Jean-Claude Juncker, "Globalisierung in Luxemburg", Transcription du discours tenu à la Conférence publique organisée par le Wort, Luxembourg

Lieber Freund Léon,
Herr Parlamentspräsident,
Herr Minister,
Herr LCGB-Präsident,
Herr Professor Kruip,
Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Ich habe auf dem Weg hierhin einen Blick in das Einladungsschreiben geworfen, und da lese ich, dass mir exakt zehn, großzügigerweise fünfzehn Minuten zur Verfügung stünden, um dieses Thema global zu analysieren, Vorschläge zu machen, wie man etwas tun könnte, und Entschuldigungen dafür zu finden, wieso man es nicht tut.

Nun brauche ich normalerweise zehn bis fünfzehn Minuten für den ersten Teil einer etwas allgemeiner gefassten Einleitung. 15-minütige Reden sind nicht so sehr mein Ding, besonders dann nicht, wenn jemand vor mir, was eigentlich kaum akzeptabel ist, viel länger redet und so vieles vorbringt, was in den seltensten Fällen zum Widerspruch anregt, in den meisten Fällen aber zur extremsten Nuancierung Anlass bieten könnte… hätte man Zeit, dies zu tun. Die habe ich nicht, also bin ich, obwohl über eine weniger ausgeprägte Redezeit verfügend, hier zum summarischen Vortrag verpflichtet, was insofern ja nicht unangenehm ist, weil man dann bei der Fragestunde sagen kann: „Ja, hätte ich Zeit gehabt, hätte ich auch das selbstverständlich mit der gebotenen Nuancierung vorzutragen gewusst.“

Globalisierung – Globalisierung in Luxemburg – und die sich aus der Globalisierung ergebenden Schlussfolgerungen in Luxemburg oder, weil wir in breiteren Räumen denken, in Europa (man stößt sehr schnell auf breitere Räume, wenn man Luxemburger ist) ist ein Thema der besonderen Art.

Ich habe den Eindruck, im Gespräch mit vielen Luxemburgern, dass man die Globalisierung nicht mag. Und dass man, um sich auf die positive Debattenseite zu schlagen, von sich behauptet, man möge die Globalisierung nicht, weil sie ja zu Ungerechtigkeiten führe. De facto ist es so, dass man in Luxemburg die Globalisierung nicht mag, weil man einen ausgeprägten Hang zum Egoismus und zum Fudamentalegoismus hat.

Bevor die Globalisierung Luxemburg erreichte, hatte die luxemburgische Globalisierung die Welt erreicht, und wir fanden das sehr in Ordnung. Jetzt erreicht die Globalisierung uns, und selbst Fortgeschrittenere, also rückständig Evoluierende wie ich, finden plötzlich Gefallen an den Elementarprinzipen der katholischen Soziallehre. Und weil sie den Ausdruck nicht mögen, nennen sie dieselbe dann halt christliche Soziallehre… die es auch gibt, und die ich hier nicht kleinreden möchte.

Luxemburg verdankt einen Großteil seines Wohlstands den Aktivitäten des sich hierzulande seit den siebziger Jahren expansiv entwickelnden Finanzzentrums. Wir haben die Welt, große Teile der Welt – jedenfalls die Welt der Finanzströme – sehr voluntaristisch globalisiert. Wir haben Dinge gemacht in Luxemburg, die deshalb hier gemacht werden konnten (und die deshalb Gefallen fanden in den Augen vieler, vor allem mächtiger Kapitalinteressen), weil man die Dinge sonstwo nicht machen durfte.

Luxemburg hat sein Finanzzentrum aufgebaut – eine lange Geschichte, die viele Nuancen bei der Betrachtung braucht –, weil wir Regeln zur Anwendung brachten, die anders waren als die Regeln in Deutschland.

Nun bin ich, obwohl sehr deutschfreundlich, überhaupt nicht von der Überlegenheit des deutschen normativen Denkens überzeugt. Man hat auch im Bankgewerbe in Deutschland Regelungen erlassen, die mit dem gesunden Menschenverstand nur sehr entfernt verwandt waren. Das haben wir in Luxemburg etwas besser gemacht. Inzwischen hat man diese Regeln auch in Deutschland eingeführt, weil der gesunde Menschenverstand, der ja sehr unterschiedlich verteilt ist, die größere Menge irgendwann erreicht, wo die Schnitte sich machen.

Jetzt bin ich ja Finanzminister dieses Landes, aber wie Insider hier im Saal wissen, kein großer Anhänger des Bankgeheimnisses. Das Bankgeheimnis wurde ja nicht erfunden, um den Finanzministern dienlich zu sein, eher das Gegenteil war der Fall. Deshalb bin ich eigentlich dagegen, aber Banker kriegen da immer ordnungspolitischen Schüttelfrost, wenn ich so etwas sage, deshalb erwähne ich das jetzt hier nicht.

