"Europa an der Kreuzung", Rede von Premierminister Juncker anlässlich der Jahrestagung der Europäischen Stiftung für den Aachener Dom

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde,

In Aachen über Europa zu reden ist schwieriger als Eulen nach Athen zu tragen, obwohl ich mir das auch relativ schwierig vorstelle. In Aachen redet man gerne über Europa, weil diese Stadt ein zutiefst europäisches Ambiente ausstrahlt, Europa in dieser Stadt nie zum Fremdwort verkommen ist und man sich auch ohne Mühe und ohne Scheu zu europäischen Grundanliegen und Grundlinien äußern darf.

Europa an der Kreuzung, lautet der Titel diese Vortrages. Europa steht an und vor vielen Kreuzungen. Wann immer man an einer Kreuzung steht, muss man eine Entscheidung treffen, so oder so. Und einige davon - das weiß man schon, wenn man sie trifft - sind unumkehrbar. Europäische Kreuzungen haben das Spezifikum, dass sie häufig nicht direkt als Kreuzung erkennbar sind, sondern einem eher als Weggabelung vorkommen, vor der man sich nicht notwendigerweise zu einer Richtungsentscheidung aufgerufen oder gar animiert spürt.

Es gibt an europäischen Kreuzungen das wundersame Verkehrsverhalten der Europäer, das manchmal lustig zu beobachten ist, das aber auch sehr oft dramatische Folgen haben kann. Es gibt Ampeln, die auf Rot stehen und dann fährt jeder weiter. Es gibt Ampeln, die auf Grün stehen und da bleiben alle stehen. Und es gibt Kreuzungen ohne Ampeln. Das ist die eigentliche europäische Kreuzung, denn es gibt an europäischen Kreuzungen keine Wegweiser, die einem bei der Fragestellung schon nahe legen würden, in welche Richtung man sich auf den Weg machen muss. Außerdem herrscht auf den europäischen Kreuzungen größtes Durcheinander.

Es gibt in Europa zwei Sorten Menschen, zwei Grundeinstellungen, zwei Befindlichkeiten, die sich proportional in etwa zu gleich stark besetzten Hälften ausmalen lassen. Es gibt die Europäer in der europäischen öffentlichen Meinung, die es im übrigen nicht gibt, oder besser gesagt in den 15 nationalen öffentlichen Meinungen, die der Auffassung sind, dass wir mehr Europa bräuchten in vielen Bereichen der tatsächlich stattfindenden Politik und auch noch in der der Kategorie des Traumes zuzuordnenden Bereichen. Menschen, die von der festen Überzeugung beseelt sind, dass wir aus den Lehren des zwanzigsten Jahrhunderts gestärkt alle Vorkehrungen treffen müssen, damit andere, die nach uns geboren werden, sich nicht noch einmal damit beschäftigen müssen, wie man über europäische Fehlschläge hinwegkommt. Und es gibt etwa 50 Prozent der Menschen, die der Auffassung sind, wir hätten genug Europa, wir bräuchten nicht mehr sondern weniger Europa. Sie fühlen sich von Europa eingegrenzt, fast umzirkelt. Sie sind der Auffassung, aus den europäischen Dingen erwachse nichts Gutes mehr, sondern nur Zwänge für unser nationales Benehmen, unsere lokale Selbstbestimmung, unser regionales Selbstverständnis, Einschränkungen für unsere nationale Selbstfindung. Diese zwei eben beschriebenen europäischen Befindlichkeiten stoßen sehr oft aufeinander. Man merkt es jedoch kaum, weil jeder die Gretchenfrage „Wie hältst du es mit Europa?“ unisono mit einer Befürwortung Europas beantwortet.

Die schlimmsten Europagegner konnten sich bei ihrer europafeindlichen Rhetorik durchaus einmal zu einem positiven Grundbekenntnis zu Europa und zur Europäischen Union äußern. Mir ist das im französischen Präsidentschaftswahlkampf besonders stark aufgefallen, wo auch Herr Le Pen, dem ich eigentlich europäische Ambitionen absprechen möchte, seinen EU-kritischen Diskurs durchaus mit sehr pro-europäischen Bekenntnissen unterlegt hat. Die Aufgabe der Politik besteht eigentlich darin, diese Befindlichkeiten zur Kenntnis zu nehmen, sie genau zu orten, sie voneinander zu trennen, dort wo sie trennbar sind und sie zueinander zu führen, wo sie zusammengeführt werden können, Brücken zu schlagen zwischen diesen beiden europäischen Befindlichkeiten. Wer nur auf die eine setzt und die andere unterschätzt, wer die einen privilegiert und die anderen diskriminiert, trägt mit dazu bei, dass sich die beiden Befindlichkeiten verfestigen, festsetzen in den Herzen der Menschen, in der Art und Weise europäische und damit auch nationale Zukunft zu spüren, sie regelrecht zu riechen, sie zu ergründen. Dann bleibt es bei dem großen europäischen Missverständnis, dass wir immer zwei Kategorien von Europäern sind, weil die beiden Teile Europas sprachlos geworden sind.

