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Contribution dans le quotidien allemand Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Für Gefühlsstarke"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. August 2001
Beitrag von Premierminister Jean-Claude Juncker
Gestaltungsraum für Gefühlsstarke
Über die möglichen Formen der denkbaren Weiterentwicklung der Europäischen Union wird zur Zeit viel debattiert, geredet und geschrieben und das ist gut so.
Über die Ursprünge der europäischen Einigung, ihre Basiszwänge und mithin die Bedeutung des Nicht-Europa wird kaum gesprochen und das ist schlecht so.
Der Disput über die Finalität der Europäischen Union droht den Diskurs über ihre Notwendigkeit zuzudecken. Doch beide gehören zusammen. Sie sind gewissermaßen die zwei Beine der europäischen Gangart. Das angestrengte Suchen nach neuen Wegen bleibt ziellos wenn es ohne ursprünglichen Bezug erfolgt. Der verklärte und verklärende Blick auf das in der Gründerzeit Geschaffene wirkt befremdend wenn er die zur Neugestaltung einladenden Zukunftsaufgaben aus dem Auge verliert.
Zu einem Zeitpunkt da viel über Zukunft und wenig über Vergangenheit zu lesen ist drängt sich der Eindruck auf, die Europäer hätten mit Letzterer abgeschlossen, die Erinnerung an zwei Weltkriege – einer schlimmer als der andere und beide ausgelöst durch das dumpfe Gegeneinander der Großstaaten in der Mitte Europas - hätte das Friedensimperativ zur unverrückbaren politischen Maxime werden lassen.
Wahr ist : die heute Lebenden und Regierenden sind Zeitzeugen oder Kinder der Zeitzeugen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Sie lehnen die Option zwischen Krieg und Frieden ab. Für sie ist der Frieden Vater aller kontinentaler Gedanken. Und doch haben sie ihn nur – nur ! – in unserem Teil Europas, nicht aber zwei Flugstunden von Brüssel entfernt sichern können.
Wahr ist aber auch : Hitler und Stalin werden so wenig zum historischen Referenzkreis derjenigen gehören die im Jahre 2030 leben und regieren werden wie die Hauptprotagonisten des deutsch-französichen Krieges von 1860 zu unserem Bezugsmuster. Uns sind Hitler, Stalin und die Folgen ein Begriff, der schreckliche Bilder auslöst und alte Friedensüberzeugungen neu werden lässt. Den in den Wendejahren um 1990 Geborenen sind sie das nicht mehr. Wenn die in den Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts Geborenen im erwachsenen und regierungsfähigen Alter angekommen sein werden, dann wird ihnen der Frieden in Europa noch selbstverständlicher vorkommen als uns. Man sollte die Tatkraft zukünftiger Generationen nicht unterschätzen, aber die Frage bleibt, ob sie – wenn wir es nicht vorher getan haben – die Kraft aufbringen werden, Europa zu Ende zu denken. Die Gefahr besteht, dass sie den europäischen Dingen ihren Lauf lassen werden. Eigentlich ist es so, dass auch wir heute schon dieser Gefahr ausgesetzt sind. Wenn man den europäischen Dingen jedoch ihren Lauf lässt, dann nehmen sie einen schrecklichen Verlauf. Deshalb ist es unsere Pflicht, aus heutiger Sicht – das heißt mit dem Wissen um das Vergangene – das in die Wege zu leiten was die Zukunft braucht aber vielleicht nicht mehr in der Lage sein wird leisten zu können.
Die Europäische Union hat dem Frieden zu dienen. Nur wenn sie ihn auf Dauer in ihren eigenen Grenzen sichert, schafft sie die Voraussetzung, ihn um ihre Grenzen herum schützen zu können und weltweit zu einem aktiven Friedensinstrument zu werden. Die These ist : die europäische Einigung muss zur nationalen Staatsraison der EU-Mitgliedsstaaten, die Friedenssicherung zur kontinentalen Staatsraison werden. Daraus ergibt sich der Auftrag, die Leistungsfähigkeit der jetzigen Europäischen Union zu nutzen und diejenige der Europäischen Union von morgen zu steigern.