Unabhängig und jenseits des Bankgeheimnisses haben wir, sowohl im Finanzsektor als auch beispielsweise im Medienbereich – Fernsehen, Rundfunk und elektronische Medien – Regeln in den Rest der Europäischen Union exportiert, die es dort nicht gab. Deshalb konnten wir grenzüberwindend wettbewerbsfähig sein. Dass jetzt andere sich diese Regeln – die wir nicht erfunden, aber trotztdem ge- und benutzt haben – zu eigen machen und dann ihre Globalisierung nach Luxemburg exportieren, finden wir paradiesbeleidigend.

Trotzdem waren wir, wenn es um die theoretischen Fundamente dessen geht, was man etwas oberflächlich, weil zu breit gefasst, Globalisierung nennt, bahnbrechend wirksam.

Was spricht eigentlich gegen Globalisierung? Fast nichts. Die Vorstellung, die wir in Luxemburg haben – und Deutschland ist da streckenweise sehr luxemburgisch –, dass Globalisierung gut ist, solange sie uns nutzt, solange sie exportfördernd ist, solange sie wohlstandsmehrend im eigenen Land zur Anwendung gebracht werden kann, aber schlecht ist, wenn sie sich wohlstandsgefährdend auswirken könnte, diese Vorstellung ist eine, wie ich finde, höchst unchristliche Vorstellung.

Wo steht eigentlich geschrieben, auch in den Heiligen Schriften, dass es dieses Naturrecht der Luxemburger und ihrer Nachbarn gäbe, den Reichtum der Welt für sich allein und exklusiv beanspruchen zu dürfen, und dass andere, von der Sonne und den Umständen weniger reich Belohnte, keinen Anspruch auf Anschluss an diesen Wohlfahrtszug haben dürften?

Ich lese, auch in der mir näher stehenden luxemburgischen Publizistik, dass das, was wir zu gestalten versuchen, nämlich die Dinge der Welt, so wie sie morgen sein werden, heute schon zu Bestandteilen luxemburgischer Politik zu machen – Chinapolitik und anderes –, dass man dies nicht tun sollte, weil die Dinge dort noch nicht so wären, wie sie sein müssten. Und man vergisst dabei einiges.

Mitte der achtziger Jahre wurden zehn Prozent der Produkte weltweit in sogenannten Entwicklungsländern hergestellt. Im Jahr 2020 werden 50 Prozent der industriellen Produktion allein auf China und Indien entfallen. Man kann sagen: das ist mir egal, das kümmert mich nicht, das brauche ich nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es wäre gut, wenn man es trotzdem täte. Und wenn nicht alle es tun: ich tue es. Denn man muss sich auf die Visitenkarte dort setzen, wenn man eines Tages – wenn die Globalisierung, die ja erst in den Anfangsstadien ist, voll entfacht sein wird – Nutznießer sein möchte. Nicht auf Kosten anderer, sondern für uns gewinnbringend und für andere nicht gewinnmindernd. Man muss auf dieser Umlaufbahn rechtzeitig Platz nehmen.

Der Welthandel ist in den letzten Jahren im Schnitt um acht Prozent jährlich gewachsen. 1,4 Prozent der direkten Auslandsinvestitionen wurden in China und Indien getätigt. Es gibt heute mehr direkte Auslandsinvestitionen in China und Indien als in den USA, in Europa und Japan. Man muss das nicht zur Kenntnis nehmen. Es wäre gut, wenn man es trotzdem täte. Weil dort wird die Musik spielen.

In Indien werden pro Jahr 250000 Ingenieure ausgebildet. Man muss das als Luxemburger nicht zur Kenntnis nehmen; es wäre gut, wenn man es täte: dass Jahr für Jahr 250000 indische Ingenieure auf den Wissensmarkt vorstoßen, dass in China jedes Jahr 100000 Ingenieure ausgebildet werden. 250000 indische Ingenieure dieses Jahr, 100000 chinesische Ingenieure dieses Jahr, das ergibt 350000 Luxemburger – und die sind nicht alle Ingenieure. Also wäre es gut, wenn man dies zur Kenntnis nähme.

Diese informelle Regel, wonach Wohlstand etwas ist, was Luxemburgern und Europäern im weiteren Sinne des Wortes reserviert, vorbehalten sein müsste, und dass Wohlstand nicht etwas ist, wozu auch andere vorstoßen dürften, ist eine Unregel, denn es ist keine Regel.