Die eigentliche Aufgabe der Politik ist es diese Sprachlosigkeit zu überbrücken durch eine etwas pädagogischer gestaltete Rhetorik, die beide Elemente des öffentlichen Diskurses beinhalten muss, nämlich Appell an den gesunden Menschenverstand zu machen und auch nicht an der Sprache des Herzens vorbeizureden. Europa ist nicht nur eine rational zu begründende Sache. Rational kann man auch das „Nicht-Europa“ begründen. Es braucht schon die Sprache des Herzens, um zu merken, wieso sich neben dem nationalen Diskurs die Ebene des Herzens hinzugesellen muss. Beide Komponenten gehören zusammen. Es ist nicht alles sofort einleuchtend und es wird immer schwieriger, den Menschen zu erklären, dass das europäische Integrationswerk vor allem ein Werk des Friedens war, ist und bleiben muss.

Ich gehöre nicht zu diesen Leichtfüßigen, oberflächlich Betrachtenden, diesen nicht genau Hinblickenden, nicht zu denen, die die Hintergründe nicht mehr zur Kenntnis nehmen wollen. Deshalb ist dieser Prozess, dass an der Europäischen Kreuzung immer wieder die Frage zwischen Krieg und Frieden auftaucht, nicht eine von der Geschichte entgültig beantwortete. Es gibt Bilder, die man nicht mehr zeigt, aber immer wieder zeigen sollte. Es gibt Bilder von den Schlachtfeldern von Verdun, wo Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts junge Franzosen und junge Deutsche auf den Gräbern ihrer Väter standen und sich den heiligen Schwur gegenseitig mit goldenen Buchstaben unterschrieben, dass so ein brutaler Krieg nie wieder stattfinden wird. Und 8 Jahre später fand es wieder statt. Es hat immer in Europa Menschen gegeben, die sich nach jedem Krieg sagten: „Nie wieder Krieg!“. Diesen typischen Nachkriegssatz gab es nach jedem europäischen Krieg, aber es ist erst seit dem zweiten Weltkrieg so gewesen, dass aus diesem Nachkriegssatz „Nie wieder Krieg!“ ernsthafte, mühselige, knochenharte praktische Politik gemacht wurde.

Nun sind wir ja mit uns selbst gnädig, weil wir sehr oft denken, dass wir alles was gut ist selbst gemacht hätten und für alles was sich in Schieflage befindet, andere zuständig wären. Eigentlich ist es so, dass die heute Europa regierende Generation kein Verdienst hat an dem, was zustande gekommen ist. Es ist die Generation der Väter meiner Generation, die den Anspruch auf historische Leistung in voller Fülle für sich beanspruchen kann. Wer sich vorstellt, dass 1945 /1946 geschundene Männer aus Konzentrationslagern, von den Frontabschnitten in ihre zerstörten Städte und Dörfer zurückkamen, dass Frauen, die ihre Söhne im Krieg verloren hatten, dass viele europäische Familien in jedem Land der heutigen Europäischen Union Tote zu beklagen hatten, dass diese Menschen sich aufgerafft haben - so als ob ein Ruck durch den europäischen Kontinent gegangen wäre - die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl auf den Weg zu bringen, trotz der Unkenrufe der Professoren, Bedenkensträger (Luxemburgische Stahlbarone z.B.) und obwohl sie alle Hände voll damit zu tun hatten, die europäischen Städte und Dörfer wieder aufzubauen und jeden Grund der Welt gehabt hätten, die Ärmel nicht hochzukrempeln. Alle haben damals mit angepackt!

Wenn ich den Kleinmut der heutigen Menschen vergleiche mit dem Herzensmut der damaligen, dann könnten wir uns mit der heute vorherrschenden Einstellung, mit der grundlosen Mut- und Perspektivlosigkeit überhaupt nicht vorstellen, dass wir ein solch historisches Werk jemals wieder zum Gelingen führen könnten. Daher gilt meine respektvolle Anerkennung den Lebensleistungen unserer Eltern und Großeltern, die es schwerer hatten als wir und doch fast alles besser gemacht haben als wir.

Für diejenigen, die im Europa des Jahres 2030 die europäischen Staaten regieren werden, ist die Gefahr doch sehr groß, dass die schrecklichen Figuren des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich im völligen Vergessen untergegangen sein werden. Weil niemand mehr die Ursachen der Entstehung der Europäischen Union kennen wird, die nicht anders zu gestalten war als sie eben gestaltet wurde, wird sich wohl der europäische Anspruch an das Handeln der Regierungen, der einzelnen Menschen, völlig verwirrt haben. Diejenigen, die sich im Jahre 2030 am Anfang ihres Erwachsenenlebens befinden werden, werden in genau der Lage sein, in der wir uns - relativ betrachtet - heute befinden, wenn es um historische Zeitvergleiche geht. Die im Jahre 2030 Lebenden, Regierenden werden von Hitler und Stalin so weit entfernt sein, wie meine Generation von Georges Clemenceau (1841-1929) und Wilhelm II. Nun möchte ich beide Taten überhaupt nicht miteinander vergleichen: Clemenceau und Wilhelm II. auf der einen Seite und Hitler und Stalin auf der anderen. Es geht um den Zeitabschnitt, über das Messen des Wissens, das man über die hat, die lange vor uns da waren und über die Differenz im Wissen über Wirken. Da die Menschheit insgesamt vergesslich ist und weil man heute schon feststellt, dass man sich kaum noch an etwas erinnern kann, was in den 30 Nachkriegsjahren in Europa passiert ist, geschweige denn an das, was sich in den 30 Vorkriegsjahren in Europa abgespielt hat, ist meine dezidierte Auffassung die, dass es einige endgültige Dinge in Europa gibt, die man jetzt regeln muss, weil die, die später am Drücker sind – um es salopp zu formulieren - es nicht mehr leisten können, weil das Wissen, die Bezugspunkte und das kollektive Erinnern fehlen. Meine Generation hat zumindest noch die Chance, dass wir mit unseren Vätern und Müttern über die Zeit und über das Schlimme an dieser Zeit reden können. Diejenigen, die heute 15 oder 16 Jahre alt sind, haben diese direkten Zeugen und Bezugspersonen schon nicht mehr, und die, die in 30 Jahren das Sagen haben werden, sind, losgelöst vom Bösen, nur noch dem Guten zugewandt, ohne zu wissen, dass Gut und Böse in ihren Erklärungsprofilen nicht voneinander trennbar sind.

