Nicolas Schmit, Discours à l'occasion de la manifestation "Europa auf der Suche nach sich selbst - von Karl IV zur modernen Verfassungsdiskussion": "50 Jahre Europäische Integration. Eine Erfolgsgeschichte, die uns verpflichtet"

Europa wurzelt tief in unserem geschichtlichen Bewusstsein und trotzdem stellen wir uns immer noch die Frage, was ist eigentlich Europa, was bedeutet es eigentlich, sich als Europäer zu fühlen. Gibt es auch für die Zukunft in einer globalisierten Welt einen europäischen Weg?

Europa ist sicherlich, wie sie es, Herr Professor Fried, in ihrem Vortrag meisterhaft dargestellt haben, keine abstrakte Idee. Europa wurde über Jahrhunderte hinweg nicht nur als Ideal empfunden, sondern von Menschen aus den verschiedensten europäischen Herkünften auch konkret, sowohl als kulturelle Einheit, wie auch als politischer Rahmen, erlebt und gestaltet. Es gibt also eine europäische Identität, die vielleicht tiefer in uns verankert ist als die nationale, deren Entstehung viel rezenter ist. Beide haben die Europäer geformt. Sie stehen sowohl für die unermesslichen Errungenschaften unseres europäischen Kontinents, wie auch für die schrecklichsten und düstersten Erfahrungen.

Die europäische Geschichte hat ohne Zweifel vor 50 Jahren eine Wende genommen. Aber dieses Streben nach Einheit, nach der Verwirklichung eines friedlichen europäischen Zusammenlebens, einer politischen Organisation Europas, geht weit zurück und findet natürlich seinen Ursprung unter anderem in der Idee des "Imperium Romanum", sowie in dem gemeinsamen christlichen Glauben.

Die Politik Karl des IV reflektiert ebenfalls dieses Streben. Beginnt nicht die goldene Bulle von 1356 mit dem Satz: "Ein jedes Reich, das in sich selbst gespalten ist, wird zerstört werden".

Diese Aussage erinnert an das, was Walter Hallstein anlässlich des Konferenz von Messina gesagt hat: "Wir haben die Wahl zwischen Integration oder Desintegration".

Ich möchte besonders auf die eminente Rolle der "Aufklärung" in Bezug auf die Entstehung einer europäischen politischen und geistigen Identität hinweisen, sowie es die Bundeskanzlerin in ihrer Rede vor dem europäischen Parlament am Anfang der deutschen Präsidentschaft, getan hat. Sie hat an den europäischen Leidensweg über Jahrhunderte erinnert, um endlich Vielfalt und Einheit auf einen Nenner zu bringen: "Wir Europäer haben in unserer Geschichte gelernt, aus der Vielfalt das Meiste zu machen. Die Eigenschaft, die uns dazu befähigt, die uns genau zur Freiheit in Verantwortung für die anderen befähigt, ist ein wertvolles Gut. Es ist die Toleranz. Europas Seele ist die Toleranz. Europa ist der Kontinent der Toleranz".

Ernest Renan hat unsere heutigen europäischen Nationen als "Gedächtnis-Nationen" definiert, welche "eine Seele, ein geistiges Prinzip", darstellen, die auf dem "gemeinsamen Besitz eines reichen Erbes an Erinnerung beruht".

Auch unsere europäische Identität braucht eine solche Gedächtnis-Kultur. Europäische Geschichtsbücher, wie das deutsch-französische, das vor kurzem erschienen ist und das ich auch den luxemburgischen Geschichtslehrern empfehle, sind deshalb von größter Wichtigkeit.

Unsere Europäizität, die ja aus bekannten historischen Gründen für Luxemburger eine völlige Normalität ist, oder zumindest sein müsste, schreibt sich nicht nur in die Geschichte unserer Gesellschaften ein. Sie fundiert auch auf den sehr persönlichen und oft dramatischen Erfahrungen welche die europäische Geschichte jedem von uns auferlegt hat.

Auch durch mein eigenes Leben begleitet mich ein solcher Riss, der mich enger und unmittelbarer an die europäische Idee bindet, als jeder andere geschichtliche Bezug.

Am 10.Mai 1940, am ersten Tag des deutschen Überfalls auf Luxemburg, wurde mein Großvater, bei den Kämpfen zwischen den Deutschen und Franzosen im Süden des Landes, in seinem Haus, vor den Augen seiner Familie, tödlich verletzt.

