klug, die so wichtigen Beschlüsse über die EU-Verfassung ausgerechnet unter einem Ratspräsidenten Berlusconi herbeiführen zu wollen?

Jean-Claude Juncker: Eine Präsidentschaft ist nie das Werk eines Einzelnen. Wenn eine Anzahl von Mitgliedern nicht bereit ist, sich zielorientiert um eine Lösung zu bemühen, kann auch eine andere Präsidentschaft keine Wunder wirken.

profil: Ein Silvio Berlusconi, der glaubt, mit platten Witzchen die Konferenz beleben zu können...

Jean-Claude Juncker: Witze, über die man nicht lacht, können auch nicht schädlich sein.

profil: Unmittelbar nach dem Scheitern der Konferenz sandten sechs Regierungen von Nettozahler-Ländern - darunter Deutschland, Frankreich und Österreich - einen Brief an die Kommission, in dem sie mitteilten, künftig nicht mehr als ein Prozent des Sozialprodukts für Brüssel ausgeben zu wollen. Auch Luxemburg ist Nettozahler. Warum haben Sie diesen Brief nicht unterschrieben?

Jean-Claude Juncker: Erstens gibt es noch keinen Kommissionsvorschlag über die künftigen Finanzen. Es geht doch nicht an, dass man sich auf der einen Seite dafür einsetzt, dass die Kommission das Initiativmonopol haben soll, und dass man dann der Kommission per Brief mitteilt, worauf sich ihre Ambition bei der Finanzvorausschau zu beschränken hat. Zweitens wird Luxemburg den Vorsitz im ersten Halbjahr 2005 haben. Während dieser Zeit wird über die finanzielle Vorausschau, also das Thema, um das es dabei geht, im Rat entschieden werden. Da kann sich Luxemburg nicht in ein "Lager" einsperren lassen. Und schließlich halte ich diese Festlegungen im Voraus überhaupt für kontraproduktiv.

profil: Offenbar soll der Brief den Polen und Spaniern signalisieren: Wenn ihr nicht der Verfassung zustimmt, bekommt ihr eben weniger Geld: "Wenn ihr nicht spart, gibt's eine Konfrontationsstrategie."

Jean-Claude Juncker: Das weiß ich. Bloß: Jeder, der dann einer Finanzvorausschau zustimmt, die über ein Prozent liege, wird dann Schwierigkeiten zu Hause haben, nachdem er den Brief geschrieben hat. Im Übrigen gibt es in der EU nicht zwei Gruppen: Nettozahler und Nettoempfänger. Sondern es gibt so etwas wie europäische Solidarität. Ich kann kein besonderes Verdienst darin erkennen, dass man Nettozahler ist. Man kann doch daraus keine Ansprüche ableiten, besser behandelt zu werden. Ich bin lieber ein Nettozahler wie Luxemburg als ein Nettoempfänger wie Griechenland. Viel lieber.

profil: Zu allem Überdruss mobilisieren innerhalb der Union jetzt auch noch die "Kleinen" gegen die "Großen".

Jean-Claude Juncker: Eine völlig überflüssige Debatte. Sie dient im Übrigen nur den Großen. Man kann darauf hinweisen, dass der Fortschritt der Integration sehr oft auf die Initiativen kleinerer Länder zurückgeht und dass diese häufig erfolgreiche Ratsvorsitzende darstellen. Aber: In Europa, hat es noch nie eine Abstimmuung gegeben, bei der an der einen Seite des Tisches die vier Großen saßen und gemeinsam votierten und an der anderen die Kleinen, die auch geschlossen abstimmten. Noch nie. Ich sage immer: Es gibt bloß zwei Große in der EU - das sind Großbritannien und das Großherzogtum Luxemburg.

profil: Immer lauter wird seit dem Scheitern des Gipfels von Brüssel die Diskussion über die Idee eines Kerneuropa. Eines Kernes von Staaten, die bei der Integration schneller vorwärtsschreiten, als es andere wollen oder können.

Jean-Claude Juncker: Kerneuropa kann kein Ziel Europas sein. Man darf nicht den Eindruck erwecken, als hätte man partout gerne ein Kerneuropa. Das wird gegebenenfalls dann kommen, wenn man feststellt, dass die Wege tatsächlich auseinander gehen. Dann wird man daraus Konsequenzen ziehen müssen. Ich war dagegen, dass wir am Schluss des Gipfels von Brüssel eine Erklärung von einigen in Richtung Kerneuropa verabschieden. Diese Konsequenz zu ziehen, ist es zu früh. Wir tun außerdem immer so, als hätte die Geschichte mit uns begonnen. Das Steigere das Selbstwertgefühl, ist aber nicht so. Über ein "Europa der variablen Geometrie", der "zwei Geschwindigkeiten" hat man sich ja schon in den sechziger und siebziger Jahren den Mund fusslig geredet.

profil: Jetzt, angesichts des künftigen Europa der 25, scheine die Idee aber doch tatsächlich aktueller und plausibler zu sein.