Das Bedenkliche ist, dass an diesen europäischen Kreuzungen viele Kleinmütige stehen. Das ist der Grund weshalb wir so viel über sehr unwichtige Dinge reden und kaum noch über das eigentliche Ferment des europäischen Zusammenwachsens, nämlich dass die historische, dramatische europäische Frage „Wegkreuzung zwischen Krieg und Frieden“ so und nicht anders beantwortet werden darf. Wir haben jetzt einige, doch immerhin beträchtliche europäische Fortschritte in den letzten 50 / 60 Jahren ansammeln können. Aber auch dort, wo der Fortschritt uns Beine gemacht hat, weil das Stehenbleiben uns zurückgeworfen hätte, auch dort stehen wir an Kreuzungen. Die handelnden Personen und die sie Beobachtenden gleichermaßen.

Nehmen wir mal das Beispiel - es mag kein sehr glückliches sein - der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Es ist noch nicht so lange her, dass wir uns gestritten haben über Zuschnitt, Grundmuster und allgemeine Ausflüchte des europäischen Wachstums - und Stabilitätspaktes. Ich bin inzwischen so altgedient, dass der Euro und ich die einzigen Überlebenden des Maastrichter Vertrages sind. Ich wünsche dem Euro, dass er es länger aushält als ich!

Das prinzipielle Ausrichten des Euros und der ihn begleitenden Wirtschaftspolitik auf dauerhafte Stabilität hatte seinen guten Grund. Damals wurde der Euro von vielen angemahnt, die es eigentlich mit dem Euro überhaupt nicht ernst nahmen. Die Eurogegner hatten Stabilitätsmängel in der Wiege festzustellen geglaubt und diejenigen, die auf eine stärkere Veränderung des Stabilitätsgedankens hofften, wurden nicht wirklich ernst genommen. Heute stehen wir vor der Kreuzungsfrage, ob der Stabilitätsgedanke nur ein im Vorbeigehen zärtlich geflüstertes Mutterwort an der Wiege des Euros war oder ob dies ein permanenter Kampfaufruf für die aktive Gestaltung des Euro-Raumes bleiben soll.

Diejenigen, die es mit dem Euro nie so genau haben, sind auch jetzt diejenigen, die es mit der Stabilität nicht so genau nehmen. Obwohl es mich im nachhinein freut, dass es kaum noch jemanden gibt, der nicht schon immer für den Euro gewesen wäre. Wenn es in der katholischen Kirche so viele Spätberufene geben würde wie beim Euro, dann bräuchten wir uns über Priestermangel gar keine Sorgen zu machen. Jeder war ja immer schon für den Euro! Ich stelle heute fest, dass einige Spätberufene besser daran getan hätten, von Anfang an dabei zu sein. Dann hätten sie im Umgang mit den Stabilitätskriterien wahrscheinlich weniger Interpretationsschwierigkeiten, als sie jetzt zur Zeit haben.

Aber man darf die Menschen nicht auf Eis locken. Man darf den Menschen nicht erklären, dass nationale Währungen eigentlich ein kollektives Phänomen von gestern sind und dass man auf nationale Währungen verzichten kann, und damit auch auf nationale Bezugspunkte und Entscheidungsmechanismen; dass wir eine europäische Währung brauchen, weil wir diesen europäischen Binnenmarkt durch seine geldpolitische Dimension eigentlich vergrößern wollen und dass wir dies im Rahmen eines Stabilitätskanals machen wollen; dass die Menschen uns das glauben und wenn dann der Euro da ist, wir uns langsam, in Trippelschritten - aber auch Trippelschritte ergeben Distanz - von diesen Stabilitätszielen entfernen.

Wer jetzt die Stabilität des Euros in Gefahr bringt, auch nur ins Gerede bringt, entzieht zukünftigen europäischen Projekten, wenn sie denn glaubhaft sein sollen und bei den Menschen auch ankommen sollen, jede Grundlage. Wieso soll jemand im Stande sein, eine gutgefügte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten, wenn er durch den Beweis der Tat, den Beweis eben nicht erbringt, dass er bereit ist, wieder die Vorgaben der größten europäischen Nachkriegsrevolution, und das war die europäische Wirtschafts- und Währungsunion in ihren Grundlagen, weiterhin auszurichten? Deshalb müssen wir darauf drängen, dass es im Umgang mit den Stabilitätskriterien nicht so sein kann, dass man sich nach Lust und Laune und je nach Wahltermin, jedwede Freiheit im Umgang mit diesen Kriterien nimmt.