Die Diskussion über das Friedensprojekt Europa berührt mich also direkt, wie tausende von Luxemburgern und Millionen von anderen europäischen Familien.

Ich gehöre - noch müsste ich sagen - zu einer Generation, die sich Europa verpflichtet fühlt, weil seine politischen Entscheidungsträger seit 50 Jahren tief greifend und mit Erfolg versucht haben, den Frieden und die enge Zusammenarbeit zwischen unseren Staaten in Europa unumkehrbar zu machen.

Der Mörtel für solch ein friedliches Europa war, wie wir alle wissen, die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes, aber auch, vergessen wir das nicht, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte als wesentliche ethische Referenz.

Wohlstand und Stabilität waren die Folgen. Im Süden von Europa verschwanden die Diktaturen. Der Zusammenbruch der griechischen Militärdiktatur, die portugiesische Aprilrevolution und die Rückkehr Spaniens nach Europa waren in den 70ern für unsere Generation einschneidende historische Errungenschaften. Die betroffenen Länder traten den europäischen Institutionen bei. Umso besser. Allmählich wurde aus der Zweckgemeinschaft eine Schicksalsgemeinschaft, in deren Mittelpunkt die deutsch-französische Beziehung stand.

Die EU wurde zudem ein Magnet für die Einigung des Kontinents indem sie dem Freiheitsbestreben der Länder Mittel- und Osteuropas nach den Ereignissen von 1989 einen Rahmen für ihre wirtschaftliche und politische Integration bieten konnte.

Zweihundert Jahre nach dem Sturm auf die Bastille fiel ein totalitäres System in sich zusammen, ohne Gewalt- und Blutvergießen.

Ein für Europa fast schon ungewöhnlicher Vorgang, dessen außergewöhnliche Dimension nicht genug hervorgestrichen wird. Wäre nicht der Krieg im Balkan darauf gefolgt, hätte man an das Ende nicht der Geschichte, sondern der Tragik in der Geschichte Europas glauben können.

Seit diesen Ereignissen bleibt die politische Union Europas noch immer ein Ziel.

Aber es haben sich auch die Wolken am Horizont gemehrt. Der Frieden wird von den jüngeren Generationen wahrgenommen als eine Selbstverständlichkeit. Die Anstrengung, die eine friedliche Beilegung der Minderheitenproblematik in einigen der neuen Beitrittsländer am Anfang der 90er Jahre gekostet hat, wird im kollektiven historischen Bewusstsein nicht genügend wahrgenommen. Die Erinnerung an den Balkankrieg und die damit verbundenen schrecklichen Verletzungen der Menschenrechte wird zu oft verdrängt und damit auch die Idee, dass Frieden und Toleranz auch in Europa nicht als definitive Errungenschaften angesehen werden können. All diese Überlegungen werden bei der Beurteilung der Erweiterungspolitik, die ja vor allem Friedenspolitik ist, vernachlässigt.

Diese Beschleunigung der Geschichte in Europa ist einhergegangen mit anderen großen Umwälzungen in der Welt, der sogenannten Globalisierung, die von vielen Europäern als eine neue Bedrohung angesehen wird.

Dies wird besonders von jungen Menschen so empfunden. Sie sind zwar „natürliche“ Europäer, die sich schlecht vorstellen könnten, auf die eben nicht so selbstverständlichen Realisierungen der europäischen Einigung, wie zum Beispiel die Reisefreiheit, verzichten zu müssen. Sie werfen aber gleichzeitig auch einen kritischen, oder manchmal auch verängstigten Blick auf die Europäische Union. Die ungewisse Zukunft, die so oft Europas Generationen bewegt hat, beschäftigt viele junge Menschen, die sich auch in Luxemburg mehrheitlich gegen den Verfassungsvertrag ausgesprochen haben, ohne damit der europäischen Idee den Rücken kehren zu wollen.

Bekomme ich die richtige Ausbildung? Finde ich eine Arbeit? Kann ich eine stabile Existenz gründen, eine Familie aufziehen?

Werde ich auch selbst etwas von dem von mir Erwirtschafteten haben, oder wird die Finanzierung der Renten und Schuldenberge der vorigen Generationen meinen Anteil zusammenschrumpfen lassen? Ist es wirklich so, dass ich einen besseren Job haben werde, wie es in der Lissabonner Strategie heißt, wenn ich eine gute Qualifizierung habe?

