Jean-Claude Juncker: "Europa wird erwachsen" (Industrie-Club e.V. Düsseldorf, Deutsch-französischer Kreis e.V.)

Meine Herren Präsidenten,
Herr Minister,
Meine Damen und Herren Abgeordneten,
Herr Botschafter,
Meine Herren Konsule,
Sehr verehrten Damen und Herren,

Ich habe an sich eine schlechte Nachricht und zwar die, dass selbst begnadete Redner – Kategorie zu der ich mich ohne das Abliefern des Beweises nicht einfach so zählen möchte – dauernd an ihre Grenzen stoßen, wenn sie mit monatelangem Vorsprung, völlig unbedacht und naiv, das Thema des Vortrages, das ein Ereignis, das noch in weiter Ferne liegt krönen sollte, aussucht. Vor Monaten habe ich es für richtig und gut befunden, diesem Vortrag das Thema „Europa wird erwachsen“ vorzuschieben. Das war wohl nicht die beste Idee, die ich im Herzen des vergangenen Jahres hatte. Nun, gehört es zum Rüstzeug, der ansonsten ungelenken Staatenlenker, dass sie auch aus einem schlechten Thema noch etwas Gutes machen können. Den Beweis für diese Fähigkeit möchte ich Ihnen jetzt sofort abliefern.

Europa ist erwachsener als viele denken und kleinwüchsiger als viele dachten. Erwachsen sind wir dort, wo wir Erfolge feiern können, es ansonsten aber nicht verstehen, diese Erfolge auch öffentlich als solche zu werten. Wir haben es immerhin seit Anfang der neunziger Jahre in einer unglaublichen Kraftanstrengung hingekriegt, dem europäischen Kontinent ein Abenteuer vorzuschlagen an dem inzwischen zwölf Staaten der Europäischen Union teilnehmen, die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Niemand hatte uns zugetraut, dass wir es schaffen würden, aus dem monetären, währungspolitischen Durcheinander eine gebündelte Botschaft nach Europa und über die Grenzen Europas hinweg abzusenden. Viele in Europa haben nicht daran geglaubt, vor allem deutsche Professoren nicht. Inzwischen hat sich die öffentliche Stimmung - in Deutschland zumindest was die Professorenschaft und den etwas zurückhaltenderen Teil der deutschen Politik anbelangt - gründlich geändert. Wenn die katholische Kirche so viele Spätberufene hätte wie der Euro, dann gäbe es keinen Priestermangel mehr.

Aber auch außerhalb der Grenzen der Europäischen Union haben die wenigsten es eigentlich für machbar und gestaltbar gehalten, dass man die europäische Währungsunion wirklich termingerecht und zu den festgelegten Bedingungen einführen könnte.

Ich kann mich noch sehr gut eines Besuches im August 1995 in Washington im Weißen Haus erinnern. Bill Clinton, der damalige Präsident der Amerikaner, fragte mich: „Was gibt es denn so Neues in Europa?“. Als ich mich mit jungfräulichem Eifer ins Zeug legte, die Wirtschafts- und Währungsunion zu beschreiben, habe ich sehr schnell an seinem Mienenspiel erkannt, dass das eigentlich nicht die Antwort sei, die er hören wollte. Er hat gemeint, diese Frage der gemeinsamen Währung, darüber sollte ich doch lieber mit Finanzminister Rubin reden, was ich daraufhin auch tat. Finanzminister Rubin war auch nicht sonderlich interessiert an dem, was ich ihm dann fast wie eine Seminararbeit vortrug. Ein Jahr später - ich war wieder in Washington - erhielt ich Sonntagsmorgens ein Telefonat vom amerikanischen Finanzminister, der meinte: „Sie waren doch letztes Jahr hier und über dieses europäische Einheitsgeld möchte ich mal wieder mit Ihnen reden“. Da wurde ich mir meiner Wichtigkeit bewusst und antwortete: „Ich habe jetzt keine Zeit um darüber zu reden“. So dass ich dann zum Mittagessen ins Treasury eingeladen wurde. Sie werden zugeben, wenn der amerikanische Finanzminister sich mit dem luxemburgischen Finanzminister darüber unterhalten möchte, dann ist etwas passiert, das nicht mit dem Kräfteverhältnis zwischen den USA und Luxemburg zu tun hat, sondern mit der erkennbaren Machbarkeit des europäischen Unterfangens.

Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion haben wir hingekriegt. Aber wir schaffen es überhaupt nicht, den Menschen deren Vorzüge zu erklären. Wenn man sich mal vor Augen führt, was zur Zeit eigentlich los wäre, in dem, das wir früher mal das europäische Währungssystem nannten, in dem zeitweise 14 europäische Währungen zusammengefasst waren. Dieses Europäische Währungssystem wäre heute ein Trümmerhaufen, nach dem Kosovo-Krieg, nach den Finanzkrisen in Asien, in Russland, in Argentinien, und jetzt angesichts der Irak-Krise. Es gäbe kompetitive Abwertungen, objektive Auswertungen zu Haus. Die Europäische Volkswirtschaft wäre in ihrem Rahmen geblieben und völlig nutzlos, wenn wir nicht den uns heute schützenden Euro in der jetzigen Form hätten.

Ich ertappe mich derzeit öfters amüsiert schmunzelnd über besorgte Stimmen aus der deutschen Wirtschaft, die sich zur Zeit sehr besorgt über den Außenwert des Euros zeigen, während vor Jahresfrist noch eigentlich alle sagten, der schwächelnde Euro wäre doch der beste Beweis dafür, dass wir uns mit der europäischen Währungsunion völlig unvorbereitet in die Zukunft lanciert hätten.

Wir lassen uns in Europa – wie ich finde – allzu sehr von der in Deutschland sehr umläufigen Larmoyanz, die inzwischen sichtbarste Form der ansonsten unzerbrochenen deutschen Tugendhaftigkeit gewinnen. Alle die, die dem unheilvollen Einfluss der elektronischen deutschen Medien ausgesetzt sind - Luxemburg befindet sich in dieser misslichen Landlage - lassen sich natürlich immer mehr von der deutschen Larmoyanz gewinnen. Das führt dazu, dass wir uns des Erfolges des Euros nicht richtig erfreuen können. Aber auf dem Punkt sind wir wirklich erwachsen geworden. Wenn wir währungspolitisch nicht so großjährig wären, dann wären wir heute weltweit betrachtet und intern gesehen noch kleinwüchsiger als wir das außenpolitisch gesehen zur Zeit sind. Insofern sollten wir uns daran erfreuen.

Erfolge europäischen Miteinanders gibt es in vielerlei Hinsicht, so zum Beispiel in der Frage der deutschen Wiedervereinigung, wo wir es geschafft haben, diese in eine europäische Logik einzubetten, so dass die Wiedervereinigung der Deutschen nicht als störend empfunden wurde von den anderen Europäern, von den Nachbarn, die unter deutschem Tun im 20. Jahrhundert so bitter gelitten haben. Ich habe manchmal sogar den Eindruck, außerhalb der deutschen Grenzen erfreue man sich mehr an der deutschen Wiedervereinigung als in Deutschland selbst. Ich gehöre immer noch zu denen, die darüber echte Freude, Lebensfreude fast, empfinden, weil ich nicht dachte, dass ich das überhaupt noch erleben würde, dass Normalität in Deutschland wieder Einzug finden würde. Dies ist ohne jeden Zweifel der große Erfolg der Deutschen. Aber dieser große deutsche Erfolg wäre ohne den europäischen Erfolg und das europäische Miteinander überhaupt in der Form wie es geschehen ist undenkbar gewesen.

Es gehört mit zur europäischen Erfolgsgeschichte, dass wir die Verwerfungen und Neustrukturierungen, die in Mittel- und Osteuropa Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre stattgefunden haben europäisch zu integrieren wussten. Dort entstehen in Mittel- und Osteuropa neue Demokratien und neue Volkswirtschaften, die unter unwahrscheinlichem Transformationsstress stehen und den Menschen große Leistungen abverlangen, größere Leistungen als die, die von Deutschen, Luxemburgern oder Franzosen abverlangt wurden. Dass wir diese freigewordenen Energien, diese Neubesinnungen europäischer Nationen auf sich selbst so zu kanalisieren wussten, dass diese neuen Demokratien sich sofort in eine europäische Umlaufbahn schickten, anstatt die wiedergefundene nationale Souveränität erst im Gegeneinander miteinander auszuprobieren, ist doch auch ein Beweis dafür, dass die europäische Integration ihre Leistungen, ihre sichtbaren Erfolge, ihre friedenspendende Wirkung nach innen und außen so breitstrahlig gestaltete, dass diejenigen die dem Kommunismus den Garaus gemacht hatten sofort verstanden haben, der Zukunftsweg Polens, Tschechiens, Ungarns, Sloweniens, der Slowakei und anderer kann nur der europäische Weg sein.

