Rede von Jean-Claude Juncker, Premierminister, am 10. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung

„Europas politische Zukunftsaufgaben“

„Europas politische Zukunftsaufgaben“

Die deutsche Wiedervereinigung und die Überwindung der Teilung Europas haben für jeden von uns die Welt verändert. Man kann jetzt selbstverständlich Dinge tun, die vor mehr als zehn Jahren noch völlig unvorstellbar waren. Zum Beispiel fliegt man nach Prag und geht frei durch diese europäische Stadt. Dass man nach Prag fliegen kann ohne den Eindruck zu haben, eine Weltreise anzutreten, dass man in Berlin landet ohne den Eindruck zu haben interkontinentale Distanzen zurückzulegen und zu wissen, dass man sich überall wohlfühlt, weil wir überall in Europa sind - in Berlin der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands und in Prag - ist etwas noch immer historisch Bewegendes.

Historischer Wendepunkt und europäische Werte

Diejenigen, die das Ende der Geschichte herbeigeschrieben haben, haben an dieser historischen Wende nicht mitgearbeitet. Es waren andere, die Geschichte gemacht haben. Diese historische Wende hat wesentlich mit der europäischen Union und der europäischen Integrationsidee zu tun. Dass dies so gekommen ist, ist nicht etwa das Verdienst meiner Generation, sondern das Verdienst der Vorgängergeneration.

Es ist die Nachkriegsgeneration gewesen, die aus den Konzentrationslagern und von den Frontverläufen überall in Europa zurückkehrte. Mein Vater musste als deutscher Soldat im Zweiten Weltkrieg dienen, weil luxemburgische Männer in die Wehrmacht eingezogen wurden. Dass diese Generation nach dem Krieg 1945 als die Schlachtfelder noch im Rauch standen, die Entscheidung traf, nie wieder einen Krieg in Europa zuzulassen, davon leben wir noch heute. Deshalb ist das Verdienst an dem was wir heute erreicht haben nicht etwa das Verdienst meiner Generation, sondern das Verdienst derer, die nach dem Krieg dafür gesorgt haben, dass wir heute so unbeschwert leben können. Mein Dank ist deshalb auch ein Dank an die Nachkriegsgeneration in Deutschland, in Luxemburg und überall in Europa.

Wenn diese Generation sich 1945 so beklagt hätte, wie wir dies heute manchmal tun, wenn diese Generation so viele Briefe geschrieben hätte, wie dies heute teilweise getan wird, wenn die Trümmerfrauen in Berlin auf Genehmigungen gewartet hätten, bevor sie sich die Hände schmutzig machten, dann würden Berlin und Europa heute noch in Schutt und Asche liegen. Wir sollten uns ein Beispiel nehmen an dieser Generation. Weil unserer Generation vieles gegeben wurde, sollten wir uns auch untereinander darauf verständigen, dass wir einiges zurückgeben sollten. Deshalb müssen Ausführungen zur deutschen Wiedervereinigung, die einen europäischen Bezug haben sollen, immer auch von der historischen Vergangenheit ausgehen.

Die Vergangenheitsblindheit ist in Europa bereits eine moderne Betriebsblindheit geworden. Man will sich nicht mehr an das erinnern was war, weil man keine Lust und keine Kraft hat sich dies vorstellen zu können. Wenn man über europäische Zukunftsaufgaben redet, muss man die Menschen mitnehmen auf eine Reise, die in das Herz der Wiederbesinnung auf die guten alten europäischen Werte führt: Eine Rückbesinnung auf die Finalität des europäischen Einigungsgedankens.

Auch wenn dies nicht immer mit dem Zeitgeist kompatibel ist, bleibt für mich das europäische Projekt in erster Linie ein Friedensprojekt. Wer denkt, dass man Frieden und Freiheit das Wort nicht mehr zu reden brauchte, der hat von Europa nichts verstanden. Wer denkt, dass die alten Dämonen endgültig vertrieben seien, die Europa so oft im vergangenen Jahrhundert unglücklich gemacht haben, dass die Verwerfungen und Zerwürfnisse des europäischen Kontinentes der Vergangenheit angehören, der hat vom europäischen Drama nichts verstanden.