Das Zweite ist, dass wir Verständnis dafür finden müssen, wieso wir die Erweiterung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa und nach Zypern und Malta brauchen. Ich denke, das hat mit einer Dimension europäischer Politik zu tun, die oft unterschätzt wird, nämlich dass die Europäische Union nicht nur ein Entwurf für uns selbst sein kann, sondern auch ein Angebot an die Welt. Wer vor allem mit der afrikanischen Welt ins Gespräch kommen möchte und mit Teilen der arabischen Befindlichkeit Anknüpfungspunkte sucht, der täte gut daran Zyprioten und Malteser im europäischen Boot zu haben. Deshalb ist dies nicht nur eine Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa, sondern auch eine sehr wünschenswerte Erweiterung bis vor die afrikanische Küste.

Die Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa ist ein Unwort an sich. Es klingt fast nach Besatzung. Es ist jedoch kein militärischer Vorgang. Die Menschen dort möchten ja Mitglieder der Europäischen Union werden. Viele der Vokabeln sind aus politischen Vereinfachungsgründen zweckgeboren - „Erweiterung“, „Beitritt“ -, werden aber den Ansprüchen der Menschen nicht gerecht.

Ich lese und höre, dass viele in unseren Ländern mit dem Gedanken der Erweiterung und Vergrößerung der Europäischen Union nicht so richtig zu Rande kommen, weil die Angst vorherrscht, dass im Detail nicht gründlich genug verhandelt worden wäre und Bedenken geäußert werden, ob denn diese Länder überhaupt über das notwendige ökonomische Rückgrat verfügten.

Wie viele denken, dass die, die wir früher unsere Brüder und Schwestern in Ost- und Mitteleuropa nannten, Anschluss finden könnten an Europa? Ob wir dann glücklich werden, glücklich bleiben könnten, wenn andere hinzukommen, die indirekt den Anspruch erheben an unserem Glück teilhaben zu können? Dabei ist dieses Glück ja kein Glück, sondern materielle Zufriedenheit. Wir leben in einer Zeit wo man materielle Zufriedenheit mit Glück verwechselt, weil wir einfach keinen Begriff mehr zu Stande bringen, wenn es um Fundamentalkategorien des Lebens geht.

Es war einfach, als die Kommunisten Ost- und Mitteleuropa noch fest im Griff hatten, bei jeder Sonntagsrede und jeder größeren Veranstaltung in Westeuropa imperativ zu fordern, es würde reichen, dass die Menschen sich von der Fessel des Kommunismus befreiten um dann auf dem Wege der strikten Normalität Einzug in die europäische Familie halten zu können. Dann ist passiert, wovon die meisten gedacht haben, es würde nie passieren: Die Menschen haben es aus eigener Kraftanstrengung geschafft, die Fesseln des Kommunismus zu sprengen. Und deshalb unterschätzen wir die Menschen aus Ost- und Mitteleuropa eigentlich wenn es jetzt um Transformationsleitungen geht. Wer sich aus der Fessel des Kommunismus befreien kann, der es schafft auch sich in wenigen Jahren von administrierten Volkswirtschaften nach freien Marktwirtschaften zu bewegen, die auch einigermaßen zufriedenstellend funktionieren, der wird es auch schaffen, Eintritt in die europäische Familie zu finden. Allerdings nur, wenn wir auf unserem Marsch in die europäische Zukunft, die für viele ohnehin eine vor allem nationale Zukunft ist, auch Rücksicht nehmen auf die, die sich jetzt in etwas kleiner gesetzten Schritten dem europäischen Zug anschließen.

Ich bin sehr beeindruckt von dem, was die Menschen in Ost- und Mitteleuropa in zehn Jahren zustande gebracht haben. Ökonomisch befinden sich diese Staaten selbstverständlich noch in einer Lage, die sie auf den ersten Blick in vielen Bereichen nicht absolut beitrittsfähig macht. Wer aber die Transformationsleistung vergleicht, die es in den letzten zehn Jahren gegeben hat, der muss beeindruckt sein von der Arbeitsleistung der vor allem einfachen Menschen, die aus einem System, wo sie in kollektiver Solidarität aufgenommen waren, hineingeworfen wurden in eine Welt und kollektive Ordnungen, wo eher das Individuum dominiert als das Kollektive angestrebt wird, wo Menschen, denen nie eine Entscheidung für das Berufsleben abverlangt wurde, plötzlich von heute auf morgen unvorbereitet Entscheidungen selbst treffen müssen. So gesehen ist doch der Reformwille und die Reformfähigkeit und -leistung in Ost- und Mitteleuropa um ein Vielfaches höher als in den gesättigten Volkswirtschaften in unseren Regionen. Anstatt also einen mitleidigen Blick auf die Menschen in Ost- und Mitteleuropa zu werfen, sollten wir einen anerkennenden Blick auf die Leistung werfen die dort erbracht wurde.