Wo in der Welt entstehen neue Staaten, neue territoriale Einheiten, die sich sofort darauf verständigen, dass man die neugewonnene Freiheit, Autonomie und Souveränität einweisen muss in einen europäischen Plan der, schlüssig formuliert, den Menschen in Ost- und Mitteleuropa vorstellbar war, weil er schon bestand, bevor diese Staaten wieder zu sich selbst gefunden hatten. Deshalb sollte man diese Staaten im Übrigen mit größerem Respekt behandeln, als wir das zur Zeit tun. Die Vorstellung, es gäbe in der Europäischen Union von morgen zwei oder drei Klassengesellschaften, die Gründungsmitglieder, die Sechs, Benelux, Italien, Frankreich und Deutschland, dann die später Hinzugestoßenen, und dann die neuen Mitglieder, ist eine Einteilung der Lebenswirklichkeit der Menschen in Europa, die ich so nicht teile. Wir werden ein Europa der 25, übermorgen der 27 und später noch mehr werden. Ich glaube schon, dass es den Ungarn und den Tschechen, den Slowaken und vielen andern lieber gewesen wäre, sie hätten die Frage früher mit „Ja“ beantworten können, als zu dem späten Zeitpunkt an dem sich die Frage überhaupt stellte.

Dass wir denken, wir könnten die EU-Erweiterung meistern, stellt auch ein Maß an Selbstvertrauen in eigene originäre Gestaltungskräfte, das doch ein erhebliches Maß an Selbstvertrauen verrät. Dabei wird dieses Abenteuer, dieser kontinentale Aufbruch zu einer sehr schwierigen Aufgabe werden. Wir sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass dort die Lebensunterschiede, nicht nur materiell, sondern auch sehr oft intellektuell erheblich sind zwischen den Staaten der Fünfzehner-Union und denjenigen, die zu dieser europäischen Familie hinzustoßen werden, die sie eigentlich sentimental nie verlassen hatten. Es findet hier eine Wiedervereinigung mit friedlichen Mitteln statt. Das hatten wir diesem alten europäischen Kontinent eigentlich nicht zugetraut, dass wir die Kraft hätten, uns wieder friedlich zu vereinigen. Insofern finden hier europäische Geschichte und europäische Geographie fast wie selbstverständlich zueinander und darüber sollten wir uns freuen.

Ich kann mich angesichts der Dichte der Probleme, die sich auf uns zubewegt, überhaupt nicht von der Idee abringen lassen, dass ich die Dichte der Probleme sehr mag. Mir ist es lieber, die Erwartungen der Menschen aus Mittel- und Osteuropa sind auf uns gerichtet, als dass die Raketen in Europa auf uns gerichtet wären. Insofern muss man sich mal wieder darauf besinnen, was die Sachlage war, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa vorgefunden haben und welche unwahrscheinliche kontinentale Revolution stattgefunden hat, durch den Einsatz der freiheitsliebenden Menschen und durch die Bereitschaft, auch unseres Teiles des europäischen Kontinents, einen Schritt auf diese Menschen zu zu tun. Jetzt, wo die Schritte etwas schwieriger und behäbiger werden, wäre es manchmal angebracht, man würde daran denken, wo wir eigentlich herkommen, was europäische Geschichte im 20. Jahrhundert war und welche Zukunftsperspektiven sich vor uns auftun.

Europa ist deshalb erwachsener als viele denken, weil wir uns aufrechten Ganges auf viele Zukunftsaufgaben – so schwer sie auch sein mögen – zubewegen. Aber Europa ist auch kleinwüchsiger als viele dachten. Ich mache dies an zwei physiologisch unterschiedlichen Punkten fest. Ich habe anhand der europäischen Währungsunion versucht zu darzustellen, wie erwachsen wir eigentlich sind. Nun ist es ja bei Erwachsenen so, dass sie, wie sie sich aufrechten Ganges durch ihre ganze Biographie bewegt haben, wenn sie im Alter angekommen sind, sehr oft einknicken, wieder etwas kleinwüchsiger werden. Wann das genau anfängt, weiß ich nicht, aber ich mache mir da keine Illusionen über den eigenen aufrechten Gang. Irgendwann gehen wir wieder etwas gebückter, wenn wir uns nicht fit halten. Je länger wir uns fit halten, umso unaufschiebbarer wird der Termin des Einknickens. So ist es auch mit der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Wir müssen, um aufrechten Ganges auf lange Zeit hinbetrachtet gehen zu können, uns sehr sorgen um diese europäische Wirtschafts- und Währungsunion, uns nicht gehen lassen, uns eben fit halten.