Deshalb müssen wir uns als aktive Verwalter des europäischen Erbes betrachten, des Erbes der europäischen Gründungsväter. Sie wollten ein wasserdichtes, schlüsselfertiges Programm gegen den Krieg entwickeln. Bei diesem Ziel bleibt es, denn der Frieden ist keine Selbstverständlichkeit. Nur naive und oberflächliche Betrachter denken, der Frieden wäre uns geschenkt. Für den Frieden muss man jeden Tag kämpfen und deshalb muss man auch jeden Tag radikal für Europa einzutreten wissen. Die erste Zukunftsaufgabe lautet daher Rückbesinnung auf die alten Werte.

Globalisierung und Euro

Wir leben im Zeitalter der Globalisierung. Ich verkenne dabei nicht die negativen Begleitumstände einer nicht gemeisterten, einer hemmungslosen Globalisierung. Wir müssen aber auch die positiven Aspekte der Globalisierung erkennen. Die Globalisierung bringt vielen Menschen Wohlstand und denen, die überhaupt keine Hoffnung mehr hatten, einen Lichtschimmer. Wir leben im Zeitalter der Globalisierung und Europa muss eine Antwort auf diese Globalisierung formulieren. Eine Antwort haben wir schon gegeben: Der Euro ist die europäische Antwort auf die Globalisierung. Wer dies nicht merkt, der geht im finsteren Provinzdenken vergangener Jahrhunderte unter. Es gibt keine schlüssigere Antwort auf die Globalisierung als den Euro.

Wir müssen diesen Euro aktiv gestalten und lernen, dass wir gemeinsame Verantwortung für unser gemeinsames Geld tragen. Wir dürfen nicht weiter zulassen, dass jede Regierung mal nach links, mal nach rechts ausschert und eigene Wege geht. Gemeinsame Verantwortung für gemeinsames Geld heißt auch gemeinsame Politik, dort wo sie notwendig ist. Das bedeutet, wir müssen die Wirtschaftspolitik koordinieren, ohne die Nationalstaaten auszuschalten. Man muss die Nationalstaaten dazu zwingen, gemeinsame Verantwortung auch gemeinsam zu tragen. Europa ist dann ein Anker der Stabilität in der Welt.

Wir haben Erstaunliches im 20. Jahrhundert erlebt. Dies gilt auch für die Stabilität und ihre Gefährdung. In dem Moment, wo wir das Jahrhundert als ein globalisiertes Jahrhundert zu Ende gehen sehen, kommt es anderenorts zur Zerstückelung. Vor dem Ersten Weltkrieg hat es 35 souveräne Staaten weltweit gegeben. Wir haben am Ende des 20. Jahrhunderts 192 souveräne Staaten. Europa hat einen gewaltigen Zersplitterungsbeitrag im positiven und negativen Sinne aufzuweisen. Wenn wir nicht jetzt, wo vieles auseinander zudriften droht, uns darauf besinnen, dass wir Europa als stabilitätsstiftenden Ruhepol weiter ausgestalten müssen, dann haben wir von dem aktuellen Auftrag der Zeitgeschichte nichts verstanden.

Erweiterung der Europäischen Union

Wir müssen Stabilität schaffen. Wenn wir in unserem Inneren zur Instabilität abgleiten, dann wird die Instabilität um uns herum noch größer werden. Europa leistet seine zeitgeschichtliche Aufgabe erst dann, wenn es im Inneren geschlossen bleibt und einen friedens-, ruhe- und stabilitätsstiftenden Pol nach außen hin für andere schaffen wird. Deshalb muss man die Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa vorantreiben. Wir sollten die Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa als einen Beitrag begreifen, den wir leisten können und müssen für die Stabilität in Europa und weit über Europa hinaus.

Ich bin gegen eine Erweiterung der Europäischen Union im Schnellverfahren. Man sollte diese Dinge nicht überstürzen. Was man nicht mit kluger und ruhiger Hand vorbereitet, das wird man nachher nur mit Gewalt zurechtbiegen können. Ich bin für zügige, aber nicht für überstürzte Verhandlungen. Ich bin auch gegen diese Big-Bang-Lösungen, die einige in der Union anpreisen. Ich halte die Erweiterung so nicht für gestaltbar.