Ich mag an der Globalisierung – die ich ansonsten verabscheue – sehr, dass andere, die ohne Globalisierung überhaupt keinen Zugang zur Gesellschaft des Wissens und zur Gesellschaft des Wohlstands haben könnten, jetzt diesen Zugang haben.

Und die Luxemburger, die sich heute beklagen über Globalisierung und dass sie sich von der Globalisierung erreicht fühlen, sollten immer vor Augen haben, dass sie selbst Globalisierungstäter – aber eigentlich im noblen Sinne des Wortes – waren.

Nun lese ich, gegen Globalisierung muss man sich wehren. Ich gebe hier freimütig zu, ich wehre mich überhaupt nicht gegen Globalisierung. Aber ich bin sehr dagegen – ich darf ja hier im eigenen Namen reden, ohne dass da jetzt große Geschichten losgetreten werden –, dass man sich der Globalisierung gegenüber auf eine neutrale Rückzugsposition besinnt und so tut, als ob das so sein müsste und als ob es keine Konsequenzen zeitigen würde. Globalisierung ist gut, aber sie kann auch schlecht sein, wenn man nicht politische Mechanismen ersinnt, ergründet, durchsetzt, die helfen, die Globalisierung zu kanalisieren.

Nun ist es so, dass Globalisierung Wohlstand mehrt, sowohl bei uns als auch bei anderen, dass sie aber auch, sowohl bei uns als auch bei anderen, Lebenschancen verhindert, dass sie auf viele Kategorien der sehr unterschiedlich verfassten Gesellschaften wirken kann. In Europa geht die Rede um, dass sich der Nationalstaat gegen die negativen Gesamtkonsequenzen, die sich aus der Globalisierung ergeben, aufstellen müsste. Kann der Nationalstaat das noch? Er kann es nicht. Er kann positiv wirken. Doch nicht alle Nationalstaaten tun das.

Zur Globalisierung gehört auch, dass man Prozesse begleitet, sie einebnet mit dem Einverständnis derer, die die Gesamtprozessierung betrifft. Globalisierung allein, weil exklusiv auf Machtgeschehen fußend, produziert ja keine Solidarität per se, weder bei uns noch bei anderen. Es braucht also immer das politische Hinzutun, die zusätzliche Handreichung durch die politisch Gestaltenden. Es braucht so etwas in der Welt – das klingt so altmodisch – wie politische Überzeugung und dementsprechend inspirierte Täter.

Entwicklungshilfe (ein Ausdruck, den ich nicht mag), Angebot zur Zusammenarbeit, Partnerschaft zwischen Europa und der Dritten Welt – die ich auch nicht so benennen möchte, weil ich diese Rangordnung eigentlich nicht mag, die so sehr von europäischer arroganter Rhetorik vorbestimmt ist. Entwicklungshilfe, Angebot zur Partnerschaft: Was machen wir da in Europa? Nichts. Ich sage das deshalb, weil wir sehr viel tun. Und dass das uns erlaubt, sich positiv von anderen, größeren Flächenstaaten abzuheben. Luxemburg bringt pro Jahr 0,89 Prozent seines nationalen Reichtums für entwicklungspolitische Zwecke auf. Wenn alle dies täten, hätten wir das Problem der Armut weltweit in 20 Jahren im Griff. Keines der G7-Länder tut dies… ich lerne die ja jetzt intimst kennen, weil ich als Euro-Obermufti Zugang habe zu diesem erlauchten Club. Übrigens, in Singapur, bei der letzten Sitzung, als es um Entwicklungshilfe ging, hat man mir gesagt, das hat mit dem Euro nichts zu tun, Sie können die Sitzung jetzt verlassen. Ich sagte, das mach ich gerne, wir sind auf 0,89 Prozent, der höchste von euch ist auf 0,28, ich gehe gerne.

Wir gehören immerhin zu den G-0,7 weltweit. Und davon gibt es nur fünf… allesamt sogenannte kleinere Länder, wenn ich das mit luxemburgischer Bescheidenheit so sagen darf. Da sind die Norweger – klappt man den Nordzipfel Norwegens um, ist man in Palermo, aber ein kleines Land für uns –, die Dänen, die Niederländer, die Schweden und wir, wir machen das.

Deutschland ist weit davon entfernt, Frankreich auch, Großbritannien auch, von Japanern und Amerikanern möchte ich wegen meiner traditionellen transatlantischen Verbundenheit und meiner Asien-Erotik, die mich immer wieder ergreift – was die Luxemburger nicht wissen, weil sogar das „Luxemburger Wort“ kaum berichtete über meine Reise nach Laos und Kambodscha (immerhin nur 14 Millionen Einwohner in Kambodscha und sechs Millionen Einwohner in Laos; was soll uns das kümmern, wir sind ja Luxemburger, Großherzogtum; es sind kleine Republiken, die ich da besucht habe, doch Globalisierung erreicht auch die) –, also wegen meiner Asien-Freundlichkeit möchte ich auch über Japan nichts Schlechtes sagen, aber die sind alle unter 0,3 Prozent.