Ich habe eine persönliche Abneigung über das derzeitige Gerede über den notwendigen flexiblen Umgang mit dem europäischen Stabilitätspakt. Erst mal sollten wir gehen, bevor wir einknicken. Wenn wir schon auf den ersten 100 Metern einknicken, dann ist der aufrechte Gang für die nächsten Jahrzehnte nicht garantiert. Deshalb müssen wir größte Sorge der Frage entgegenbringen, wie wir es denn schaffen, dass die Eintrittsbedingungen in die europäische Wirtschafts- und Währungsunion nicht zu momentanen Erscheinungen währungspolitischer Geschichte und Geschicklichkeit abrutschen, sondern dass dies dauerhafte Stabilitätsanfordernisse an die europäische Wirtschafts- und Währungsunion bleiben. Deshalb müssen wir uns sehr intensiv mit der Frage beschäftigen, wie wir es denn schaffen, die europäische Wirtschaftspolitik besser zu koordinieren.

Die Europäische Union ist heute eine europäische Währungsunion, ein europäischer Binnenmarkt, der noch verbesserbar ist, aber der immerhin gut funktioniert. Aber die europäische, einheitlich in Frankfurt geregelte Geldpolitik, hat auf ihrer Gegenseite als Ansprechpartner eine sehr parzellisierte wirtschaftspolitische Landschaft, weil Wirtschaftspolitik, so sagt es der Maastrichter Vertrag und auch die späteren Vertragsentwürfe und -entschlüsse, bleibt Sache der Nationalstaaten. Klar ist jedoch dass, wenn jeder Wirtschaftspolitiker das tut was ihm in seiner Lage als die angemessenste Form der Politik erscheinen mag, diese richtungsgebende Politikfestlegung sehr oft kollidierenden Effekt mit den Politiken anderer Staaten in der Europäischen Union hat.

Man kann auf dem Gebiet einer Wirtschafts- und Währungsunion keine total divergierenden wirtschaftspolitischen Entwürfe vorlegen, weil dies zum Schaden der gemeinsamen Währung sein wird. Es gibt keinen Beschluss des deutschen Bundestages mehr, der nur noch den deutschen Bundestag anginge. Jeder, der mit den Deutschen das gemeinsame europäische Geld teilt, hat die Pflicht sich in vormals noch innerpolitische deutsche Debatten einzumischen. Wenn über mangelnden Reformeifer in Deutschland geredet wird, wenn über Reform-Müdigkeit in anderen Staaten der Europäischen Union geredet wird, dann ist dies eben nicht nur das Anliegen des angesprochenen Staates, sondern ein gemeinsames europäisches Anliegen.

Der Stabilitätspakt, der von deutschen Initiatoren auf den Weg gebracht wurde, um die unorthodoxen Finanzkünstler in Südeuropa an die Leine zu legen, hat diese sonderbare Wendung genommen, dass heute die Südeuropäer die orthodoxen Nordeuropäer dazu ermahnen, zu europäischen Stabilitäts- und Konvergenzkriterien zurückzufinden. Insofern war dies eine gute deutsche Idee mit guten kontinentalen Folgen zum eigenen Nutzen.

Aus diesen Gründen müssen wir uns in der Endabstimmung unserer Wirtschaftspolitiken sehr intensive, nicht nur miteinander unterhalten, sondern auch Regelungswege finden, wie man europäisch getrennt zu gehende Wege so zusammenbringen kann, dass daraus eine europäische Autobahn wird. Wenn es beispielsweise in der Folge des Irak-Konflikts zu einem massiven Anstieg der Ölpreise kommt, dann kann es ja nicht so sein, dass beispielsweise die Franzosen ihre Steuern auf den Ölprodukten absenken und die Deutschen ihre Mineralölsteuer weiter in ungeahnte Höhen emporschießen lassen. Dann muss es so sein, dass diese zwei Staaten, die immerhin gemeinsam mehr als 50% des europäischen Bruttosozialproduktes ausmachen, zu einvernehmlichen Regelungen, abgesprochen mit den anderen europäischen Regierungen kommen, um eine adäquate europaweit gültige Antwort auf diese kurzweilige, wie ich hoffe, Herausforderung formulieren zu können.