Im übrigen verhielt es sich anlässlich des EU-Beitritts Spaniens und Portugals so, dass diese beiden Länder sowohl makroökonomisch betrachtet wie auch in vielen Bereichen des mikroökonomisch kaum Fassbaren, in einer fast gleichen Situation wie die Ost- und Mitteleuropäer waren. Ist es denn dermaßen unzumutbar dass wir in unseren Ländern jetzt ein bisschen teilen müssen mit den Menschen in Budapest, in Bukarest und in Warschau? Wo ist eigentlich das Schlimme daran, dass wir zu einer neuen kontinentalen Logik des Teilens kommen müssen, statt diesem Irrglauben zu folgen, wir bräuchten immer mehr. Wir werden in unserem Teil Europas nicht dauerhaft glücklich sein können, wenn die Menschen im anderen Teil Europas dauerhaft unglücklich bleiben sollen. Insofern ist das eine Sache des Herzens. Man muss Europa begreifen als diesen kontinentalen Geleitzug in dem jeder seinen Platz und jeder seine Stelle findet und in der alle ihren Rang verlieren, wenn der Geleitzug abgeblockt wird durch diejenigen, die nicht den notwendigen Mut vor geschichtlichen Herausforderungen hätten. Dass dies nicht einfach sein wird, steht außer Frage. Dass aber die Kosten der Nicht-Erweiterung größer sein werden, als die relativ minimalen Kosten der Erweiterung steht auch außer Frage.

Niemand in Europa weiß, was Europa kostet. Jeder redet darüber, als ob er in seinem Geldbeutel spüren würde was Europa kostet, dass Europa ihm den Euro aus der Tasche zieht. Wenn man bedenkt, dass für die Europäische Union in ihrer heutigen Zusammensetzung 1.01 % des europäischen Bruttosozialproduktes finanziert wird, also ein verschwindend geringer Teil des europäischen Reichtums der Jahr für Jahr erwirtschaftet wird, merkt man, dass es weltweit keine Friedensinitiative zu besichtigen gibt, die so billig wäre wie die europäische es bis jetzt war. Der Frieden hat keinen Preis. Der Frieden hat auch keinen Kostenpunkt. Wer 1 % seines Reichtums aufbringen muss, um dauerhaft Frieden in Europa zu garantieren, der kann durchaus auf die erbrachte Leistung Stolz sein. Wenn jetzt jeder von uns 5,- oder 6,- oder 10,- Euro mehr auf den Tisch legen muss, damit diese Friedenssphäre der Europäischen Union von heute ausgedehnt werden kann an die heutigen an die europäischen Grenzen stoßenden Regionen und Länder, ist dies ein Friedenspreis von dem ich denke, dass man ihn von jedem verlangen kann, der in unseren Staaten groß geworden ist und so gut lebt, dass viele von uns gar nicht mehr merken, wie gut wir eigentlich leben.

Es ist ja nicht unser Verdienst, dass wir auf der Sonnenseite des europäischen Kontinents groß wurden. Oder das Schuldverhalten derer, die nach dem zweiten Weltkrieg in Ost- und Mitteleuropa groß werden mussten, dass sie auf der Schattenseite des europäischen Kontinentes leben mussten. Insofern muss man Schatten- und Sonnenseiten so zusammenführen, dass die Sonne überall scheinen kann. Wenn vielleicht auch ein bisschen weniger als bei uns, aber dann um ein Vielfaches mehr in Ost- und Mitteleuropa. Im übrigen können wir von den Menschen, die doch wirklich etwas geleistet haben in den letzten zehn Jahren noch viel lernen, und vielleicht einige Ermüdungserscheinungen, die uns dauernd übermannen, ein Stück weit abstreifen. Diese europäische Kreuzung müssen wir in die richtige Richtung überqueren. Die richtige Richtung kann nur sein, dass wir uns darauf verständigen, dass wir das europäische Friedenswerk in Ost- und Mitteleuropa zu Ende bringen müssen.

1947 haben in Den Haag 800 Männer und Frauen sich zu einem Europakongress der besonderen Art getroffen in Anwesenheit von Winston Churchill, Konrad Adenauer und des jungen François Mitterand. Churchill, auf dem Höhepunkt seiner moralischen Autorität angekommen, traurig darüber, dass Ost- und Mitteleuropa bei diesem kontinentalen Rendezvous fehlten, erklärte damals: „Wir beginnen jetzt im Westen, was wir eines Tages in Osteuropa zu Ende führen werden“. Das ist die Frage an der europäischen Kreuzung. Es kann nur eine Antwort auf diese Frage geben, nämlich die, dass wir das was Churchill geahnt hat und was Millionen von Menschen seit Ende des zweiten Weltkrieges gewünscht haben, jetzt zum vollen Gelingen führen.