Wir hatten uns in der EU anlässlich eines Europäischen Rates in Luxemburg im Dezember 1997 darauf verständigt, dass jedes Land als Beitrittskandidat auf seine eigenen Fortschritte hin beurteilt werden sollte. Wenn ein Land die Transformationsfortschritte erfolgreich zu Ende geführt hat, dann soll dieses Land auch Mitglied der Europäischen Union werden. Dies gilt auch wenn andere noch nicht so weit sind. Dies heißt aber nicht, andere abzuhängen, sondern zur Kenntnis nehmen, wenn es eine Nation mit Erfolg geschafft hat sich beitrittsfähig an den Pforten der Europäischen Union zu präsentieren. Ich bin deshalb dafür, dass man sich an die getroffenen Abmachungen hält, ohne dauernd zu versuchen diese Abmachungen in Frage zu stellen.

Die Art und Weise, wie einige im westlichen Teil Europas auf der Sonnenseite des Lebens über die Menschen in Ost- und Mitteleuropa reden, halte ich für falsch. Wir haben über Jahre auf Parteitagen und anderen Veranstaltungen unsere Sonntagsrhetorik in die ganze Welt hinausposaunt und unseren Brüdern und Schwestern im östlichen und mittleren Teil Europas zugewunken. Jetzt, wo sie zaghaft an unsere Tür klopfen, sagen wir: So war das nicht gemeint! Das ist eigentlich gemein. Die Menschen in Ost- und Mitteleuropa haben sich ihre Freiheit selbst bitter erkämpft und ihr Verdienst ist wesentlich größer als unsere rhetorischen Beiträge. Wir dürfen diese Menschen nicht im Stich lassen.

Gemeinsame europäische Außenpolitik

Hinsichtlich der Stabilität Europas ist in erster Linie die Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik von Bedeutung. Wer Europa in die Lage versetzen möchte mit einer Stimme zu reden, muss dafür Sorge tragen, dass wir in Sachen gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu einer anderen Umgangsform kommen. Ich halte mich als luxemburgischer Ministerpräsident regelmäßig zurück, wenn es um die gemeinsame Verteidigungspolitik geht. Vor allem aufgrund der betrüblichen Erfahrung, die ich regelmäßig gemacht habe. Ich weiß sehr wohl, dass geostrategische Erkenntnisse aus luxemburgischer Perspektive formuliert, wenig glaubwürdig sind.

Dass wir in Sachen europäische Sicherheit, europäische Verteidigungs- und Außenpolitik zu mehr Gemeinsamkeiten kommen müssen, dass wir uns dort dezidierter als bisher auf unsere europäische Verantwortung besinnen müssen und eine gemeinsame Politik formulieren und ausführen, ist unerlässlich. Das was für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik gilt, gilt auch für die europäische Entwicklungshilfe.

Ich finde es einen schlimmen Vorgang, dass auch viele Länder der Europäischen Union, in den letzten Jahren ihre entwicklungspolitischen Beiträge reduziert haben. Ich würde das weniger laut sagen, wenn mein Land sich nicht genau auf dem gegenteiligen Kurs befinden würde. Luxemburg hat die Entwicklungshilfe auf 0,76 Prozent des Bruttoinlandsproduktes angehoben. Dieser Prozentsatz ist für ein reiches Land im übrigen nicht erwähnenswert. Wer weiß, wie viele Menschen mit sehnsüchtigen Augen weltweit auf diese Europäische Union blicken, der weiß auch, dass wir uns unserer Verantwortung nicht entziehen dürfen.

Es mag sein, dass die Vereinigten Staaten von Amerika nur 0,26 Prozent Entwicklungshilfe leisten. Dies sollte für die Europäer ein Grund mehr sein, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Ich glaube es gehört mit zum europäischen Auftrag und zum christdemokratischen Europabild, dass wir diese Europäische Union nicht nur als ein egoistisches Konstrukt für uns selbst begreifen, sondern als ein Angebot an die Welt. Nicht als ein Kommandounternehmen gegen andere in der Welt, sondern als ein Angebot, die Dinge anders zu machen als sie bisher gemacht worden sind.

Die internationale Wirtschaftsordnung bleibt fundamental ungerecht und die Europäer haben einen großen Beitrag dazu zu leisten, damit die Dinge gerechter und für die Menschen einfacher werden. Deshalb ist Entwicklungshilfe auch ein europäisches Projekt. Die Europäische Union sollte als Vorbild in dieser Frage für die ganze Welt dienen. Deshalb müssen wir in Europa dafür sorgen, dass die Beiträge die wir für den Rest der Welt zu leisten im Stande sind, auch unseren Ambitionen für uns selbst entsprechen. Deshalb ist diese Außenwirkung der Europäischen Union etwas, das sehr wohl auch sinnstiftend nach innen wirken kann. Wir müssen Europa so gestalten, dass die Europäer wieder stolz auf Europa sein können. Stolz ist man auf sich selbst nur dann, wenn man auch für andere etwas bewirken kann. Darüber sollten wir uns in Europa, wenn wir über Zukunftsaufgaben reden, bewusst werden.