Deshalb brauchen wir auch eine völlig andere institutionelle Ausrichtung dessen, was es zu leisten gilt in Sachen europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Es kann nicht mehr so sein, dass die Regierungen darüber befinden, wenn ein Land sich von dem orthodoxen Finanzpfad wegbewegt, damit es zu einem Verfahren der Frühwarnung („early warning“, blauer Brief) kommen kann. Da wäre es besser, wenn die Europäische Kommission, die das Gemeinwohl im Auge haben muss und es auch hat, selbstständig und in eigener Regie darüber befinden will, ob ein Staat sich von dem Pfad der Tugend wegbewegt oder Vorschläge machen würde, wie sich dieser Staat wieder auf das europäische Mainstream zubewegen könnte. Es wäre ebenfalls angebracht, dass die 12 Euro-Finanzminister, die heute in einer informellen Gruppe zusammenhocken, sich zu einer formellen Ratsformation ausbilden würden und auch Beschlüsse treffen könnten, die nur die Mitglieder betreffen die das gemeinsame Geld, solidarischen Kollektiv zu verwalten und auch zu verantworten haben den Bürgern gegenüber, anstatt dass wir nur zu informellen Beschlüssen fähig sind, die dann im Rat der 15 Finanzminister, wo auch die Kollegen dabei sind, die nicht Euro-Finanzminister sind, wieder verwässert werden.

Dies ist umso dringlicher geboten als sich jetzt, angesichts der Erweiterung der Europäischen Union, zehn weitere Staaten dem Ministerrat der Europäischen Union, auch per institutionem zugesellen werden, nicht aber schon Euro-Mitglieder sind. Es kann doch wohl nicht sein, dass 13 Staaten der Europäischen Union mit darüber beratschlagen und beschließen, welche Wirtschaftspolitik die 12 Mitglieder der Euro-Zone zu leisten haben. Insofern brauchen wir hier – damit wir nicht eines Tages gebückt gehen, wo doch alles für den aufrechten Gang spricht – einen energischen Zugriff der politisch Handelnden.

Aber kleinwüchsig können wir nicht nur werden, kleinwüchsig sind wir auch. Vornehmlich dort, wo Menschen von der Europäischen Union nicht nur dezidiertes Reden einklagen, sondern auch dezidiertes Handeln fordern. Beispielsweise in Fragen der gemeinsamen Verbrechensbekämpfung sind wir in der Europäischen Union nicht zu gemeinsamen Handeln fähig. Obwohl Fortschritte erzielt wurden, können wir in den Bereichen immer noch nicht mit Mehrheit entscheiden. Die Menschen erwarten zu Recht von Europa, dass sie in Europa in Sicherheit leben können. Kriminelle jeder Schattierung und jeder Provenienz haben die Grenzen längst aufgehoben. Nur die Staaten tragen noch Grenzen in den Köpfen, wenn es darum geht grenzüberschreitende Verbrechensbekämpfung im Sinne der ein Recht auf Sicherheit ableitenden europäischen Bürger garantieren zu können. Hier brauchen wir Entscheidungen die mehrheitlich sind und schnelle Entscheidungen, wenn schnelle Entscheidungen gefordert sind.

Auch in der europäischen Sozialpolitik brauchen wir ein stärkeres Zupacken. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass wir Europa zu einem sozialen Schmelztiegel machen sollten. Ich erkenne nicht viele, die europäische Alterssicherungssysteme auf einen Nenner bringen können und halte es, nebenbei bemerkt, für nicht wünschenswert und nicht anstrebenswert. Dass wir aber in einigen vitalen Bereichen, beispielsweise im Bereich des im gemeinsamen europäischen Binnenmarkt geltenden Arbeitsrechts zu minimalem Konsens finden müssten, halte ich für eine unabdingbare Forderung. Wir kommen nicht umhin, eine Art Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten zu formulieren, was ja auch dem Kampf gegen das soziale Dumping in die Hände spielen würde. Europa kann man den Menschen nicht dadurch näher bringen, dass man den Eindruck gibt, da gehe es nur um gemeinsames Geld. Nein, es geht auch um Arbeitnehmerrechte, um die richtige Positionierung des europäischen Mittelstands, um den Schutz nationaler Industrien, die sich sozial konform verhalten im Gegenspiel zu nationalen Industrien, die sich weniger sozial kompatibel auf dem europäischen Binnenmarkt bewegen. Also bedarf es hier einem Mehr an Europa.