Europäische Kreuzungen, Fragen wie es in der europäischen Zukunft aussehen soll, werden uns an vielen Ecken und Punkten europäischen Seins und Werdens gestellt. Ich habe davon gehört, dass Europa nicht nur ein Angebot an Europa ist, sondern ein Angebot an die Welt. Viele junge Menschen in Europa erkennen überhaupt nicht mehr die Sinnhaftigkeit dieser Europäische Union. Was bringt diese Europäische Union uns? Es muss so etwas geben wie ein Sich-Bekennen der Europäischen Union zu ihrer Aufgabenstellung in der Welt. Es ist nicht hilfreich, wenn wir eine perfekt funktionierende institutionell wirtschaftlich mit Erfolg operierende Europäische Union haben und Afrika bleibt ein armer Kontinent. Es bringt uns überhaupt nichts, wenn wir weiter voranschreiten und die armen Teile der asiatischen Welt aus unserem Blickfeld verlieren. Es ist eine europäische Schmach, solange 28.000 Menschen jeden Tag weltweit an Hunger sterben. Es obliegt uns Europäern dafür zu sorgen, dass derartige Schreckensbilder aus unserem Wissen und Beobachtungsraum verschwinden können. Daher die Wichtigkeit der europäischen Entwicklungshilfe. Dies ist nicht ein Thema der Nationalstaaten, sondern ein Thema für die Europäische Union. Die EU hat auch vieles in den letzten Jahren zustande gebracht, aber trotzdem gilt es, sich immer wieder dazu zu bekennen, dass wir nicht für uns selbst leben, sondern dass wir einen Auftrag im Leben haben, den wir erfüllen müssen und dazu gehört das Mittragen der Last der anderen. Das ist auch ein Auftrag der sich aus der Weltlage für die Europäische Union selbstverständlich ergibt.

Man liest so viel, dass Europa ein zentraler Akteur der Weltpolitik werden müsste, dass Europa seine internationale Zuständigkeiten voll wahrnehmen müsste. Aber es ist ein bleibender Skandal, dass vor allem die größeren Länder in der Europäischen Union in den letzten Jahren die entwicklungspolitischen Ansätze strikt nach unten korrigiert haben und eigentlich nur die kleineren Länder, die ansonsten nie etwas von Weltpolitik verstehen, ihre Entwicklungspolitik nach oben korrigiert haben. Es gibt heute nur fünf Länder auf der Welt, die mehr als 0.7 % ihres Bruttosozialproduktes für Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen. Das sind Norwegen, Dänemark, Niederlande, Schweden und Luxemburg. Ich hab nie verstanden, wieso Luxemburg nicht zu den G 7-Staaten gehört. Aber ich wünsche mir, dass Deutschland zu den G 0.7 gehören würde. Es wäre gut, wenn der G7 zahlenmäßig schlechter besetzt wäre und bei der G 0,7 besser, dann wäre es um die Zukunft der Menschheit wesentlich besser bestellt.

Die europäische Kreuzung verlangt eine Entscheidung in Sachen gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Es verhält sich so, dass kein Nationalstaat allein aus eigener Kraft Einfluss in der Welt gewinnen kann. Das Bild, das wir als Europäer sehr oft abgeben, ist nicht dazu angetan, Europäer und Nichteuropäer davon zu überzeugen, dass man auf die Europäer zählen kann. Wenn aufgeregte Staatspräsidenten, Premierminister sich die Klinke in Washington in die Hand geben um unterschiedliche „Messages“ – um neudeutsch zu bleiben - im Weißen Haus abzuliefern, dann trägt das nicht dazu bei, dass die Amerikaner uns ernsthaft prüfen wollen, wenn sie uns ernsthaft brauchen würden.

Die Vorstellung, nur die großen Länder der Europäischen Union dürften sich um Außenpolitik kümmern und die mittleren und kleineren Länder hätten sich dann nur auf dem Weg der Vollzugsvollstreckung einzureihen und in eine bestimmte Richtung aufzubrechen, ist eine irrsinnige und irrige Auffassung. Im übrigen, wenn Luxemburg sich heute einer europäisch fest gefügten diplomatischen Kompanie anschließen müsste, wüssten wir überhaupt nicht, in welche Richtung wir uns auf den Weg machen sollten. Sollten wir in der Irak-Politik mit den Franzosen marschieren, mit den Briten, mit den Deutschen? Man könnte außer Atem kommen, wenn man das versuchen würde. Deshalb brauchen wir eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, wo große und kleine Länder nicht gleichberechtigt, aber jeder nach seinem Umfang, seinem Ambitionsspektrum gemäß mitentscheiden kann.

Da im Falle Luxemburgs das Ausland besonders groß ist, muss man auch sehr viel über die anderen Länder wissen. Man denkt immer, man brauche sich nur um die eigene Achse zu drehen, um die Welt zu verstehen. Das führt zu den Katastrophen, die wir schon erlebt haben. Ich sehe die Gefahr der Blindheit für die Sorgen, Ängste und Nöte anderer, eine Blindheit die am Wachsen ist und das ist nicht gut. Man muss sich mögen in Europa, man muss sich lieben in Europa, um auch die Dinge beieinander halten zu können, weil man die Menschen beieinander halten muss. Die Vorstellung der Großen, die Kleinen bräuchte man nicht, ist eine Vorstellung, die zu verheerenden Folgen führen würde. Es wäre gut, wenn die Regierenden in den großen Flächenstaaten der Europäischen Union sich den Elementarlehren der Tierkunde wieder etwas annähern würden. In Brehms Tierlexikon finden sie breite Beschreibungen darüber, wie ein Floh einen Löwen verrückt machen kann, sie finden in demselben Buch nicht eine Zeile darüber, wie ein Löwe einen Floh verrückt machen kann. Insofern sollte man sich an dieser Minimalausgabe der Naturgesetzgebung orientieren, um in den schwierigen europäischen Gewässern von der Stelle zu kommen.