Drei Tage Irak kosten und verschlingen mehr Geld als die Entwicklungshilfe der USA für ein Jahr. So.

Und dann gebe ich gerne zu, dass wir ganz winzige, kleine Gestalten am Weltenfirmament sind. Aber unser Stern leuchtet heller als der Stern derer, die mehr Geld mit Waffenexport verdienen, als wir Entwicklungshilfe leisten. Insofern gibt es kleine Länder, die manchmal trotzdem auch irgendwo große Nationen sind und sich mit anderen messen können. Es wäre gut, wenn alle das täten, was wir tun.

Man sagt mir, man schreibt mir, manchmal wenn man freundlicher aufgelegt ist, bittet man mich auch, dass wir uns nationale Instrumente zur Abwehr der Globalisierung an die Hand geben sollten. Es gibt diese nationalen Instrumente nicht.

Ich habe mit dem Herrn Mittal ja heroische Kämpfe ausgefochten. Und weil man die Dinge, wenn sie kompliziert sind, immer vereinfacht, denkt man, Herr Mittal habe dann trotzdem sein Ding da gemacht. Dass er das Ding ganz anders hat machen müssen, als er das Ding plante, muss ich ja nicht beschreiben. Leider Gottes tut auch sonst niemand das. Deshalb stelle ich das mal in den Raum. Es ist nicht so gekommen, wie es geplant war.

Kann ein Nationalstaat sich gegen Derartiges wehren? Nein, er kann das nicht. Kann ein Finanzzentrum wie Luxemburg in breite Klagen ausbrechen, wenn es sich anschickt, die Tatsache zu kritisieren, dass Hedge-Fonds und geballte Finanzinteressen industrielle Entscheidungen letztendlich mehr beeinflussen als Politik, Gewerkschaften und die Menschen? Nein, Luxemburg kann das nicht.

Kann jemand, der vor allem im Stahl- und im Bankenbereich weltweit hegemonial, fast imperialistisch tätig war, wie wir das immer waren, sich darüber beklagen? Wir, die wir sagen, die brasilianische Stahlindustrie gehört uns, Teile der deutschen Stahlindustrie gehören uns, Teile der belgischen Stahlindustrie gehören uns? Können wir uns dagegen wehren?

Wenn andere uns erklären, ja, ja, es wäre schon richtig, dass das international geregelt würde, können wir überhaupt nichts tun. Aber wir können darauf achten, dass dies sich zu annehmbaren Bedingungen vollzieht.

Und deshalb gibt es für Luxemburg letztendlich – ich komme noch auf die reine Luxemburgensia zu sprechen – keine andere Wahl, als sich in diesem europäischen Verbund gestaltend, ordnungspolitisch, um es in deutscher Politiksprache zu formulieren, einzubringen. Es gibt im übrigen kein französisches Wort für Ordnungspolitik, das füge ich hinzu, das weiß man, wenn man Euro-Vorsitzender ist. Wenn man Ordnungspolitik sagt, machen die Franzosen große Augen. Und wenn man „gouvernement économique“ sagt, verstehen die Deutschen überhaupt nicht, wovon man redet. Ich muss aber beides tun, und tue auch so, als ob ich beides täte. Ich tue aber nichts von beidem.

Dass wir uns in diesen europäischen Verbund einbringen, um Gewicht zu erlangen – nicht wir, wir sind kleine Heilige in einer großen Kirche – und mit den Mitteln, die unsere sind, einzuwirken auf die inhaltliche Gestaltung, die die Europäische Union dem Weltgeschehen verpassen kann. Man sollte das nicht unterschätzen.

Wir denken, wir könnten alles selbst tun. Wir können selbstverständlich nicht alles tun. Andere, größere als wir, denken, sie könnten alles selbst tun. Die können selbstverständlich nichts mehr selbst tun. Aber wenn wir uns als Europäer, als nahezu 500 Millionen Menschen – 319 Millionen Europäer haben den Euro – zu Wort melden und uns einbringen in diese internationale Wirtschaftsordnung, die fundamental ungerecht bleibt – die ist ungerecht! –, um die Dinge zu verbessern, dann haben wir Möglichkeiten, in der Welt etwas zu tun. Unser Leben nicht verschleudert zu haben, wenn es einmal vorbei sein wird, sondern diesen fast zärtlichen Eindruck zu haben, es war zu irgendwas nützlich, dass man sich da bemüht hat.