Mehr Europa brauchen wir auch in Fragen der gemeinsamen Einwanderung. Es ist eine spektakuläre Veranstaltung, wenn man als Europäer den Debatten im deutschen Bundestag über das neue Zuwanderungsgesetz zuhört, so als ob Deutschland eine Insel in der Europäischen Union wäre. Dies ist nicht nur eine Aufgabe für den deutschen Gesetzgeber, sondern vor allem für den europäischen. Wenn ich mir nur den Mittelmeerraum ansehe, leben dort 650 Millionen Afrikaner. Aus diesen 650 Millionen Afrikanern werden 1.200 Millionen Afrikaner in 25 Jahren geworden sein. Die Hälfte der dann 1.200 Millionen Afrikaner wird weniger als 25 Jahre alt sein. Denkt man wirklich die Frage könnte man in Berlin lösen? Denkt man wirklich, dies wäre keine europäische Frage, wie die europäische Zuwanderung in Zukunft zu organisieren sein wird? Wir werden den Migrationsdruck aus dem Süden und aus den früheren Republiken der Sowjetunion haben, vieler Unglücklicher die sich um Europa herum scharen. Dies kann ein nationaler Gesetzesgeber nicht alleine leisten. Vielmehr bedarf es des energischen Zupackens europäischer Zuständigkeiten und europäisch ordnender Kräfte, damit wir diesen Migrationsdruck einigermaßen organisieren können. Die Frage ist nicht ob man Zuwanderung will oder ob man Zuwanderung abwehrt. Die Frage ist wie man Zuwanderung europaweit organisiert und an diese Aufgabe müssen wir uns heranwagen.

Aber in dem Bereich wo wir besonders kleinwüchsig sind, ist der Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die man so nicht mehr benennen möchte, weil man zwar noch außen- und sicherheitspolitische Elemente erkennen kann, aber nicht mehr das gemeinsam Verbindende. Das Bild, das die Europäische Union zur Zeit in der Irak-Frage abgibt ist im schlimmsten Masse erschreckend. Es gibt uns in dieser Frage als Europäische Union überhaupt nicht mehr. Der währungs- und wirtschaftspolitische Riese ist total untergetaucht, ist kleiner noch als der kleinste Zwerg der zur Zeit weltweit zu besichtigen ist in Fragen gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik.

Dies wird verheerende Wirkung auf die europäische Befindlichkeit haben, wenn wir diesen Zustand völligen Abtauchens nicht schnellstens in den nächsten Wochen und Monaten zu beheben verstehen. Wir haben es mit unwahrscheinlichen Vorgängen zu tun: einseitige nationale Festlegungen, die im Sommer letzten Jahres getroffen wurden, ohne dass mit den Partnern darüber in annehmbarer Form geredet worden wäre. Daraus, aber nicht nur daraus folgen wiederum konträre nationale Festlegungen, so als ob es Europa überhaupt nicht gäbe. Ein sich um die deutsch-französische Position Scharen einiger Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die blinden Auges glauben, dass deutsche und französische Position genau die gleiche wären, das aber mit Sicherheit nicht sein werden. Briefe, die dieser schreibt und jener abschickt, Briefe, die diesem gezeigt werden zum Gegenzeichnen und andern nicht vorgelegt werden. Ein totales Durcheinander, das die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union weder nach innen noch nach außen gestärkt hat.