Wie steht es mit meinem Arbeitsplatz im Rahmen der Globalisierung die den Rahmen der sozialen Verantwortung, der dem europäischen Sozialmodell zugrunde liegt, zu sprengen droht.

Wir dürfen diese Fragen nicht überhören, indem wir zur normalen Tagesordnung im Brüsseler Alltag übergehen.

Loben wir also das Geleistete, aber verbleiben wir nicht dabei. Wir müssen neue europäische Perspektiven aufzeichnen. Wagen wir das Mehr an Europa, aber indem wir den sich verlagernden Fragestellungen Rechnung tragen.

Diesen Fragestellungen Rechnung tragen heißt noch lange nicht, Europa zu überlasten mit Problemen und Kompetenzen, die seine nicht sein können in dem Ausmaße, als es zuweilen verlangt wird.

Die sozialen Fragen liefern dazu ein gutes Beispiel. Viele Menschen fühlen sich durch die Globalisierung bedroht. Sie sehen ganz klar, dass der einzelne Staat, sei er an europäischen Maßstäben gemessen klein oder groß, weder die wirtschaftlichen Herausforderungen noch den Sozialschutz seiner Bürger allein garantieren kann. Heißt das dann, dass Europa als Überstaat für alles zuständig wäre, wenn der Mitgliedsstaat nicht mehr mithalten kann! Natürlich nicht.

Damit sage ich natürlich nicht, dass hier Europa tatenlos bleiben sollte. Keineswegs!!! Die soziale Marktwirtschaft, die Vollbeschäftigung, sowie die Förderung des sozialen Schutzes gehören zu den Grundlagen der nachhaltigen Entwicklung Europas, die ein erklärtes Ziel der Union ist und klarer als nie zuvor in den Verfassungsvertrag eingeschrieben wurde.

Nein, Europa soll das tun, was es in diesem Bereich am besten leisten kann, und die Mitgliedstaaten werden das ihre tun im Sinne der Subsidiarität, aber indem Union und Mitgliedstaaten sich praktisch koordinieren. Nur dort wo europäische Normen notwendig sind, sollen sie dazu beitragen neben dem Wirtschaftsraum auch einen sozialen Raum zu schaffen.

Nicht Vereinheitlichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, sondern eine Angleichung der einzelstaatliche Systeme, um zu verhindern, dass durch soziales Dumping die nationalen Sozialsysteme ausgehoben werden.

Besonders in einer erweiterten Union müssen neue Gleichgewichte, die der sehr verschiedenartigen Wirtschaftskraft der Mitgliedsstaaten Rechnung tragen. Mehr Zukunftsgewissheit für die Bürger Europas heißt unsere Sozialsysteme modernisieren und so absichern. Wirtschaftlicher Dynamismus und die notwendige Innovation stehen nicht im Gegensatz zu sozialem Schutz und Sicherheit für den Bürger. Die soziale Frage stellt sich nicht nur in Europa. Auch in den USA - von Leuten wie dem Präsidenten der FED - aber auch in China wird neuerdings die soziale Dimension im Kontext der Globalisierung in den Vordergrund gestellt. Hier kann Europa nicht nur nach innen, sondern auch nach außen eine wichtige politische Rolle spielen, sei es im G8 oder in den internationalen Organisationen. Es scheint mir unabdingbar zu sein, im Rahmen einer europäischen Relance, welche die deutsche Präsidentschaft für Juni anstrebt, der sozialen Dimension das notwendige Gewicht zu geben.

Wir müssen uns aber gleichzeitig bewusst sein, und unseren Bürgern hier nichts vormachen, dass die Union nicht alle Defizite, die in unseren Wirtschaften und in den Gesellschaften unserer Mitgliedstaaten entstehen, auffangen und kompensieren kann. Nicht alle Ängste und Bedrohungen kann die Europäische Union abwenden. Es wird manchmal zuviel von ihr erwartet und ihr gleichzeitig vorgeworfen, sie wolle alles bestimmen und regulieren.

Die EU kann bei der besten Entwicklung nicht eine Allgemeinversicherung gegen nationale Versäumnisse darstellen. Sie darf deshalb nicht mehr, wie das aus Gründen politischen Opportunismus der Fall ist, als idealer Sündenbock dienen. Hier muss also immer bestimmter, aber auch sachlich, widersprochen und weitergedacht werden. Ausblicke müssen her, die die Bürger ansprechen, für sie glaubhaft sind und von ihnen mitgetragen werden können.