Ich mag das Wort auf dem Grab von Willy Brandt. Da steht einfach drauf: „Man hat sich bemüht. Willy Brandt.“ So. Bemühen müssen wir uns, und uns deshalb einbringen in größere Zusammenhänge, weil wir zu eigener Machtentfaltung ja nicht fähig sind. Niemand in Europa ist zu eigener, inhaltlicher Machtentfaltung überhaupt noch fähig.

Dieser Euro zum Beispiel – das ist nicht mein Ding heute Abend, aber ich sage es trotzdem; ich werde zwar nicht dafür bezahlt, aber man erwartet das so von mir – hat uns unwahrscheinlich geschützt in den letzten Jahren. Hätten wir diese Einheitswährung nicht gehabt, hätten wir mehr Arbeitslose in Luxemburg, hätten wir unendlich brüchige Schwachstellen in unserer Wirtschaftsstruktur. Wieso?

Stellt jemand sich wirklich vor, das Europäische Währungssystem, so wie es vor der Euro-Einführung bestand, hätte Widerstand leisten können im Augenblick der südostasiatischen Finanzkrise? Das war 1997 – von uns vergessen. Die Laoten und die Kambodschaner wissen noch was davon, aber das sind ja kleine Länder, das muss uns nicht kratzen. Die russische Finanzkrise, die lateinamerikanische Finanzkrise, der 11. September, der Krieg im Irak, das doppelte Nein der Franzosen und der Niederländer zum Europäischen Verfassungsvertrag – denkt man wirklich, wir hätten das einfach so unbeschadet durchschreiten können, wir hätten das einfach so durchwinken können, wenn wir dieses, uns alle disziplinierende, uns in Solidaritätsverhalten pressende normative Gesamtgebiet des Euro nicht gehabt hätten? Nein, es wäre uns allen wesentlich schlechter gegangen, wenn wir dies nicht gehabt hätten.

Also, wenn wir nationale Souveränitätsattribute – und Währung ist neben Armee das nationale Souveränitätsattribut schlechthin – nicht aufgegeben hätten, wir würden in der Welt nichts zählen, und wir wären als Nationalstaaten insgesamt viel schwächer geworden. Wenn Herr Blair, der ja, wie man weiß, nicht zu meinen intimsten Freunden gehört – es geht ihm auch nicht gut zur Zeit, was ihn sympatischer macht, denn ich mag ihn als Menschen sehr; man kann immer in der Sache Differenzen haben, aber man darf ja auch Menschen mögen, mit denen man manchmal in der Sache auseinanderliegt. Ich schaue meinen Freund Robert Weber an, der immerhin von sich behaupten darf, dass ich ihn zum Mitglied der christlichen Gewerkschaft gemacht habe. Ich war nämlich in der christlichen Gewerkschaft, bevor ich in der Christlich-Sozialen Volkspartei war. Er nicht. Er war in der CSV, bevor er im LCGB war, denn er hat mich in die Partei aufgenommen. Insofern gibt es, so am Lebensabend – dem nähern wir uns ja an –, zärtliche Momente, an die man sich erinnern soll. Also man kann auch Divergenzen und Differenzen haben, ohne sich als Menschen auseinanderzubewegen, wobei ich hier aus Gründen der Freundschaftserhaltung sofort betonen möchte: Ich habe mit ihm weniger Differenzen als mit Tony Blair. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich weiß auch nicht mehr, wie ich jetzt auf Blair gekommen bin. Weil niemand in der ersten Reihe zuhört, kann auch niemand mir jetzt das rettende Stichwort hier anbieten.

Wenn Herr Blair darüber nachdenkt, was Europa als Abwehr gegen exzessiv negative Globalisierungsgesamteffekte erfinden könnte – die Antwort ist der Euro. Der ist eine Antwort auf die Globalisierung. Ein Mehr an entwicklungspolitischer Anstrengung wäre eine Antwort auf spätere Auswüchse der Globalisierung.

In Afrika, wovon ja niemand mehr redet, auf der anderen Seite des Mittelmeers, wohnen 850 Millionen Menschen. Das werden im Jahr 2020 eine Milliarde 500 Millionen sein. Von diesen 1,5 Milliarden Menschen werden 50 Prozent weniger als 25 Jahre alt sein.

750 Millionen Afrikaner sind im Jahr 2020 weniger als 25 Jahre alt. Und wenn nur zehn Prozent sich in Bewegung setzen, haben wir ein Problem in Europa. Wir werden das dann Globalisierung nennen. Es ist aber unser Problem, weil wir vermeiden können, dass es zu einem interkontinentalen Problem wird. Also mehr Anstrengungen im Bereich der internationalen Solidarität wären für Europa, wie ich finde, absolut notwendig.

