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"Sie belügen die Bevölkerung". Jean-Claude Juncker au sujet l'actualité politique en Autriche et du Herbert-Batliner-Europapreis für Verdienste um den Kleinstaat
Kurier: Herr Ministerpräsident, zählen Sie noch Ihre Preise?
Jean-Claude Juncker: Nein. Ich lehne mehr Preise ab, als ich annehme. Ich mag diesen Preis, weil ich Österreich mag. Das habe ich auch in schwierigen Zeiten (EU-Sanktionen, Anm.) nicht versteckt. Als Spezialist kleiner Räume freue ich mich, dass man zur Kenntnis nimmt, dass auch kleinere Staaten Einfluss nehmen können, wenn sie sich artikulieren. Aus der Betrachtung der wirklich Großen sind auch Deutschland und Frankreich klein. Sie hätten kaum Außenwirkung, wären sie nicht in der EU.
Kurier: Wie läuft das europäische Krisenmanagement bezüglich Irland?
Jean-Claude Juncker: Bei Irland müssen wir den Sender auf Empfang stellen. Im besten Fall sehen wir im Dezember klarer. Zu welchen Bedingungen Irland noch einmal abstimmen könnte, muss der französische Ratsvorsitz klären. Mein Realitätssinn sagt mir, dass der Lissabon-Vertrag bei der EU-Wahl Mitte 2009 noch nicht gilt. Ich fürchte, dass das irische Volk ein zweite Abstimmung im Frühjahr als Überrumpelungs-Manöver verstehen könnte.
Kurier: Was kann man Irland anbieten?
Jean-Claude Juncker: Einen einvernehmlichen Beschluss des Europäischen Rates, dass nicht an der Neutralität und den Abtreibungs- und Steuergesetzen Irlands gerüttelt wird. Alle Bedenken, die zum Nein-Votum geführt haben, werden im Lissabon-Vertrag beantwortet. Mit einer Zusatz-Erklärung muss man den Vertrag den Iren verständlich machen.
Kurier: Keine Neuverhandlungen?
Jean-Claude Juncker: Davor kann ich nur warnen. Das löst eine neue Ratifikationswelle aus. Das würde schiefgehen.
Kurier: Was kann die EU gegen die hohen Lebens- und Energiepreise tun?
Jean-Claude Juncker: Die Preise steigen weltweit, das ist kein europäisches Phänomen. Wenn der Euro ein Teuro wäre, wie in Österreich propagiert, würde ein Liter Benzin in Österreich 80 Cent mehr kosten. Wieso Österreichs Politik es nicht schafft, den Menschen zu erklären, dass Treibstoff ohne Euro noch teurer wäre, weiß ich nicht. In der Euro-Gruppe fordern wir, dass man die gute Konjunktur zum Sparen nützen muss. Staaten mit Haushalts-Margen können jetzt Einkommensschwachen helfen. Wenn wir Staaten in eine Subventionierungspolitik drängen, wäre die Budgetkonsolidierung erschwert.
Kurier: Ist das alles, was die EU bietet?
Jean-Claude Juncker: Wir müssen unseren Einfluss international geltend machen und auf Transparenz der Märkte drängen. Reserven sollen offengelegt werden, um Spekulationen zu verhindern. Geplant ist eine Spekulationssteuer, die Ärmeren hilft. Die EU redet mit der G 7 und mit Öl-Ländern. Der billige Dollar erhöht die Preise. Wir müssen unser währungspolitisches Verhältnis mit den USA neu regeln. Dafür brauchen wir mehr, nicht weniger Europa.
Kurier: Ohne Lissabon gibt es keine Erweiterung, sagen Sarkozy, Merkel und Sie. Kroatien kann trotzdem beitreten, sagt Österreichs Regierung.
Jean-Claude Juncker: Österreich hat am stärksten die Erweiterung betrieben. Ich stelle jetzt betrübt fest, dass Österreicher diejenigen sind, die die Erweiterung am wenigsten schnell verdaut haben, obwohl sie die größten Gewinner sind. Erst die Erweiterung hartnäckig durchsetzen und dann teilweise Abschied von europäischen Zukunftsambitionen nehmen, das passt nicht zusammen.
Kurier: Das heißt, Österreich erklärt nicht den Nutzen der Erweiterung.