Die „Großen“ und die „Kleinen“

Wenn wir über die europäische Zukunft reden, sollten wir nicht einfach die alten Erfolgsrezepte wegwerfen. So wollen dies jetzt einige tun, die in der europäischen Politik auftauchen und die schon immer alles besser gewusst haben. Diese Personen haben sich jedoch nie zu politischen Fragen konkret geäußert, stellen aber jetzt die althergebrachten Methoden in Frage. Zum Beispiel die Monnet-Methode. Ich bin zwar der Meinung, dass die Monnet-Methode ihre Grenzen hat. Man kann nicht immer nur improvisieren. Aber wer denkt, die Monnet-Methode wäre die permanente Improvisation gewesen, der irrt sich. Deshalb sollte man diese Methode nicht so schnell über Bord werfen.

Genauso sollte man auf die fundamentalen Gleichwichte in der Europäischen Union achten. Dieses Thema wird mir immer wieder aufgezwungen. Als Ministerpräsident eines kleinen Landes muss ich mich mit dem Thema große und kleine Staaten innerhalb der Europäischen Union beschäftigen. Wir erleben jetzt eine aberwitzige Debatte, in der die Großen etwas sagen, ohne dass sie sich darüber verständigt haben, wer zum Kreise der Großen gehört. Ich bin sicher, dass das schief geht. Es gehört zu den Spezifika der Europäischen Union, dass große und kleine Länder in gleicher Würde und mit annähernd gleichen Rechten am europäischen Tisch zusammensitzen und über die europäischen Zukunftsfragen entscheiden.

Seit ich denken kann, weiß ich, dass Luxemburg ein kleines Land ist. Mir braucht nicht jeden Tag jemand in Paris, in Rom, in London oder in Berlin zu sagen, dass Luxemburg ein kleines Land ist. Diese Tatsache ist bekannt. Diesen pausenlosen geodemographischen Unterricht verbiete ich mir. Ich weiß sehr wohl, dass im Europäischen Rat dem Wort des deutschen Bundeskanzlers oder des französischen Staatspräsidenten eine höhere Bedeutung zukommt, als wenn der Vertreter eines kleinen Landes etwas sagt. Ich möchte aber auch gerne anfügen, dass sowohl der eine als auch der andere manchmal sehr froh waren, wenn der Vertreter eines kleinen Mitgliedsstaates Differenzen zwischen den Großen überbrücken konnte. Die Luxemburger müssen eben schon aus Eigeninteresse wissen, was die deutsche Befindlichkeit in vielen Lebensfragen und Lebenslagen ist, und wie die Franzosen zu eben diesen Themen denken. Die kleinen Staaten haben also auch hier eine wichtige Funktion.

Ich bin seit Ende 1982 Mitglied des Europäischen Ministerrates. Ich kann mich nicht an eine einzige Abstimmung erinnern, bei der die vier Großen gemeinsam gestimmt hätten und die kleinen Mitgliedsstaaten in eine andere Richtung votiert hätten. Wäre es so gewesen, dass die Großen immer einer Meinung gewesen wären, dann wären die Kleinen mit den Großen wesentlich weiter im Punkt europäische Integration als dies heute der Fall ist. Aber die Vorstellung, wir würden mit dem Gewicht der Kleinen die vier Großen an dauerhaften Fortschritten in die europäische Zukunft hindern, entspricht einer politischen Phantasie, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.

Es war immer so, dass die Kleinen und die Großen, wenn es um wichtige europäische Fragen ging, an einem Strang gezogen haben. Deshalb sollte man dieses stupide Gegeneinander von Großen und Kleinen nicht organisieren. Es ist nicht im Interesse der Großen, die Kleinen noch kleiner zu machen als sie sind. Es ist im institutionellen Leben Europas so, wie in der Tierkunde auch: Ein Floh kann einen Löwen zum Wahnsinn treiben. Es ist aber kein Beispiel überliefert, dass ein Löwe einen Floh zum Wahnsinn getrieben hat. Insofern sollte man sich um das richtige Gleichgewicht zwischen Großen und Kleinen bemühen.