Solange 25000 Kinder weltweit jeden Tag den Hungertod sterben, solange kann doch Europa nicht von sich behaupten, es sei mit seiner Aufgabe am Ende angelangt. Solange es dieses Phänomen gibt, sind wir nicht fertig mit dem, was wir machen. Weil Europa kann ja nicht nur eine Erfindung für uns selbst sein, ein Angebot an die eigene Adresse. Es muss eine Offerte an die Welt sein. Wir haben ja etwas anzubieten, etwas zu bewegen. Wir stellen ja etwas dar, historisch, philosophisch, religionspolitisch im guten Sinne des Wortes. Wir sollten uns also darum bemühen.

Globalisierung in Luxemburg – sie kommt ja jetzt an –, was heißt das? Ich sage das mal in einfachen Worten; die sind immer falsch, aber immer auch richtig, sie helfen jedenfalls nachher beim Gespräch. Seit ich politisch denke – also einige bezweifeln ja überhaupt, ob ich in dem Stadium schon angekommen bin –, seit ich mich mit grundsätzlichen Fragen beschäftige – je länger ich das tue, und je tiefer ich Einblick habe in die Dinge der Welt und die Lebensumstände der Menschen hier, umso ein heftigerer Anhänger der katholischen Soziallehre werde ich. Denn dort ist alles aufgeschrieben, was wichtig ist. Und wenn man sich das bei Lichte betrachtet, auch weltweit betrachtet, und wenn man daran denkt, dass man sich hat beschimpfen lassen, noch zu meinen Lebzeiten – früher meine ich –, dass man sich für die katholische Soziallehre einsetzt…

Wer ist denn eigentlich heute noch von der Prinzipiensetzung her sehr weit davon entfernt? Wer tritt denn heute noch für Klassenkampf ein? Wer ist denn nicht für das Miteinander von Kapital und Arbeit? Wer kämpft denn noch gegen die soziale Marktwirtschaft? Sie wurde sogar im inzwischen von Franzosen und Niederländern zu Unrecht abgelehnten Europäischen Verfassungsvertrag als Grundpetitum in der Präambel zurückbehalten. Wenn ich das so formulieren darf, obschon es etwas anmaßend klingt: Wir haben doch insgesamt Recht behalten in den großen Auseinandersetzungskontroversen und Debatten unserer Zeit.

In der katholischen Soziallehre gibt es einfache Regeln. Und es ist eben nicht nur die Subsidiarität, für die ich bin, obwohl ich nie ganz begriffen habe, was das im Einzelfall jetzt heißt. Ich weiß, dass Aristoteles der erste Christdemokrat war. Nur wusste er nicht, dass er das war. Die Päpste haben das dann so entwickelt, dass sich daraus der Stoff ergab, aus dem man politische Programme und politische Handlungsmaximen machen kann. Nun hat es nur eine politische Richtung gegeben, die sich dazu immer bekannt hat. Das mag ja Zufall gewesen sein, aber ich mag den Zufall sehr.

Und das hat man versucht in diesem Teil Europas, und zunehmend versucht man, dies jetzt auch zu tun in den Teilen Europas, die man die neuen Teile Europas nennt, obwohl es uralte sind. Dieses Eingeständnis, dass der Markt, an den ich eigentlich glaube – ich möchte den Markt ja nicht missen –, dass der – ich habe das vorhin im internationalen Zusammenhang gesagt – keine Solidarität produziert, wenn es nicht den politischen Zugriff hat, der diesen Markt zwingt, aus den von ihm produzierten Verhältnissen Solidarität zu entwickeln.

Dies gilt für Europa, das in Sachen soziale Dimension, wie ich finde, sehr rückständig, unterentwickelt geblieben ist. Wir brauchen so etwas wie einen Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten in Europa, was sich zwingend aus der Logik des Binnenmarktes und aus dessen Verlängerung in die Währungsunion hinein, und über die Währungsunion hinaus, ergibt. Man muss die soziale Dimension neu denken; sie ist internationaler geworden. Man kann den sozialen Raum nicht mehr exklusiv als nationalen Raum beschreiben. Man muss ihn europäisch fassen, internationaler fassen. Es braucht Mindestregeln – nicht dieselben Regeln –, Mindestregeln in wesentlichen Bereichen des Arbeitsrechts. Das europäische Arbeitsrecht ist inexistent. Wir haben nur das Prinzip, dass der Arbeitsvertrag schriftlich sein muss. Es war meine größte Leistung als europäischer Arbeitsminister im Vorsitz, andere davon zu überzeugen, dass man das aufschreiben muss, was man miteinander verabredet.