Jean-Claude Juncker: Das ist eine Art, die der österreichischen Europa-Politik nicht gut zu Gesichte steht und im Begriffe ist, Österreichs Einfluss in der EU signifikant zu mindern. Es hat ja auch Probleme im Grenzbereich nicht in dem Umfang gegeben, wie befürchtet.
Kurier: Wie steht es mit Kroatien?
Jean-Claude Juncker: Ein Freund Kroatiens zu sein, ist kein österreichisches Spezifikum. Wenn es den Lissa bon-Vertrag nicht gibt, gibt es keine Erweiterung, auch nicht um Kroatien. Jene, die dem Westbalkan permanent und penetrant europäische Perspektiven versprechen und sich nicht mit 150 Prozent für den Lissabon-Vertrag einsetzen, belügen die Bevölkerung des Westbalkans und die eigene. Wenn Österreich die Beitritte ernst nimmt, muss es alles tun, um Prag vom Lissabon-Vertrag zu überzeugen. Österreich will doch die Brücke zu Osteuropa sein.
Kurier: Wollen Sie erster EU-Ratspräsident werden?
Jean-Claude Juncker: Diese Frage stellt sich in den nächsten 18 Monaten nicht. Zuerst muss der Vertrag ratifiziert werden. Ich mache es davon abhängig, welche Kompetenzen das Amt hat. Im Juni 2009 werde ich für das luxemburgische Parlament kandidieren.
Kurier: Was sagen Sie zum EU-Schwenk der SPÖ?
Jean-Claude Juncker: Ich würde gerne erfahren, ob die SPÖ-Initiative rein innenpolitisch gelenkt ist oder eine tiefere Bedeutung hat. Prinzipiell gilt, dass man via Volksbefragung verifizieren kann, ob der Kurs vom Volk geteilt wird oder nicht. Luxemburg hat nach dem französischen und niederländischen Nein ein Referendum über die EU-Verfassung abgehalten. Die Mehrheit war dafür. Wir haben eine parlamentarisch verfasste Demokratie, deswegen bin ich kein allzu großer Anhänger von Volksabstimmungen.
Kurier: Ex-Vizekanzler Erhard Busek hat ein Referendum über Verbleib oder EU-Austritt angedacht.
Jean-Claude Juncker: Ob Österreich lieber in der EU bleibt und kompromissbereit sein will, oder ob es lieber ein Selbstinszenierungs-Szenario auf Kosten anderer und auf eigene Kosten bevorzugt, diese Frage besteht.
Kurier: Soll das Volk über Verbleib oder Austritt entscheiden?
Jean-Claude Juncker: Man muss sich eines vor Augen halten: 1900 hatte Europa 20 Prozent der Erdbevölkerung, jetzt sind es elf Prozent, 2050 werden es neun Prozent und 2100 nur vier Prozent sein. Die Geschichte Europas und der Welt wird von Demografie und Geografie bestimmt. Sollen wir uns vor diesem Hintergrund die Frage stellen, ob wir wieder auseinanderfallen? Wer Demografie und geostrategische Zwänge des Kontinents kennt, weiß, dass das einzig zukunftsbestimmende Prinzip das des Zusammenschlusses ist. Wir werden nicht die Vereinigten Staaten von Europa. Ich bin strikt dagegen, weil die Menschen den direkten Bezug zur Heimat brauchen. Ich bekämpfe aber ebenso das Konzept der Nationalstaaten, das allein zwischen Frankreich und Deutschland zahlreiche Kriege verursacht hat. Wenn man eine gemeinsame europäische Zukunft will, muss man Kompromisse finden. Wer das nicht kann, ist nicht europafähig.
Kurier: Kann es eine Sozialunion geben?
Jean-Claude Juncker: Nicht im Sinne, dass Sozialsysteme harmonisiert werden. Wer im Zuge des Binnenmarktes und der Währungsunion alle Handelsbarrieren weggeräumt hat, ohne soziale Mindestnormen zu schaffen, verkennt die eigentliche europäische Zukunftsfrage. Das Arbeitsrecht ist noch sehr unterschiedlich. Wir brauchen einen europäischen Mindestlohn, dessen Höhe jedes Land selbst regelt. Wir brauchen Mindestnormen beim Kündigungsschutz, bei der Arbeitszeit und unbefristeten Arbeitsverhältnissen. Wir brauchen ein Mindestmaß an Arbeitnehmer-Rechten. Hier bleibt der Lissabon-Vertrag Antworten schuldig.