Leistungsfähigkeit nutzen
Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion, von langer Hand vorbereitet und am 1. Januar 1999 aus der Taufe gehoben, ist eine europäische Erfolgsgeschichte aller ersten Güte. Zum erstenmal in der Neuzeit, mitten in einem komplizierter gewordenen internationalen Umfeld, haben sich bis auf den heutigen Tag zwölf europäische Nationen dazu entschieden, ihre nationalen Währungen – bis dato Staatsattribut par excellence – in einer einheitlichen europäischen Währung zusammen zu fassen und ihre nationale Geldpolitik zu Gunsten einer europäischen, zentral und unabhängig gesteuerten Währungspolitik aufzugeben. Mit der Schaffung des Euro haben die Europäer vordemonstriert, dass sie zu großen gemeinsamen Anstrengungen fähig und bereit sind, vorausgesetzt sie verfolgen einen in seinen Umrissen klar erkennbaren Plan und ordnen dessen Erreichen ihren kurzfristigen nationalen Egoismen unter. Die Schaffung des Euro zeigt aber auch : die Europäer werden ihrer Erfolge nicht froh. Anstatt sich dauerhaft darüber zu freuen, vier Fünftel der EU-Staaten den Zugang zur Währungsunion möglich gemacht zu haben, den europäischen Binnenmarkt dadurch gestärkt und in den Klub der weltweit führenden Währungen aufgenommen zu haben, versinken wir in kurzfristigen und deshalb hinkenden Kurzzeitvergleichen. Das tagtägliche Währungsjojo zwischen Euro und Dollar läßt die mittel- und langfristig günstigen Euro-Perspektiven in den Hintergrund treten und die im historischen Vergleich ungünstigeren Positionen der nationalen Währungen auf derselben Vergleichsfläche vergessen. Die DM war in den 80ziger Jahren wesentlich schwächer im Dollar-Außenvergleich als der Euro heute, die Inflation im DM-Deutschland im Mittelwert höher als die Inflation im Euro-Raum, die Arbeitslosigkeit nicht niedriger, das Wirtschaftswachstum nicht robuster. Niemand jedoch schafft es, den Menschen vor Augen zu führen, dass der Euro uns schützt, nicht schadet. Jene die die Währungsturbulenzen der 90ziger Jahre noch bewußt in Erinnerung haben wissen was nach dem Kosovo-Krieg, der russischen Finanzkrise, dem asiatischen Zusammenbruch und dem jüngsten Ölpreisanstieg in einem Europa ohne Euro passiert wäre : die Regierungen hätten nolens volens auf das Währungsventil gedrückt, Haushaltsdefizite wären empor geschnellt, die Arbeitslosigkeit hätte neue Rekordstände erreicht, die Inflation wäre durchgebrannt. Der Euro hingegen hat uns Währungsstabilität beschert. Unerklärlich bleibt wieso wir diesen beweisbaren Euro-Erfolg nicht als einen solchen zu vermitteln verstehen. Vielleicht hat dies damit zu tun, dass die Europäer an sich selbst und ihrer Zukunft zweifeln, während der Dollar, eingebettet in objektiv ungünstigere ökonomische Fundamentaldaten, sich an der amerikanischen Unfähigkeit zum Selbstzweifel nährt. Für die Amerikaner ist der Dollar genau einen Dollar wert. Die Europäer reduzieren sich auf ein Maß unterhalb der eigenen Größe wenn sie den Euro nur im Vergleich zum Dollar erleben anstatt ihn als den internen Stabilisator zu sehen der er ist. Nicht einem schwachen Euro ist das Wort zu reden, sondern einem Euro der seinen Zweck erfüllt. Er würde seinen Zweck noch besser erfüllen, wenn er zum Anlaß genommen würde, die nationalen Wirtschaftspolitiken – die nicht einheitlich, sondern im gemeinsamen Interesse zu führen sind – besser zu koordinieren. Die Währungsunion bedeutet das Ende der Nationalökonomie. Die Wirtschaftspolitik der Euro-Mitglieder müsste stärker verzahnt werden. In concreto heißt das, dass die Haushalts-, Steuer–, Lohn– und Strukturpolitiken Hand in Hand gehen müßten. Sie tun es zur Zeit in ungenügendem Maße. Die Währungsunion wäre leistungsfähiger wenn die Koordinierung der Politik wachstumsorientierter wäre. Der Währungsunion fehlt es weder an Ambitionen noch an Instrumenten. Der Maastrichter Vertrag sieht beide vor. Aber nur der politische Wille der Handelnden kann sie zusammenführen. An dem mangelt es. Rücksichtnahme auf Wahltermine und das Unvermögen kollektiv und solidarisch zu denken bremsen die Schubkraft des Euro.