Jean-Claude Juncker: Mag sein, dass Kerneuropa eines Tages - der Tag ist noch nicht gekommen - die einzige Alternative sein wird. Aber Kerneuropa ist beileibe nicht die Antwort auf alle Fragen. Es ist auch naiv zu glauben, die sechs Gründerstaaten der EU hätten in wesentlichen Punkten keine Differenzen. Das hat ja auch die Debatte im Konvent gezeigt.

profil: Zum Europa der 25 gehören Länder, die erst kürzlich ihre volle Souveränität errungen haben. Die wollen natürlich nicht gleich wieder Souveränitäten an Brüssel abgeben - ein Tatbestand, der den Übergang zu einer Union verschiedener Geschwindigkeiten nahe legen könnte.

Jean-Claude Juncker: Das stimmt. Und dann wiederum nicht. Man darf nicht vergessen, dass sofort nach dem Fall der Mauer, sofort nachdem diese Nationen sich neu aufgestellt haben, alle sofort gesagt haben: Wir wollen Mitglieder der EU werden. Das zeigt doch, dass der Integrationsgedanke unwahrscheinlich erfolgreich und ansteckend war. Polen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, um nur einige Länder zu nennen, die es in der Form vor fünfzehn Jahren noch überhaupt nicht gab - die hätten ja auch sagen können: Jetzt toben wir unsere Souveränität mal voll aus. Nein, das haben sie nicht getan. Jetzt stecken sie in der Phase des sehr rigorosen Überprüfens dessen, was man wirklich an Souveränitätsrechten übertragen muss.

profil: Was soll man sich unter Kerneuropa übrigens konkret vorstellen? Wie soll das aussehen?

Jean-Claude Juncker: Ich weigere mich seit Tagen, diese Frage zu beantworten. Wenn wir jetzt den Eindruck vermitteln, als hätten wir uns im Detail schon ausgemacht, wie es aussehen könnte, dann sieht das so aus, als ob wir ohnehin entschlossen wären, uns in diese Richtung auf den Weg zu machen. Wenn es tatsächlich dazu kommen sollte, dann darf Kerneuropa jedenfalls nie als ein geschlossener Klub betrachtet werden. Dann muss man sich so bewegen, dass auch andere Mitgliedstaaten Lust auf Kerneuropa bekommen. Und es sollte nicht nur die sechs Gründungsmitglieder umschließen. Ich habe mit den Tschechen und mit den Ungarn am Rande des Gipfels sehr intensiv über diese Idee debattiert. Die sehen das auch, dass sie zu Kerneuropa gehören möchten. Ich kann mir auch schwer vorstellen, dass Österreich abseits bleiben will.

profil: Österreich ist aber neutral.

Jean-Claude Juncker: Das ist für mich kein Hinderungsgrund.

profil: Auch wenn Wien keine Beistandsverpflichtung eingehen will?

Jean-Claude Juncker: Ich habe bei all meiner bekannten Österreich-Freundlichkeit nie verstanden, wie man eine solche Debatte führen kann. Man muss das offenbar aus der innerösterreichischen Befindlichkeit heraus verstehen. Aber wenn Österreich angegriffen wird, werden alle Mitglieder der EU euch zu Hilfe eilen - gleich, ob eine Solidaritäts- und Beistandsklausel im Vertrag steht oder nicht. Es sei denn, Österreich möchte, weil es neutral ist, nicht verteidigt werden.

profil: Und ist ein Kerneuropa ohne die Briten vorstellbar?

Jean-Claude Juncker: Wir haben schnell gemerkt, dass wir in Sachen Verteidigung ohne Großbritannien nicht weiterkommen. Der Vorstellung, das Projekt Kerneuropa erfolgreich zu betreiben, ohne dass die Briten an Bord wären, hänge ich nicht an. Sie sehen: Kerneuropa wäre keine einfache Veranstaltung. Vor allem muss man sich das alles sehr gut überlegen, denn wenn dann Kerneuropa scheitern sollte - das wäre eine wirkliche Katastrophe.

profil: Ist es vorstellbar, dass es zu verschiedenen Kernen kommt, dass in verschiedenen Politikbereichen verschiedene Kerneuropas entstehen?

Jean-Claude Juncker: Das halte ich für denkbar, aber eigentlich nicht für zielführend. Es kann nicht den Währungskern geben, den wir ja schon haben, dann unterschiedlich davon einen Verteidigungskern, einen Justitzkern und so weiter - das wäre ein allzu kerniges Europa. Man muss einen kompakten Kern haben, sonst wird das ein disloziertes, nicht erkennbares Gebilde.

profil: Für das Scheitern des Brüsseler Gipfels gibt es auch verschwörungstheoretische Erklärungsversuche, dass es nicht zufällig sei, dass die Polen und die Spanier, die so hartnäckig Nein zum Verfassungstext gesagt haben, im Irak-Krieg auf der Seite von George W. Bush standen. Und dass die Amerikaner im Hintergrund beim Gipfel mitgespielt hätten. Ist da etwas dran?