Erweiterung und Vertiefung

Die Aufgaben, die sich aus dieser europäischen Zukunftsgestaltung ergeben bedeuten auch, keine Verwässerung des europäischen Projektes zuzulassen. Wenn wir jetzt über die europäische Erweiterung nach Ost-, Mittel- und Südeuropa reden, dann muss man nicht nur auf das Gelingen der institutionellen Reformen achten, sondern auch darauf, dass das Projekt nicht verwässert wird. Erweiterung und Vertiefung ist kein Gegensatz, sondern beides geht zusammen.

Wer denkt, jetzt wäre die Zeit gekommen, dass dieses Europa, das sich auf dem Wege zu einer politischen Union befindet, sich rückentwickelt in eine gehobene Freihandelszone, der hat nicht gemerkt, dass für einen komplizierten Kontinent wie Europa simple Antworten normalerweise mit Nationalismus und mit Krieg verbunden sind. Eine Freihandelszone ist ein zu simples Konzept für einen komplizierten Kontinent wie Europa. Wenn wir die Arbeit der institutionellen Vertiefung erledigt haben - Stimmengewichtung im Rat, Kommissionszusammenarbeit usw. -, sollten wir uns mit dem Thema Flexibilität und verstärkte Zusammenarbeit beschäftigen. Wenn wir morgen vor riesigen Problemen stehen, die wir uns heute überhaupt noch nicht vorstellen können, müssen wir Instrumente im europäischen Vertragswerk haben, die es uns ermöglichen weitere Integrationsfortschritte zu leisten. Diese Beitrittskandidaten sollen nicht denken, jetzt machen die anderen Fortschritte ohne uns, sondern die Vertiefung soll immer auch ein Angebot an alle sein. Erst in letzter Instanz wollen wir den Weg der flexiblen verstärkten Zusammenarbeit beschreiten.

Es kommt mir auch darauf an, deutlich zu machen, dass man die zentrale Rolle der europäischen Kommission nicht einfach über Bord werfen darf. Es kann keine flexible Zusammenarbeit in Europa geben, die nicht von der Kommission per Initiativantrag veranlasst wird. Sonst kommen wir sehr schnell zurück in die Machtbalancen und Spielereien des 19. Jahrhunderts, wo die Großen im stillen Kämmerlein unter sich entschieden, was für die anderen Mitglieder der europäischen Völkergemeinschaft gut ist. Wenn in Europa die Stimme der Kommission bei den relevanten Etappen und Zwischenzielen verstummen würde, gerieten wir in ein Szenario, das uns von der europäischen Einigungsidee wegtreibt.

Auch in Fragen der inneren Angelegenheiten und der Justiz müssen wir in Europa vorankommen. Es gibt kein Programm, das die Europäer mehr von Europa überzeugen könnte als eine konsequente nahtlose Zusammenarbeit aller europäischen Regierungen, Kriminalbehörden, Polizeistellen und sonstiger Instanzen im Kampf gegen das internationale Verbrechen. Wieso kann das internationale Verbrechen Europa in Angst und Schrecken versetzen? Warum verzichten wir auf die Möglichkeit, dadurch, dass wir unsere Kräfte bündeln, das internationale Verbrechen in Angst und Schrecken zu versetzen? Dies müssen wir tun, damit Europa attraktiver und verständlicher für die Bürger der Europäischen Union wird.

Dies gilt ebenso für das Thema Sozialpolitik. Ich finde den Ausdruck Sozialunion nicht gut, weil dann jeder denkt, wir würden die europäischen Kranken- und Rentenversicherungssysteme harmonisieren. Dies wird sich Europa nicht leisten können. Aber dass wir, zum Beispiel, bei den Arbeitnehmerrechten, die nicht im Gegensatz zu den Fundamentalinteressen der mittelständig verfassten Wirtschaft stehen, erheblich mehr tun müssen, damit die Menschen sich in Europa wiedererkennen, ist unumgänglich. Europa muss sein europäisches Gesicht bewahren und die Arbeitnehmer müssen ihren Platz in der Europäischen Union bekommen. Europa ist nicht das Europa der Finanzminister und der Bänker, das Europa der Bürokraten und der Außenminister. Europa muss auch ein Europa der Menschen sein, die sich auf diesem Kontinent wohlfühlen, weil ein Sozialmodell zur Anwendung kommt, das mit ihren Lebenszielen und Lebenswünschen vereinbar ist.