Mangels konzentrierter Koordinierung bleiben die Euro-Potentialitäten in ihrer integralen Fülle ungenützt. Ähnliche Fesseln legen wir der europäischen Sozialpolitik an. Der Binnenmarkt hat seiner logischen währungspolitischen Verlängerung bedurft. Beide – Binnenmarkt und Währungsunion – verlangen sozialpolitisches Zupacken. Der Binnenmarkt hat zu einer weitestgehenden Angleichung der Wettbewerbsbedingungen zwischen den EU-Staaten geführt. Die fünfzehn Regierungen nutzen diese so unterschiedlich, dass einige Standorte innerhalb der Währungsunion ins Hintertreffen zu gelangen drohen. Die bis zur Euro-Einführung oftmals erprobte Methode, Wettbewerbsnachteile durch kompetitive Abwertungen vorübergehend den strafenden Effekt zu nehmen, ist im Euro-Land nicht mehr einsetzbar. Mithin besteht das Risiko, Wettbewerbsglättung via unüberlegten Sozialabbau herbeizuführen. Der Binnenmarkt und der mit ihm einhergehende Wettbewerbsdruck sowie die Währungsunion und die durch sie entfallende Option der kompetitiven Abwertung verlangen einen Mindestsockel von Arbeitnehmerrechten. Europa braucht soziale Mindeststandards, vornehmlich im Bereich des Arbeitsrechtes. Die Arbeitnehmer spüren die sozialen Defizite Europas intensiver als die öffentlichen Meinungsführer. Globalisierung, Binnenmarkt und Währungsunion erscheinen den Arbeitnehmern zunehmend als Bedrohung. Würde die Politik in Europa sozialhaltiger, könnte Europa seiner Funktion als Schutzschild gegen die Globalisierung gerechter werden. Die Menschen sagen ja zu einem Europa das die Chancen der Globalisierung nutzt und ihre Gefahren mindert.
Eine im Rahmen der Währungsunion flächendeckend koordinierte Wirtschaftspolitik und ein arbeitsrechtlich abgefederter Binnenmarkt werden den neuen Herausforderungen nicht vollumfänglich gerecht. Auch die Steuerpolitik muss neu gedacht werden. Steuerwettbewerb muss sein. Einen steuerpolitischen Schmelztiegel darf es in Europa nicht geben. Aber wir müssen konsequent gegen den unlauteren Steuerwettbewerb vorgehen. Den Kampf gegen das Steuerdumping verlieren wir mit Sicherheit wenn wir die ideologischen Scheuklappen so eng anlegen, dass wir für pragmatisches Handeln blind werden. Anstatt stur in Richtung Informationsaustausch und Abschaffung des Bankgeheimnisses zu rennen wäre es vernünftiger gewesen, eine Mindestquellensteuer mit Abgeltungscharakter auf in Europa erzielten Kapitalerträgen einzuführen. Wenn überall minimal besteuert wird werden die Steuereingänge überall maximal sein. Wenn überall maximal besteuert wird werden die Steuereinnahmen überall minimal sein weil das Kapital die Flucht außerhalb der Europäischen Union antritt. Pragmatisches Handeln ist auch im Bereich der Unternehmensbesteuerung angesagt. Nicht identische Steuersätze werden in Europa gebraucht, sondern Mindeststeuersätze und angeglichene Bemessungsgrundlagen. Die Europäische Union darf nicht zu einem Wirtschaftsraum verkommen in dem der ruinöse Steuerwettbewerb tobt, in dem Irland der Steuerfeind Deutschlands und die Niederlande der Steuerfeind Belgiens werden. Wenn sich die Mitgliedsstaaten steuerpolitisch spinnefeind sind werden sie alle verlieren. Und mit ihnen die Menschen denen die europäische Steuerlandschaft wie eine kontinentale Gerechtigkeitslücke mit sozialer Schieflage vorkommen wird : unterbesteuertes Kapital, überbesteuerte Arbeit.
Stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik, Abwehr von Sozial- und Fiskaldumping lassen sich in der Europäischen Union von heute ohne dramatische Vertragsänderungen bewerkstelligen. Sie sind nicht eine zu lösende Vertragsfrage, sie sind eine Frage des politischen Willens.