Weitergedacht wurde, schneller als man es hätte erwarten können, in Sachen Klimaschutz ein Thema, das eine überragende Mehrheit der europäischen Bürger in allen Mitgliedsstaaten mobilisiert. Und auch in Sachen Energiepolitik wird es schnellere Entwicklungen geben.

Hier strömen Sachlage, wie z.B. die akuten Bedrohungen der Umwelt und der Energiezufuhr, und öffentliche Meinung kraftvoll und hörbar zusammen, und die Politik hat auf EU-Ebene sofort gestaltend reagiert. Das ist erfreulich, und wird als solches auch von den Bürgern geschätzt.

Wenn es der EU gelingt, in Sachen Klimapolitik ihre Vorreiterrolle zu festigen und eine gemeinschaftliche Energiepolitik zu entwickeln, die zugleich die Zufuhr der traditionellen Energieträger absichert und die Produktion erneuerbarer und neuer Energien in die Wege leitet, haben wir wieder ein Mehr an Europa, das die Glaubwürdigkeit des Einigungsprozesses stärken wird.

Eine aktive und zielorientierte gemeinschaftliche Politik in diesen Bereichen ,was natürlich heißt, dass dafür Kompetenzen geschaffen werden, die in dem aktuellen Vertragswesen nicht vorhanden sind, kann sich nicht nur umweltpolitisch, sondern auch wirtschaftlich , technologisch und in der Zahl neuer Arbeitsplätze bezahlt machen.

So notwendig der Euro für die stabile Entfaltung der europäischen Wirtschaft in einer globalen Welt ist, so unverzichtbar ein gut funktionierender Binnenmarkt für Wachstum und Beschäftigung in Europa bleibt, der europäische Einigungsprozess muss vor allem auch auf zentrale europäische Werte ausgerichtet werden. Hier ist Europa gefordert: nach innen, um jeden Rückfall in Nationalismus und Autoritarismus zu vereiteln; nach außen um Entwicklung, Konfliktlösung und Respekt der Menschenrechte voranzubringen.

  • Die Würde des Menschen, die unantastbar ist. Unantastbar, auf einem Kontinent, wo sie so oft und mit solch verheerenden Folgen bis in die letzten Jahre des letzten Jahrhunderts mit den Füssen getreten wurde. Unantastbar in allen Lebensbereichen, für jeden geltend, ob frei oder gefangen, gesund oder krank, integriert oder am Rande der Gesellschaft.
  • Freiheit und Verantwortung: die Freiheit konnten vor 50 Jahren die wenigsten unter den Europäern genießen, und vor 18 Jahren erst wurde der Prozess ihrer Verallgemeinerung losgetreten. Die Verantwortung, die dies mit sich bringt, besonders im Zusammenhang mit der EU, hat sich noch nicht in allen Bereichen mit der notwendigen Klarheit durchgesetzt. Europa braucht ohne Zweifel in der wirtschaftlichen Sphäre mehr Markt- und Konkurrenzfähigkeit. Wir dürfen aber nicht die Marktwirtschaft in eine Marktgesellschaft verwandeln.
  • Solidarität gilt als unverzichtbares Element der europäischen Lebensauffassung. Und sie funktioniert über alle möglichen Wege: Erweiterung, Strukturfonds, Zusammenarbeit zwischen den Justizen und den Polizeien, Friedensmissionen, Entwicklungsarbeit.

Es wäre aber besser um Europa bestellt, würde dieses Solidaritätsbekenntnis noch ernster genommen. Dann hätte die EU auch ein angepasstes Budget, das ohne Zweifel reformbedürftig ist. Dann gäbe es eine bessere Koordination der Wirtschaften. Die technologische Herausforderung können wir nur europäisch meistern: Galileo und Airbus sind entscheidende Tests. Europa hat sich als Kontinent des Wissens und der Wissenschaft behauptet. Seine Stellung in der Welt hängt heute von der Fähigkeit ab, sich als eine Wissensgesellschaft zu entwickeln. Dann gäbe es noch mehr Zusammenarbeit in Sachen Einwanderung.