Dies können wir alles leisten, wenn wir uns Termine setzen, wenn wir uns an diese Termine gebunden fühlen und wenn wir nicht nur unseren Verstand, sondern auch unser Herz sprechen lassen. Wenn ich höre, dass in Europa alles schief geht, dass nichts gelingt, so liegt das auch daran, dass wir über das bestehende Europa dauernd schlecht reden. Wenn wir den Menschen pausenlos sagen, dass nichts funktioniert mit 15 Mitgliedern, dann können wir nicht davon ausgehen, dass alle Beifall klatschen, wenn wir nun sagen, jetzt versuchen wir es mit 27 Mitgliedstaaten besser zu machen. Wir sollten also die Europäische Union rehabilitieren in dem was sie geleistet hat. Sie ist die größte politische Erfolgsstory des 20. Jahrhunderts und weltweit unerreicht.

Europa – eine Verpflichtung für Christdemokraten

Dies hat nicht nur mit politischen Programmen und Grundsatzerklärungen zu tun. Es hat auch mit den Menschen zu tun. Man kann für Europa nichts auf den Weg bringen, wenn man die Menschen nicht liebt. Wer Menschen behandelt wie Nummern, wer Völker abzählt wie riesige demographische Herden, ohne zu sehen, dass es dort um konkrete Menschen geht, der kann die Zukunft nicht gestalten.

Europa ist ein Projekt, das mit den einzelnen Menschen zu tun hat. Wenn jemand wie Helmut Kohl so viel Erfolg gehabt hat, nicht nur in Deutschland und für dieses Land, sondern auch in Europa, dann ist es vielleicht deshalb, weil er es am besten verstanden hat, anderen zuzuhören, andere ernst zu nehmen und auf andere zuzugehen. Helmut Kohl hat niemals gesagt, du bist ein kleiner Luxemburger, setz dich mal zur Seite, sondern er hat auch andere warten lassen, um sich den Problemen der kleinen Staaten zuzuwenden. Davon erzählen sich heute noch Dänen, Finnen und Schweden Geschichten. Das erleben sie nämlich heute nicht mehr so, je nachdem in welcher Amtssprache mit ihnen geredet wird.

Es ist also wichtig zu begreifen, dass Europa nicht nur eine Sache des Verstandes ist, es ist auch eine Sache des Herzens. Helmut Kohl hat dies mehr als jeder andere seit dem Zweiten Weltkrieg verstanden. Die Deutsche Einigung wäre nicht möglich gewesen, wenn er es nicht geschafft hätte, in 16 Regierungsjahren Deutschland zu dem besten Nachbarn seiner Nachbarn seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts werden zu lassen.

Europa ist aber auch eine Sache der Vernunft, weil wir wissen, wo die Unvernunft hinführt. Sie führt in die Konzentrationslager des Zweiten Weltkrieges. Viele bemächtigen sich heute des europäischen Projektes und verwässern es. Dabei ist Europa eine urchristdemokratische Angelegenheit. Daran müssen wir erinnern. Weil wir als Christdemokraten dieses Europa gewollt haben, weil wir diesen Bekennermut immer gehabt haben, müssen wir auch dafür kämpfen, dass wir die Meinungsführerschaft in der europäischen Politik zurückerobern. Europa gehört nicht nur uns, aber es wäre falsch, so zu tun, als ob wir damit nichts zu tun gehabt hätten. Ohne uns wäre aus Europa nicht das geworden, was es heute geworden ist.

Europa ist in den letzten Jahrzehnten sehr weit vorangekommen und die Krönung der europäischen Integration war die Deutsche Wiedervereinigung, die nicht denkbar gewesen wäre ohne die europäische Integration. Ich habe als junger Minister die Wiedervereinigung Deutschlands miterlebt. Es war nicht so einfach, wie es heute manchmal dargestellt wird. Es hat Helmut Kohl und Theo Waigel viel Überzeugungsarbeit gekostet, die Kollegen europaweit davon zu überzeugen, dass dies der richtige Weg ist. Wir sollten uns einfach freuen, dass die Dinge so gekommen sind. Als ich geboren wurde, da richteten sich sowjetische Raketen, die in Prag stationiert waren auf Deutschland und auf Luxemburg. Mir ist es lieber, dass sich heute die Herzen der Menschen und die Erwartungen der Menschen auf uns richten.

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