Leistungsfähigkeit steigern
Andere nicht minder relevante Fragen setzen jedoch integrationsweiterführende Vertragsumstellungen voraus.
Um die gemeinsame Außenpolitik weiterzubringen braucht der EU-Vertrag einen neuen Schliff der die EU-Staaten zu einer konsequenteren Diplomatie zwingt. Europa wird als Akteur der Weltpolitik erst dann ernst genommen wenn wir in Krisenregionen statt mit vier nur noch mit einer Stimme reden, statt mit vier nur noch mit einem Plan auftreten. Niemand in der Welt ist an widersprüchlichen Krisenplänen interessiert die in diversen europäischen Hauptstädten geboren werden ohne dass ihre Autoren miteinander reden. Aber an von allen EU-Mitgliedern getragenen europäischen Antworten, die auf Vorschlag der Kommission durch Mehrheitsbeschlüsse der Mitgliedsstaaten herbeigeführt werden, besteht weltweit großes Interesse. Der außenpolitische Vertreter Europas, Javier Solana, hat heute schon großen Erfolg wenn er im Namen aller reden und handeln kann. Die Zustimmung der Europäer zu Europa wird in dem Maße wachsen wie die Europäische Union die Weltpolitik sichtbar mitgestaltet. Auch Außenpolitik kann identitätsstiftend sein. Wenn es Europa beispielsweise gelingen würde, durch eine finanzkräftigere Entwicklungspolitik sich resolut der Bekämpfung der Armut in der Welt anzunehmen, dann hätten die Europäer einen Grund mehr auf die Europäische Union stolz zu sein.
Auch in Bereichen in denen der klassische Nationalstaat erkennbar an seine Grenzen stößt ist mehr Europa von Nöten. Einwanderungsströme und Asylbewegungen machen nicht an Landesgrenzen Halt. Sie verlangen gemeinsame Antworten, gemeinsame Regeln und gemeinsames praktisches Handeln. Ähnliches gilt für den Kampf gegen das internationale Verbrechertum. Verbrecher planen und agieren über die Landesgrenzen hinaus, nutzen konsequent den zwischenstaatlichen Kompetenzwirrwarr und die daraus resultierenden Effizienzverluste bei der Verbrechensbekämpfung. Die Bürger verlangen zu Recht, dass Europa sie gegen die internationale Kriminalität schützt. Sie würden die Einsetzung einer europäischen Polizei, eines europäischen FBI, zustimmend begrüßen weil mehr Europa mehr Sicherheit bringen würde.
Der Umgang mit den heute schon geklärten Fragen und die Klärung heute noch offener Fragen macht deutlich, dass die Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsstaaten straffer geregelt werden muss. Dieser Aufgabe wird sich die für 2004 verabredete Regierungskonferenz annehmen müssen. Sie wird sie nur dann korrekt erledigen können wenn sich die Staats- und Regierungschefs Ende des Jahres beim Europäischen Rat in Brüssel – Laeken darauf verständigen, ein multiform zusammengesetztes Forum mit der Vorbereitung der Regierungskonferenz zu beauftragen. Diesem Forum müssen neben Regierungsvertretern auch nationale und europäische Abgeordnete angehören die ihrerseits über einen direkten Draht zu der Zivilgesellschaft, zu Gewerkschaften und zu europäischen Bürgerbewegungen verfügen müssen. Die Vorstellung, die richtungsgebende Konferenz von 2004 fernab der Öffentlichkeit in abgedunkelten Räumen geschäftsmäßig abzuhandeln wäre von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Andererseits ist vor der Illusion zu warnen, ein breitgefächertes Forum würde allein aufgrund seiner Zusammensetzung zu besseren Ergebnissen führen. Die Debatte über die europäische Kompetenzstaffelung hat es nämlich in sich. Das Unterfangen, bisher bei der EU angesiedelte Zuständigkeiten auf die nationale Ebene zurückzuverlagern mag als Gedankenentwurf seinen Reiz haben. Die Wiedergewinnung nationaler und regionaler Kompetenzen bei der Festlegung der Kulissenlandschaft im Bereich der Strukturhilfe und bei der konkreten Ausgestaltung der aus dem gemeinsamen Wettbewerbsrecht resultierenden Detailregeln wird an die Substanz gehen. Anstatt mit der Kommission in einen schwierigen Prozess der Kompetenzrückgewinnung einzutreten wären die Mitgliedsstaaten gut beraten, mit der Kommission über die Art und Weise zu streiten wie diese die ihr zustehenden Kompetenzen ausführt. Neben dem Themenkomplex der Subsidiarität – wer kann was