Aber diese Auffassung muss bekämpft werden, weil schon in Nizza sehr viel Verstimmung im Vorfeld zu sehen war. Denjenigen, die der Auffassung sind, wir hätten schon zu viel Europa, muss man erklären, wo heute europäische Defizite erkennbar sind, die auch nur über europäische Muskelanstrengungen zu beheben sind. Es ist doch wahrscheinlich kaum umstritten, dass wir in Europa ein Mehr an Bekämpfung des grenzüberschreitenden internationalen Verbrechens brauchen; dass wir mehr Europa brauchen, wenn es darum geht die Drogenkriminalität oder den Menschenhandel zu bekämpfen; dass wir mehr Europa brauchen um die Geißel des Terrorismus am richtigen Ende anpacken zu können, dass wir mehr Europa brauchen in den Bereichen Forschung und Lehre, wo es ja ein Unding bleibt, dass Lehre und vermitteltes Wissen sich sehr oft in auseinanderstrebenden Richtungen bewegen, dass wir mehr Europa brauchen im Bereich der europäischen Sozialpolitik, wo wir größte Defizite zu beklagen haben.

Es ist ein erstaunlicher Vorgang, dass wir einen europäischen Binnenmarkt geschaffen haben, dass wir eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion auf den Weg gebracht haben, dass wir – obwohl leistungsschwach – die verstärkte Koordinierung europäischer Wirtschaftpolitik unterhalten. Die Koordinierung der Wirtschaftspolitiken muss deshalb verstärkt werden, weil ansonsten die Gefahr besteht, dass wir die Geldpolitik dermaßen überfrachten. In der Tat kommen wir in der Strukturpolitik, in der eigentlichen Wirtschaftspolitik, auf dem Weg der Annäherung politischer Grundkonzepte zu keiner schlüssigen Politik und in Sachen Sozialpolitik tun wir so, als ob dies kein europäisches Anliegen wäre. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass Arbeitsmarktpolitik primär eine europäische Angelegenheit wäre. Ich bin aber sehr wohl der Meinung, dass die erwerbstätigen Menschen, die in ein und demselben Binnenmarkt arbeiten, auch minimale Rechte haben müssen. Ein Mindestrecht an Arbeit ist das was wir brauchen in der Europäischen Union, auch im Interesse des Mittelstandes. Ich bin immer sehr betrübt, wenn sich mittelständische Vertreter ohne Überprüfung der Gesamtzustände mit dem Großkapital verbrüdern. Die Interessenlagen liegen völlig anders. Ich merke in diesem kleinen luxemburgischen Raum, der ja auch Grenzregion ist, wie sehr sich das negativ für die arbeitenden Menschen auswirkt, wenn es nicht ein minimales Grundverständnis über einige essentielle Regelungen auf dem Arbeitsmarkt gibt. Das hat nichts mit dem Verhindern von Wettbewerbsfähigkeit zu tun - ich bin ein glühender Verfechter einer nichtstaatlichen geregelten Wettbewerbsfähigkeitsentfaltung im nationalen Raum - sondern es hat damit zu tun, dass es keinen unfairen Wettbewerb in der Europäischen Union und auf dem europäischen Binnenmarkt gibt. Wobei es wünschenswert wäre, dass wir uns nur um die Dinge kümmern, um die wir uns auch kümmern müssen. Es wäre eine Überfrachtung europäischer Politik, wenn wir uns z.B. auf den Weg machen würden, uns zentral aus der Brüsseler Kommandozentrale in die Finanzierung der nationalen Alterssicherungssysteme einzumischen. Das wäre überhaupt nicht für die Europäische Union zu leisten. Wir müssen uns aber wohl darüber unterhalten, wie wir prinzipiell in allen Ländern mit dem Problem der demographischen Überalterung umgehen und wie wir gemeinsam auf derartige Herausforderungen reagieren. Das ist ja nicht gleichzusetzen mit gemeinsamer europäischer Sozialpolitik, sondern mit gleichen Problemen in unseren Nationalstaaten.

Wenn wir Europa wieder mehr zu den Menschen bringen möchten, dann müssen wir uns eben mehr über die politischen Inhalte unterhalten und nicht so sehr über institutionelle Fragen. Die wichtige Frage ist doch nicht die, ob wir jetzt im Kreis der europäischen Staats- und Regierungschefs einen gewählten Präsidenten des Europäischen Rates haben sollten, der die Funktion des europäischen Präsidenten wahrnehmen soll. Das ist eine Frage, die mich nicht interessiert. Mich interessiert nur, welche Politik dann dieser europäische Präsident vermitteln können soll. Wo brauchen wir mehr Europa und wo können wir auf das Stück Europa, das wir haben, verzichten? Da fällt mir übrigens sehr viel ein, worauf wir verzichten könnten. Wo aber brauchen wir mehr Europa? Brauchen wir jemanden, der diese europäische Politik nach außen vertritt? Er muss sie aber auch vertreten können. Es reicht nicht wenn Herr Giscard d’Estaing, Herr Blair oder Herr Aznar und andere auch sagen, dass Europa ein Gesicht brauche. Was haben wir von einem Gesicht, das den Mund nicht aufmachen kann, wenn es überhaupt keine Diskursbelieferung aus der praktischen Politik gäbe, zu dem nach außen hin gerichteten Glanzauftritt des europäischen Präsidenten?