Wenn man, wie Luxemburg, zu den etwas kleineren Mitgliedern der Europäischen Union gehört und man sich eigentlich regelmäßig von den Großen der Europäischen Union erklären lassen muss, wie die Dinge eigentlich laufen, kann man nur staunen, dass dort, wo die Großen allein sind, sie sich schlimmer benehmen als die Kleinsten nicht im Stande wären, wenn es um gemeinsame Festlegungen gehen würde. Es ist ein Unding, dass Deutsche, Franzosen, Briten, Italiener und Spanier nicht zu einer gemeinsamen Linie finden, ansonsten uns aber erklären, es reiche, dass die Europäische Union einen gemeinsamen zu wählenden EU-Ratspräsidenten oder einen europäischen Außenminister hätte, damit die Europäische Außen- und Sicherheitspolitik Gestalt annehmen könnte. Was würde der arme Teufel denn zur Zeit sagen, der, der gewählte Präsident des Europäischen Rates wäre? Und wer würde einen europäischen Außenminister, wenn es denn einen solchen gäbe, zur Zeit denn überhaupt auch nur empfangen wollen? Beide wären überhaupt nicht in der Lage so etwas wie europäischen Konsens nicht nur nicht zu herbeizuführen, sondern auch weltweit vortragen zu können. Die Frage ist doch nicht, welche Institutionen wir haben. Die Frage ist doch, ob wir von dem gemeinsamen politischen Willen beseelt sind, von dem wir beseelt sein müssten, um der europäischen Stimme in der Welt Gewicht zu verleihen.

Die Enttäuschung über dieses Nicht-Vorhandensein einer europäischen Stimme oder einer europäischen Position ist ja nicht nur meine Enttäuschung als kleiner Europäer, der den Großen basserstaunt bei ihrem Unternehmen zusieht, sondern auch das unsägliche Wehklagen derer in der Welt, die auf die Europäer warten, wenn es um vitale, essentiale Frage der Zukunftsordnung geht. Es gibt ja eine große Nachfrage nach Europa in der Welt. Viele wenden sich an die Europäische Union, um etwas klarer zu sehen. Viele denken, die Europäische Union wäre nicht nur ein Konstrukt für uns selbst, sondern ein Angebot an die Welt, getragen von gemeinsamen europäischen Überzeugungen, von Wertvorstellungen, von Zielsetzungen, die wir für uns selbst, aber auch für die Welt, wenn die Welt dann Abnehmer wäre für derartige Vorstellungen, haben müssten. Insofern ist dies ein sehr betrüblicher Zustand. Das wissen inzwischen aber auch alle.

Ich gehöre nicht zu den Europa-Euphorikern. Ich bin nie der Meinung gewesen, dass man mit blinden Zukunftsformeln die europäischen Dinge von der Stelle bewegen kann. Ich zähle mich zu den Euro-Realisten, zu denen, die versuchen dem gesunden Menschenverstand politische Form zu geben, was eigentlich ein relativ schwieriges Unterfangen ist, weil der gesunde Menschenverstand relativ unterschiedlich unter den breiten Volksmassen verteilt ist. Also ich bin da für eine sehr realistische Herannäherung.

Ich bin aber auch sehr dagegen, dass wir jetzt in stupiden, oberflächlichen Pessimismus verfallen. Ich bin mit dem was unsere amerikanischen Freunde im Detail vorbringen nicht einverstanden. Aber ich bin sehr dagegen, dass wir in Europa – und dies stört mich an der öffentlich vermittelten europäischen Befindlichkeit – so tun, als ob es zwischen dem amerikanischen Präsidenten und Saddam Hussein keinen Unterschied mehr gäbe. Es gibt sehr wohl einen Unterschied zwischen der amerikanischen Demokratie und der irakischen Diktatur. Ich bin entschieden dagegen, dass man den amerikanischen Präsidenten zur Karikatur macht und Saddam Hussein zur Miniatur. Beides halte ich für ein sehr gefährliches Unterfangen. Ich bin aber auch der Meinung, dass man unseren amerikanischen Freunden sagen muss, was man mittragen kann und was man nicht mittragen kann und dass es unterschiedliche Wege zu einem gemeinsamen Ziel gibt.

Ich lasse auch nicht gerne zu, dass die Europäer jetzt in zwei Kategorien eingeteilt werden: die Guten und die Schlechten. So läuft das nicht in dem transatlantischen Verhältnis, von dem ich im übrigen sage, dass es auf absehbare Zeit und auf lange Sicht keine politisch gestaltbare Alternative in Europa und in Amerika gibt. Wir müssen alles tun, damit das transatlantische Verhältnis nicht dauerhaft geschädigt wird durch die Auseinander-Dividiererei die Saddam Hussein erstaunlicherweise mit großem Segen, mit großem Erfolg zustandegebracht hat.