wo besser machen – kommt der Frage der Proportionalität immer größere Bedeutung zu : die Kommission muß nach 2004 bereit sein, die ihr übertragenen Zuständigkeiten mit zurückzunehmender Intensität zu führen. Millimetergenaue Detailregelungen, in Brüsseler Amtsstuben fernab regionaler und lokaler Begebenheiten ausgeheckt, verprellen die Entscheidungsträger vor Ort und tragen in einem erheblichen Maß zum Verdruss über das Europäische schlechthin bei. Letztendlich kommt es bei der Kompetenzneugestaltung darauf an, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Die Debatte über die Finalität Europas und die dazu parallel verlaufende Debatte über dessen Zuständigkeiten soll klärend und transparenzfördernd wirken, auf keinen Fall jedoch Nicht-Kompetenzen einbetonieren. Der Vertragsartikel der es den einstimmig entscheidenden Mitgliedsstaaten erlaubt der EU neue Kompetenzen zu übertragen darf nicht ausgehebelt werden. Hätten die Gründungsväter der EWG das europäische Haus hinter einer luft- und wasserdichten Kompetenzwagenburg errichtet, dann hätte sich Europa mancher Herausforderung der letzten Jahrzehnte mangels originärer Zuständigkeiten nicht stellen können. Europa muß flexibel auf die Irrungen und Wirrungen der Zeit reagieren können : ein zu enger Kompetenzanzug wird sie erstarren lassen. Ein zu weites Kompetenzkostüm wird sie zu Vielfraß und Fettleibigkeit animieren.
Die Regierungskonferenz des Jahres 2004 wird sich nicht an der europäischen Verfassungsfrage vorbeidrücken können. Es macht Sinn, dass die Europäische Union ihre Dimension als Wertegemeinschaft in einem grundlegenden Verfassungsvertrag deutlich macht. Aber auch hier wird das ungestüme Vorpreschen mit dem einige Anhänger der Verfassungsidee vorzugehen gedenken mehr Schaden als Nutzen bringen. Eine Verfassung regelt das Zusammenleben eines Volkes im Rahmen einer Nation zu der es sich bekennt. Auch die glühendsten Europa-Anhänger müssen sich mit der Tatsache abfinden, dass es weder das europäische Volk noch die europäische Nation gibt. Mithin muss eine europäische Verfassungsgebung eigene Wege gehen. Der Vorschlag sich im Rahmen der Regierungskonferenz des Jahres 2004 auf einen Vertragstext zu einigen der in die jeweiligen nationalen Verfassungen in gleichlautenden Worten einzubauen ist sollte nicht unberücksichtigt bleiben. Eine derartige Vorgehensweise würde es erlauben, die Antinomie zwischen europäischer und nationaler Verfassung klug zu entschärfen.
Der Vertrag von Nizza, der den ins Auge gefassten Verfassungsplan der Europäischen Union in seiner Verlängerung andeutet steht schon wieder zur Disposition bevor er überhaupt ratifiziert wurde. Er schafft die für die Erweiterung notwendigen institutionellen Voraussetzungen und wird diesbezüglich den in ihn gesetzten Erwartungen gerecht. Ansonsten enthält der neue Vertrag kaum integrationsvertiefende Schritte. Es nimmt deshalb nicht wunder, dass seit seiner Unterzeichnung die Vorschläge über die zukünftige Architektur Europas sich überhäufen. Die Debatte über die endgültige Ausformung der Europäischen Union ist notwendig, birgt aber ein gewaltiges Risiko in sich : die sich jagenden Pläne und Entwürfe zur institutionellen Endreform lassen europäische Absichten und Ambitionen immer unleserlicher erscheinen. Die Menschen reagieren fast verstört auf die wetteifernden Architekturskizzen, sind ob ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit verunsichert und setzen oftmals auf Nummer Sicher, das heißt auf den ihnen näher stehenden Nationalstaat. Das irische Abstimmungs-Nein zum Nizza-Vertrag galt nicht so sehr dem Vertrag selbst als viel mehr dem Ambiente das ihn umgibt. Es zeigt im übrigen die doppelte Kluft auf, mit der wir es in Europa zu tun haben : die Kluft zwischen europäischer Politik und “ europäischem Volk ” einerseits und die Kluft zwischen dem integrationswilligen und dem integrationsablehnenden Teil der nationalen öffentlichen Meinungen. An der Bildung und Billigung dieser doppelten Kluft trägt die Politik – nicht sie allein, aber sie auch – ihr gerüttelt Maß an Schuld. Europa muß sich um ihre Zuschüttung bemühen.