Man sagt mir, Präsident Bush müsse wissen, mit wem er telefoniert. Aber Präsident Bush braucht niemanden, der nur den Hörer abhebt und nichts sagen darf. Er braucht jemanden, der ihm sagen kann was europäische Sache ist. Die zentrale Frage ist, wie organisieren wir europäische Außenpolitik und nicht, wer vermittelt sie nach außen. Ich bin dafür, dass das getan wird, aber da haben wir den Kommissionspräsidenten, der das problemlos tun kann.

Die Frage ist doch nicht, wie organisieren wir jetzt das Machtgefüge zwischen Großen und Kleinen in der Europäischen Union. Ich bin sehr dafür, dass die Großen bei ihrer Meinung bleiben, dass sie größer wären als die Kleinen, obwohl man das nun nicht jeden Tag schreiben muss. Mir ist wohl bekannt, dass Deutschland größer ist als Luxemburg. Es wird mir auch bei größter Anstrengung nicht gelingen, diesen Zustand in das Gegenteil zu verkehren. Nur muss jeder wissen: niemand ist groß in der Europäischen Union, wenn er die Europäische Union verlässt. Ich war dieses Jahr - so klein wie ich bin - in Moskau, in Peking und in Washington. Ich habe mit Herrn Wladimir Putin, mit Herrn George W. Bush und mit Herrn Zhu Rongji geredet und immer wenn wir in Europa zusammenhocken, geht es um die großen Probleme der Welt. Dann wird man bescheiden und lässt mal die Matadoren erklären, was Sache ist. Ich denke immer, zu militärischen und strategischen Fragen melde ich mich lieber nicht zu Wort. In Moskau, Peking und Washington wird niemand blass, wenn er hört, der luxemburgische Premierminister hat heute morgen um 8.00 Uhr erklärt, im Irak ist das so und nicht anders und so muss das gemacht werden. So verschafft man sich kein Gehör. Es wird auf Niemanden gehört, der nur für sich selbst redet. Wenn ich in Moskau, in Peking und in Washington bin, fragt mich niemand, was die Deutschen, die Briten, die Franzosen sagen, sondern sie fragen, was die Europäer denken. Kein europäischer Staat kann für sich selbst noch irgendeine Einflusssphäre in der Welt nach freien Stücken gestalten, aber als Europäer können wir vieles bewirken, in für die Menschen gute und dienliche Richtungen, wenn wir gemeinsam handeln und reden. Die Dinge sind komplizierter geworden. Deshalb wir brauchen an dieser Kreuzung mehr Europa.

1946 gab es 74 Staaten weltweit. Wir haben heute 192 Staaten in der Völkergemeinschaft. Diejenigen, die uns dauernd erklärt haben, das Ende der Geschichte wäre erreicht, haben sich gründlich geirrt. Vor 10 Jahren hat es erst richtig angefangen. Man muss sich mal die Vielzahl neuer junger Staaten außerhalb der Europäischen Union in Europa und in den angrenzenden geographischen Bereichen ansehen. Man wird dann merken, dass die Dinge in der Welt vielschichtiger geworden sind, auch auf unserem eigenen Kontinent. Diesen Vorgang, diese Multiplikation eigenständiger nationaler international handelnder Subjekte des Völkerrechts, diese Dimension müssen wir in unser Denken integrieren, um zu begreifen, dass wir ein Mehr an Europa, ein fest zusammengefügtes Europa brauchen, damit sich die in der Europäischen Union zusammensetzenden Nationalstaaten überhaupt noch Raum und Platz auf der Welt finden, um positiv für sich selbst und die anderen wirksam werden zu können. Deshalb ist mein Appell eigentlich immer der gleiche. Wenn man vor Kreuzungen steht, muss man sich fragen: Wieso stehe ich an dieser Kreuzung? Welche Kreuzungen habe ich überqueren müssen?

Als die Europäer nach dem Ende des zweiten Weltkrieges resolut auf die Friedenskarte setzten, war das die glücklichste Entscheidung, die die Europäer je getroffen haben. Diese Entscheidung gilt es für unsere Kinder und Kindeskinder zu verlängern, was Voraussetzung dafür ist, dass wir uns darüber zu verständigen wissen, dass diese Europäische Union, die jetzt erweitert wird, jetzt vergrößert wird, auch in die Tiefe hinein wachsen muss. Wenn wir es zulassen, dass aus dieser 27-Staaten-Gemeinschaft der politische Impetus verschwindet, der politische Anspruch an Zukunftsgestaltung abhanden kommt, dann wird sich diese Europäische Union in eine gehobene Freihandelszone zweckentfremden und fehlentwickeln. Das Konzept der Freihandelszone ist ein zu simples Konzept für den komplizierten Kontinent Europa. Europa bleibt ein komplizierter Kontinent. Deshalb sollten wir auch über Europa kompliziert nachdenken und einfach reden, anstatt über Europa einfach zu denken und kompliziert zu reden.

Dernière mise à jour