Eine Revolution, genauso wie das Verbot der Kinderarbeit. Da habe ich nicht mit Vietnamesen und Kongolesen gestritten, sondern mit Dänen und Schweden (und Briten immer wieder), die das überhaupt nicht einsehen wollten. Man muss daran arbeiten, geduldig, langsam, erklärend, fordernd, immer fordernder, dass es so etwas braucht wie die soziale Dimension Europas, weil die Menschen sonst irre werden an diesem sich immer anonymer gestaltenden Gesamtkonstrukt, weil sie sich nicht mehr davon angesprochen fühlen, weil sie denken, das passiert ohne uns und nicht für uns. Dies ist eine Aufgabe der Zeit.

Auch dass man dann in Luxemburg den Gedanken der Solidarität a) nicht aufgibt, und b) aber neu fasst. Solidarität ist nicht nur distributive Gerechtigkeit unter der heute lebenden Generation, unter den Verhältnissen von heute, sondern auch – unter Wahrung dessen, aber mit starker Nuancierung desselben – die Vorbereitung der distributiven Gerechtigkeit von morgen.

Sie, Herr Professor, haben sehr zu Recht auf die Folgerungen hingewiesen, die sich aus der demographischen Lage des europäischen Kontinents, der Überalterung der Bevölkerung ergeben. Diese Tendenz in Luxemburg – in extremem, wenn nicht exzessivem Maße verbreitet –, Alterssicherungssysteme so zu gestalten, dass sie denen maximal dienen, die jetzt in Rente sind, ohne an die zu denken, die in 40 Jahren in Rente sein werden, ohne daran zu denken, wie denn die zwei folgenden Generationen die Alterssicherungssysteme finanziell überhaupt über die Distanz bringen… Dies ist doch ein Gebot, es verlangt Mut, wie ich zugebe, für aktuelles Handeln. Es ist ein Zukunftsgebot. Die Konsequenz der Globalisierung in Luxemburg ist nicht nur das Erhalten dessen, was wir haben, gemäß unserem nationalen Motto: „Mir wëllen hale, wat mir hunn“.

Wer sich mit Globalisierung beschäftigt, der weiß, dass sie erst in den Anfangsstadien steckt, der weiß, wenn man die Globalisierung sich frei entfalten lässt, werden viele, vor allem die einfachen Menschen, von dieser Globalisierungswelle regelrecht überrollt, überspült, werden an Globalisierung ersaufen.

Wer weiß, dass man die Globalisierung, um ihrer Herr zu werden, prinzipiell unterstützen muss, weil sie anderen Teilen der Welt von Nutzen ist, der spürt, dass das Gespräch, das wir mit Bezug auf die heutige Lage in Luxemburg führen, eigentlich ein Gespräch ist über das, was in Zukunft auf uns zukommt. Und deshalb bin ich der Meinung, dass wir einiges nicht zur Disposition stellen dürfen.

Mindestlöhne etwa – Sie haben da einige gefährliche Ausrutscher gehabt in Ihrem Vortrag. So habe ich das empfunden, weil ich auch die deutsche Rhetorik in der Sache kenne. Aber ich möchte Ihnen da nicht zu nahe treten. Ich bin für Mindestlöhne. Ich freue mich im Übrigen darüber, dass alle französischen Präsidentschaftskandidaten der Linken in zehn Jahren das Mindestlohnniveau erreicht haben möchten, das wir seit vorvergangenem Jahr hier in Luxemburg haben. Insofern fühle ich mich sehr wohl im Ideenwettbewerb mit einigen, die nicht dort stehen, wo sie denken, dass sie stünden.

Wir haben in Luxemburg ein Mindesteinkommen. Dass jeder, der in Luxemburg wohnt, lebt, atmet, Recht hat auf ein Mindesteinkommen, halte ich für eine eminent wichtige Sache. Die meisten Luxemburger sind im Übrigen dagegen. Ich erlebe da in meinen Wahlkampfversammlungen die schönsten Anekdoten. Es sind aber keine Anekdoten, es sind eigentlich tragische Vorkommnisse.

Bevor wir das Mindesteinkommen eingeführt haben, habe ich eine Wahlversammlung gehalten in Nospelt – für die Geographiekundigen hier. Da sagte jemand: „Herr Minister, Sie sind ja ein netter Kerl, aber was machen Sie denn für die armen Leute hier im Dorf? Sie machen als Politik ja überhaupt nichts. In Ihrem Wahlprogramm steht unter dem Titel ‚Soziale Fragen‘: ‚Einführung eines Mindesteinkommens‘“, sagte die Frau, es war eine Frau. „Ja, Wahlprogramm, das machen Sie ja nie.“

Fünf Jahre später, selbes Wirtshaus, selbe Ortschaft, selbe Frau, selber Minister. Und dann steht die Frau auf, ich erkenne sie sofort wieder, und sie sagt: „Hören Sie mal, hier im Dorf wohnt ein Mann, der arbeitet nichts, hat sieben Kinder, und der Staat bezahlt dem den ganzen Betrieb.“

So sehen Luxemburger das Mindesteinkommen, wenn man es hat. Solidarität klingt gut, solange sie theoretisch behandelt werden kann. Wird sie praktisch, entfernen sich die, die nicht in ihren Genuss treten, eigentlich sehr schnell wieder von ihrem Grundansatz.