Was kann die Politik tun und unterlassen ?
"Deine Rede sei ja ja, nein nein" : dieser Grundsatz muß auch für die europäische Politik vor allem aber für ihre Darstellung gelten. Wenn Regierungen gemeinsam erarbeitete EU-Lösungen als nationalen Erfolg ausgeben und nationale Misserfolge mit Hinweis auf dunkle Brüsseler Machenschaften zu vertuschen versuchen, dürfen sie sich nicht darüber beklagen, dass die Bürger in zunehmendem Maße zu Brüssel auf Distanz gehen. Wer nach fast jedem EU-Gipfel lauthals erklärt er habe sich gegen die anderen Partner "durchgesetzt", er habe trotz "ihres massiven Widerstandes gesiegt", darf sich nicht wundern, dass viele nationale EU-Bürger in der EU eine Gefahr sehen die es abzuwenden gilt. EU-Erfolge sind gemeinsame Erfolge und auch als solche zu bezeichnen. Sich selbst loben wenn die EU gut ist und die EU tadeln wenn man selbst schlecht ist führt zu einer rezeptiven Mischung an deren Ende bröckelnde EU-Akzeptanz steht. Die EU darf, ja muss kritisiert werden wenn ihre Leistung schwach ist. Aber die Regierungen sollten zugeben, dass sie meistens sich selbst kritisieren wenn sie die Europäische Union kritisieren. Die Regierungen stehen in Brüssel auf dem Spielfeld. Sie sollten nicht so tun als säßen sie nur auf den Zuschauerrängen. EU-Politik ist keine fremde Ware, sondern regierungsamtliche Eigenproduktion. Die Urheberrechte – und Urheberpflichten – an dieser Politik würden klarer erkennbar wenn die Mitgliedsregierungen einen hochrangigen Minister als ständigen Vertreter nach Brüssel entsenden würden. Wer denkt, diese Entsendung wäre eine Strafexpedition für innenpolitisch Kaltzustellende hat nicht erkannt, dass ein Großteil der nationalen Gesetzesgebung in Brüssel entsteht. Wer sie mitgestaltet – und sie zu Hause erklären muss – wird ein innenpolitischer Akteur von unübersehbarer Statur.
Der Unmut der EU-Steuerzahler wird regelmäßig durch die gebetsmühlenartig vorgetragene Klage angefacht, Europa kostet zuviel Geld. Richtig ist: auch in Europa muss gespart und ordnungsgemäß verwaltet werden. Aber die Bürger glauben zu tun, ohne Finanztransfers an die Europäische Union gehe es ihren Staaten und damit ihnen selbst finanziell besser ist unwahr und unverantwortlich. Europa kostet Geld, ja, aber eine Stunde Krieg verschlingt größere Summen als ein ganzes Jahr Europa kostet. Eine Stunde Frieden hingegen hat keinen Preis. Um den Steuerbürgern individuell vor Augen zu führen was Europa wirklich kostet sollte man die zur Zeit geltenden vor allem auf nationalen Zuwendungen beruhenden Eigenmittel der EU durch eine Europa-Steuer ersetzen. Ein derartiges System würde die Finanzierung des EU-Haushalts transparenter gestalten und womöglich zur Effizienzsteigerung auf der Ausgabenseite beitragen. Die Tatsache, dass mit wenigen Ausnahmen fast alle EU-Finanzminister gegen eine derartige Steuer sind lässt tief blicken. Das Argument, die Einführung einer Europa-Steuer würde von den Steuerzahlern als Signal in Richtung Steuererhöhung missverstanden zeigt, dass die Regierungen sich selbst für unfähig halten europäische Anliegen für die Menschen nachvollziehbar zu erklären.