Neulich formulierte ein Bürger hier in Luxemburg kurz und bündig und recht einleuchtend die ganze Problematik des Einigungsprozesses: "Wir haben alle in Europa andere Probleme, aber wir können sie nur zusammen lösen".

Das heißt, auch das Problem, das nicht direkt meines ist, muss ich den anderen lösen helfen, damit es eines Tages nicht auch meines wird. Oder auch, helfe ich den anderen, ihre Probleme zu lösen, bekomme ich später wenigere. Nicht unmittelbare Betroffenheit, sondern systemische Einsicht muss unsere solidarischen Entscheidungen in Europa bestimmen.

Europas Vielfalt ist auch Teil seines Reichtums, seiner kulturellen Stärke. Die Europäische Union ist Garant dieser Vielfalt, indem sie Einheit und Vielfalt - die Devise des Verfassungsvertrages - in ihrer politischen Aktion zusammenbringt. Unsere Staaten, sowie unsere Gesellschaften, können sich, und dürfen sich nicht abschotten, besonders in Bezug auf legale Einwanderung. Wir müssen deshalb entschlossen gegen die alles zerstörenden Viren der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus und der Intoleranz vorgehen.

Vor aller Vielfalt gelten aber die Prinzipien der Ausdrucksfreiheit oder der Gleichheit von Mann und Frau oder des Primats des Gesetzes über religiöse Vorschriften. Die europäische Identität nach 1945 ist mehr als ein Patchwork von Kulturen. Sie ist vor allem geprägt von Werten und dialogischen Problemlösungsstrategien, die diesen Werten entsprechen und ganz klar nicht zur Disposition stehen.

Es ist nicht weil Europa wächst und erstarkt, dass es unantastbarer würde.

Weil es nicht nur klimatische und energiepolitische Bedrohungen gibt, und weil Europa handfeste Interessen in der Welt hat, braucht es eine Europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Diese mit entsprechenden Mitteln und Entscheidungsmechanismen ausgestattet werden, damit sie in der Lage ist, die gemeinsamen Interessen abzudecken, damit sie anerkannt wird von der internationalen Gemeinschaft. Machen wir uns nichts vor: die Welt, die vor uns entsteht, verlangt zwar von der "sanften" Macht Europa eine auf globalen Ausgleich und Entwicklung ausgerichtete Außenpolitik, aber ohne Stärke, ohne einen breiten Fächer der Mittel zur Stärke, wird diese sich kein Gehör verschaffen. Friedliche Konfliktlösungen kommen nicht nur mit Worten zum Tragen wie wir das vor mehr als einem Jahrhundert auf dem Balkan erfahren haben.

Die europäische Einigungspolitik war seit ihrem Beginn Friedens- und Sicherheitspolitik, ohne die es wahrscheinlich nicht so schnell zu den friedlichen Umwälzungen auf unserem Kontinent gekommen wäre. Aber für Europa bleibt die Sicherheit - wirtschaftlich wie auch verteidigungspolitisch - ein mehr als aktuelles Thema. Wir brauchen keine hastigen Schritte, aber gleichfalls ist eine richtige Einschätzung der künftigen Bedrohungen für unsere Sicherheit von Nöten. Europa muss auch hier solidarisch vorgehen, denn jedes Auseinanderdividieren kann Europa nur schwächen. Unsere Sicherheit wird auch in der Zukunft auf vier Hauptpfeilern beruhen:

  • Stabilität zu der eine gezielte und gut vorbereitete Erweiterungspolitik wesentlich beiträgt, besonders im West-Balkan,
  • mehr Zusammenarbeit auf militärischem und technischem Plan, damit Europas Verteidigungsidentität sich verstärkt weiterentwickelt,
  • eine starke und ausgewogene transatlantische Allianz, gute partnerschaftliche Beziehungen in allen Bereichen im Rahmen einer gestärkten Politik mit unseren Nachbarn, unter anderem auch mit Russland.

Als Bürger eines kleinen Landes kann ich für die praktische Tragweite einer solchen Einsicht nur auf ein konkretes starkes Europa setzen.

Das gilt auch für den Einsatz gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität. Allerdings muss auch hier auf die Menschen- und Bürgerrechte aufgepasst werden.

Demokratien sind nur dann stark, wenn sie sich nicht von ihren Feinden in die Verneinung ihrer wesentlichsten Prinzipien trieben lassen.