Es gibt auf absehbare Zeit keine Alternative zur transatlantischen Solidarität und zur transatlantischen Zusammenarbeit. Dies mag divergierende Meinungsäußerungen im konkreten spezifischen Irak-Fall nicht ausschließen. In der Demokratie ist es so, dass nicht einer sagt, einer vorsingt und die anderen abnehmen. Es wird gemeinsam gesungen. Und wenn man zu gemeinsamen Gesang noch nicht fähig ist, dann muss man weiter proben und probieren, bevor die Partitur auf adäquate Art und Weise einstudiert ist. Aber das darf uns doch nicht davon abbringen, dass wir im selben Orchester spielen möchten. Bei aller Verdrießlichkeit des Momentes, muss man immer wieder auf die Solidität und auf die Solidarität der transatlantischen Bande hinweisen.

Es darf auch nicht so sein, dass aus der Irak-Krise eine europäische Krise, die anhaltenden Charakter hätte, erwachsen wird. Wir haben nicht geglänzt als 15 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Wir laufen zur Zeit mit schlappen Ohren durch die europäische Geschichte und wir müssen begreifen, jetzt nachdem wir für jeden sichtbar vorgeführt haben, wozu es führt, wenn die Europäer nicht zu einer gemeinsamen Beschlussfassung fähig sind. Wir müssen uns jetzt darauf verständigen, dass wir aus dieser Krise lernen und diese Krise nicht zum Dauerzustand europäischer Endscheidungsfindung heranreifen lassen dürfen, sondern uns jetzt die Instrumente an die Hand geben, um zu versuchen, zu verhindern, dass derartiges sich nicht in der jetzt zu besichtigen Form wieder wiederholen kann.

Wenn wir jetzt nachlassen in unserem Bemühen, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zustande zu bringen, dann haben diejenigen gewonnen, die auf Dauer an der Tatsache dass Europa getrennt marschiert und getrennt handelt zu gewinnen haben. Wenn wir aber jetzt, angesichts der Enttäuschung, die wir selbst verursacht und losgetreten haben, die Kraft in uns selbst finden, auch von unseren öffentlichen Meinungen angetrieben, uns jetzt wirklich einer den anderen an der Hand zu nehmen und zu gemeinsamer Beschlussfassung zu den richtigen Instrumentarien zu kommen, wenn wir jetzt unseren Werkzeugkasten so komplettieren, dass wir über die Schraubenzieher verfügen, die wir brauchen um europäische Außenpolitik formulierbar und gestaltbar zu machen, dann ziehen wir die richtigen Lehren aus dieser Krise.

Wenn diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Europäische Union aus der Taufe gehoben haben so kleinmütig gewesen wären, so kleingläubig auch gewesen wären, dass sie beim geringsten Widerstand und bei dem geringsten Sich-Auseinanderbewegen der damals sechs europäischen Staaten sofort mit der gemeinsamen Anstrengung aufgehört hätten, dann wären wir nie so weit gekommen, wie wir gekommen sind. Wenn die Gründungsväter der Europäischen Union heute in der Europäischen Union leben würden, wenn sie zurückkommen könnten, um sich anzusehen was wir aus ihrer Idee, aus ihrer rudimentären und deshalb richtigen Idee gemacht haben, dann würden sie aus dem Staunen nicht herauskommen. Dass wir es in Europa geschafft haben, zum ersten Mal in der europäischen Geschichte, nach diesem schrecklichen Zweiten Weltkrieg, der Deutschland, Luxemburg, Frankreich und alle im gleichen Maße und alle waren auch irgendwo Opfer betroffen hatten, und betroffen gemacht hat, die richtige Lehre zu ziehen, dass wir das nie mehr in Europa wollen, dass wir dies in vielen Bereichen europäischer Politik und in vielen Bereichen und Kompartimenten europäischer gesellschaftspolitischer Ordnungen zu einen Erfolg haben heranreifen lassen, dies zeigt doch, dass wir als Europäer zu Vielem fähig sind.

Deshalb kann der Aufruf heute nur sein, angesichts der enttäuschenden Momente die wir zur Zeit erleben, dass wir uns auf das Eigentliche besinnen: Mehr Europa heißt nicht weniger Europa, sondern heißt, aufgrund gemeinsamer Überzeugungen in der Welt, für die Werte einzutreten, für die es sich einzutreten lohnt und für die die Europäer einen hohen Blutzoll im zwanzigsten Jahrhundert haben entrichten müssen. Wir sollten daran denken und uns anständig als deren Erben benehmen.

Vielen Dank.

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