Zugegeben : europäische Vorgänge sind schwer zu vermitteln. Aber das institutionelle Gebaren der Europäischen Union lässt sich nicht dadurch einsichtiger und durchsichtiger gestalten, dass man seine potentielle Schwerfälligkeit durch ein Plattwalzen der Einflusszonen kleinerer EU-Staaten zu eliminieren sucht. Es ist schlicht unwahr, dass sich kleine und große Mitgliedsstaaten bei Abstimmungen im EU-Ministerrat prinzipiell anders verhalten würden. Niemand vermag auch nur ein Votum zu identifizieren bei dem die vier oder fünf Großen eine Entscheidung hätten anstreben wollen die am geschlossenen Widerstand der Meute der kleinen Wadenbeisser gescheitert wäre. Kleine wissen, dass sie klein sind. Große sollten auch wissen dass sie groß sind. Alle aber sollten wissen, dass Europa deshalb ein einzigartiges Unternehmen ist weil große und kleine Partner ihren Interessenausgleich so zu gestalten wußten, dass es nie Sieger und Verlierer gab, sondern nur Gewinner : große und kleine. Eine derartige Zweckgemeinschaft muss man nicht lieben, aber man darf sie nicht dauernd diskreditieren. Tut man es doch, so hört sie auf ihren Zweck zu erfüllen.
Nicht abzustreiten ist, dass manche der in Europa Handelnden über ungenügende Legitimität verfügen. Dies ist entgegen einer weitverbreiteten Meinung nicht primär der Fall für die Staats- und Regierungschefs und die Regierungen. Sie können sich auf Wahlen und Vertrauensvoten ihrer Parlamente stützen. Dies ist aber sehr wohl der Fall für Kommissare und EU-Parlamentarier. Parlamentarier sind zwar auch gewählt, aber sehr oft werden sie in der Reihenfolge der nach parteiinternem Hickhack aufgestellten Wahllisten nach Europa entsandt. Der unverkennbare Graben zwischen EU-Parlament und Wähler liesse sich dadurch schließen, dass man überall in Europa den Bürgern – nicht den Parteien – die Möglichkeit der Wahl seines Parlamentariers eröffnet. Auf einer oder mehreren Listen panaschieren zu können schafft keine Unordnung sondern macht aus dem so Gewählten einen haftbaren Vertreter seiner Wähler. Ähnliches gilt für die Kommissare. Sie verfügen über das gesetzesgeberische Initiativmonopol. Alle die die Rolle der Kommission zu stärken vorgeben – und die Kommission muss gestärkt werden – sollten darüber nachdenken wie Kommissionspräsident und Kommissare in direkter oder indirekter Wahl benannt werden könnten. Gewählte Kommissare würden nicht unerkannt und unbekannt unter ferner liefen laufen, sondern an der Spitze des Feldes.
Ob Kommissare, Parlamentarier oder Minister : wir sollten es sein lassen, die öffentliche Meinung mit kompliziertesten institutionellen Vorstößen zu strapazieren. Es mag intellektuell reizvoll sein, sich in Grundsatzreferaten mit dem institutionellen Gefüge der Europäischen Union des Jahres 2030 auseinanderzusetzen. Doch Politik mißt sich nicht an ihren Absichten sondern an ihren Resultaten. Wenn die Politik bessere und griffigere Ergebnisse zeitigt, dann nimmt auch die Zustimmung zur Europäischen Union zu. Wir sollten uns auf die Inhalte der Politik konzentrieren, das heißt die vitale Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa zum Erfolg werden lassen, eine Wirtschaftspolitik in Richtung inflationsarmes dauerhaftes Wachstum enger koordinieren, einen authentisch europäischen Beitrag zum Klimaschutz formulieren und applizieren, durch intelligente und großzügige Entwicklungshilfe eine Solidaritätsbrücke zur Dritten Welt schlagen, die Arbeitnehmer durch das Anlegen eines sozialen Mindestsockels wieder an Bord des europäischen Schiffes nehmen, der grassierenden internationalen Kriminalität durch die Schaffung einer europäischen Polizeibehörde Einhalt gebieten und in allen Politiksparten überall in Europa für nachhaltige Entwicklung sorgen. Wenn die Politik stimmt ergeben sich die institutionellen Instrumente zu ihrer Umsetzung fast von selbst. Institutionen dienen der Politik. Perfekt funktionierende Institutionen bleiben Makulatur wenn der politische Plan dem sie zum Durchbruch verhelfen sollen weder auf dem Papier noch in den Köpfen und Herzen besteht. Ja, in den Herzen : Europa ist nicht nur ein Exerzierfeld für Kopfstarke sondern vor allem ein Gestaltungsraum für Gefühlsstarke.