Jean-Claude Juncker: Es hat in Sachen europäische Verteidigung ohne Zweifel amerikanische Störversuche gegeben. Da wurden aber die Differenzen in den vergangenen Wochen weit gehend ausgeräumt. Nein, ich glaube nicht, dass es einen direkten Versuch der Amerikaner gegeben hat, das Zustandekommen der Verfassung zu sabotieren. Sie haben ein eminentes Interesse an Stabilität in Europa. Und wenn sich der europäische Kontinent so zusammenschließt, wie er dies nach der Verfassungsgebung hätte nun können, dann würde sich das eher als Aufgabenentlastung für die USA niederschlagen.

profil: Und Sie glauben wirklich, dass die jetzige US-Regierung das auch so sieht?

Jean-Claude Juncker: Ich weiß nicht, wie zugänglich sie der von mir erwähnten Einsicht ist.

profil: Und noch ein weiteres Thema wird manchmal ursächlich mit dein Scheitern von Brüssel in Verbindung gebracht: der Sreit um den Stabilitätspakt. Es wird gesagt, die Widerstände, die sich jetzt in Brüssel bei den Erweiterungskandidaten gezeigt haben, seien auch darauf zurückzuführen, dass diese Länder gesehen haben, wie sich die alten EU-Mitglieder nicht um die Einhaltung von Verträgen scheren. Deshalb hätten sich jetzt etwa die Polen gesagt: Warum sollen wir päpstlicher sein als der Papst - sprich "braver" als Deutschland und Frankreich? Stimmt das?

Jean-Claude Juncker: Ich wage die Behauptung, dass viele, die darüber reden und schreiben, den Stabilitätspakt nicht gelesen haben.

profil: Wir haben.

Jean-Claude Juncker: Okay. Ich aber gehöre zu jenen, die ihn geschrieben haben. Deshalb weiß ich, dass es keine Automatik gibt, die die Ratsmitglieder verpflichtet, bei Vorliegen bestimmter Budgetdaten und nach Vorliegen einer Kommissionsempfehlung bestimmte Sanktionsschritte gegen ein Mitglied einzuleiten. Wer den Pakt anders interpretieren möchte, der kennt den Pakt nicht. Und wer es heute darauf anlegt, um den Stabilitätspakt herum eine Schlacht zwischen Kleinen und Großen zu organisieren, der hat andere Absichten als stabilitätspolitische. Ich jedenfalls habe im vorliegenden Fall vor wenigen Wochen gegen die Kominission votiert.

profil: Hatten also die Kommission, die Sanktionen gegen Deutschland und Frankreich empfahl, und mit ihr die Staaten, die - wie Österreich - den Kommissions-Standpunkt unterstützt haben, unrecht?

Jean-Claude Juncker: Niemand hat die Interpretationshoheit über den Stabilitätspakt. Auch nicht die Kommission und auch nicht jene Mitgliedsstaaten, die - ohne auch nur ein bisschen dem zuzuhören, was Franzosen und Deutsche gesagt haben - nach Sanktionen riefen. Es ist nicht so, dass die Stabilitätsapostel nur in den Ländern angesiedelt wären, die Deutschland und Frankreich öffentlich den Prozess gemacht haben. Siehe das stabilitätsorientierte Luxemburg. Faktum ist jedenfalls, dass sich Franzosen und Deutsche im Vorfeld der entscheidenden Sitzung zu genau dem verpflichtet haben, wozu der Rat sie auf Grundlage einer Empfehlung der Kommission aufgefordert hat. Man soll da keine Legenden bilden. Ich würde - falls diese Legendenbildung anhält - glatt von meiner Absicht Abstand nehmen, erst dann meine Memoiren zu schreiben, wenn keiner mehr weiß, dass es mich gegeben hat. Ich würde dann sofort zur Feder greifen und das richtig stellen.

profil: Soll der Stabilitätspakt so bleiben?

Jean-Claude Juncker: Dass man über eine Reform des Stabilitätspakts wird reden müssen, steht außer Frage. Es gibt Dinge in diesem Pakt, wo der gesunde Menschenverstand laut aufschreit, wenn er sie sieht. Er muss reformiert werden. Aber erst dann, wenn ihn wieder alle Mitglieder in vollem Umfang erfüllen und respektieren.

profil: Zuletzt eine persönliche Frage: Sie sind derzeit heftig im Gespräch, der nächste Kommissionspräsident der Europäischen Union zu werden. Wie stehe es aus Ihrer Sicht mit der Prodi-Nachfolge?

Jean-Claude Juncker: Ich habe Wahlen am 13. Juni 2004, und ich habe den Luxemburgern gesagt, wenn sie mich nicht abwählen, bleibe ich Premierminister. Sollten die Luxemburger aber eine derartige Unvernunft entwickeln, dass sie mich abwählen - ja dann bin ich ein freier Mann.

profil: Ihre Fans in der EU müssen demnach auf die Unvernunft der Luxemburger hoffen?

Jean-Claude Juncker: Wenn es irgendwo ein Land gibt, in dem der gesunde Menschenverstand zum permanenten politischen Programm geworden ist, dann Luxemburg.