Arbeit! Ja, wir stellen bei jeder Krise, bei jeder konjunkturellen Gesamtbewegung fest, dass das, was an Arbeitslosigkeit übrig bleibt, strukturell immer höher ist als der Bestand, den man vorher hatte. Das hat selbstverständlich was mit Arbeitslosen zu tun. Ich bin da überhaupt nicht für diese gnädige Rede, die mit allen Arbeitslosen weint. Ich war 17 Jahre Arbeitsminister, ich habe alle Tränen vergossen, die man vergießen kann in der Beziehung. Viele Arbeitslose hätten die Möglichkeiten in sich selbst, wenn man ihr Vertrauen in sich selbst stärken würde, den Weg zurück auf den Arbeitsmarkt zu finden, anstatt sie versauern zu lassen. Wir können uns auf Dauer nicht damit abfinden, dass es eine immer höher sich ansiedelnde Zahl von strukturellen Arbeitslosen gibt, obwohl sich die Gesamtarbeitslosigkeit in der Europäischen Union jetzt positiv nach unten korrigiert.

Wir müssen neu darüber nachdenken, auch in einem sich innerhalb einer Generation, nicht zwischen den Generationen abspielenden Gesamtvertrag, ob es nicht Arbeiten gibt, die auch von denen verrichtet werden können, die – ich sage das jetzt unter tausend Gänsefüßchen – den Lohn eigentlich nicht verdienen, den sie für die von ihnen verrichtete Arbeit kriegen, die aber gebraucht wird in der Gesellschaft, weil jede Arbeit gebraucht wird, und weil jede Arbeit ihre eigene Würde hat. Anstatt dass wir vom Podest herab erklären, was eine Arbeit ist, die Würde verleiht, und was eine Arbeit ist, die eigentlich getan werden muss, ohne dass sie getan werden müsste. Es gibt keine Arbeit, die nicht getan werden müsste.

Diese Menschen sollen über informelle Wege – der Arbeitsminister arbeitet ja daran – Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Die Hoffnung ist, dass sie aus diesem informellen Arbeitsmarktbereich, der überhaupt keiner Arbeitsmarktlogik entspricht, Zugang finden zum ersten Arbeitsmarkt, anstatt endgültig abgehängt zu werden und deshalb sehr oft in totaler Würdelosigkeit zu versinken. Unsere Gesellschaften haben Arbeit ja zum absoluten Würdemerkmal gemacht, obwohl Arbeit eigentlich überhaupt nicht mehr respektiert wird, weil eben nicht mehr jede Arbeit respektiert wird. Dieses Grundeinverständnis über die Würde der Arbeit halte ich für ein hochmodernes zu erreichendes und wiederherzustellendes Prinzip.

Weil wir in Zeiten der Globalisierung leben, und nicht weil wir anderen auf dem Planeten keinen Zugang zu Wohlstand gönnen würden, sondern weil wir unsere Möglichkeiten behalten möchten, ohne die Möglichkeiten anderer einzuschränken, brauchen wir jetzt eine Politik, die unwahrscheinlich stärker auf Forschung und Entwicklung, auf Innovation setzt. Obwohl ich nicht zu denen gehöre, die denken, Asiaten, Chinesen, Inder, Ägypter und viele Afrikaner fänden nie Zugang zu hochtechnologisch übergeordneter Produktion. Die tun das sehr wohl. Wer 250000 Ingenieure im Jahr aus seinen Fakultäten entlässt, der hat sehr wohl Zugang zur Hochtechnologie.

Aber wir müssen unsere Forschungshaushalte sich nach oben entwickeln lassen und mindestens drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts – Privatindustrie und staatliches Dazutun insgesamt berechnet – erreichen, wohlwissend, dass China seine Investitionen in die Forschung Jahr für Jahr um 20 Prozent steigert.

Wir müssen also Anschluss behalten. Dies halte ich für eigentlich nur in Spurenelementen erkennbare Prävention von negativen Globalisierungsauswüchsen, die erst auf uns zukommen.

In einem Wort: Ich finde die Politik, die diese Regierung macht, so falsch nicht, aber sie kann unwahrscheinlich besser werden. Ich bedanke mich.

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