Die europäischen Gesellschaften, besonders in den Ländern, in denen die Demokratie schon länger herrscht, sehen manchmal mit Unbehagen auf die Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen, die im Namen der Sicherheit getroffen werden und ohne Zweifel Eingriffe in die Privatsphäre und in die persönlichen Freiheiten darstellen können. Hier müssen wir weise handeln, genau abwägen und keine Einschränkungen unwiderruflich werden lassen, damit wir nicht vom europäischen Weg zur Sicherheit abkommen.

Deshalb ist die Verankerung der europäischen Grundrechtecharta im Vertragswesen ohne Zweifel für alle Bürger eine große Errungenschaft, die den Charakter Europas als Wertegemeinschaft besiegelt. Sie bedeutet nicht mehr Europa, sondern ein besseres Europa, im Sinne der Bürgerrechte

Meine Damen und Herren,

Es gibt eine europäische Gesellschafts- und Lebensauffassung, die von den westlichen demokratischen Kernländern ausgehend in den verschiedensten Schattierungen seit 1945 geprägt ist von der Verfolgung des wirtschaftlichen Erfolgs, von dem Aufbau eines gemeinsamen Binnenmarkts und der Einführung einer gemeinsamen Währung, von einer Marktwirtschaft mit sozialer Verantwortung, von der Wahrung des Rechtsstaats und der Menschenrechte, deren gesetzlicher Ausdruck stets verfeinert wird, von der fortschreitenden regionalen und interregionalen Zusammenarbeit, von der fortschreitenden Einsicht in die Gemeinsamkeit der Interessen in Sachen Außen- und Innenpolitik und deren Gestaltung, von der Attraktivität dieses Modells nach außen, von seiner freiwilligen Erweiterung zuerst in den Süden Europas, dann nach Mittel- und Südosteuropa.

Was wir aber wissen müssen und immer wieder aussprechen müssen, ist was uns bindet. Das kann schwierig werden.

Aber so werden wir wissen, wer dieses Europa will, wer es nicht will, wer es noch will, wer es nicht mehr will, wer noch hinzukommen kann oder wem wir eine andere Form der Zusammenarbeit vorschlagen müssen.

Vor allem: wir müssen mit einem neu formuliertem Willen alles daran legen, dass das bisher erfolgreichste Friedensprojekt auf diesem Kontinent, das bisher ehrgeizigste Gestaltungsprojekt, das Länder auf diesem Kontinent miteinander verbindet und aneinander bindet, von den Bürgern akzeptiert wird.

Unsere europäische Identität bei unseren Bürgern festigen setzt auch voraus, dass wir über Europas Grenzen reden müssen. Wir müssen das tun, nicht um Staaten und Völker auszugrenzen, sondern um als Alternative zu einem Beitritt, neue Formen der engen Zusammenarbeit zu entwickeln. Eine überdehnte europäische Union, die handlungsunfähig wäre, würde keinem nutzen.

Die Erfolge und Errungenschaften der letzten 50 Jahre sind unvergleichbar. Trotz allem dürfen wir die Gefahren, die auf der erfolgreichen Weiterführung des europäischen Einigungsprozesses lasten, nicht unterschätzen. Die Welt wartet nicht auf Europa. Die Aufgabe, die Bürger wieder für das europäische Projekt zu gewinnen, indem wir sie davon überzeugen, dass Europa die einzig glaubwürdige Sicherung für ihre Zukunft und die ihrer Kinder darstellt, ist dringend. Wir müssen, um Willi Brandt zu paraphrasieren, "mehr europäische Demokratie wagen". Demokratiedefizit gibt es aber nicht nur in Straßburg oder in Brüssel. Ein Mangel an Demokratie ist in der Europapolitik zuerst in den Mitgliedsstaaten auszumachen. Wir brauchen deshalb eine bessere Informationspolitik, mehr konkrete europapolitische Debatten besonders in unseren Parlamenten, die eine effizientere demokratische Kontrolle ausüben müssen, wie das in einigen Mitgliedsstaaten der Fall ist. In all diesen Bereichen bringt der Verfassungsvertrag deutliche Fortschritte.

Europa hat nach Jahrhunderten, die von großen Fortschritten und grausamen Rückschlägen gekennzeichnet sind, vor 50 Jahren den Weg zu sich selbst gefunden. Dieser lange Weg hat uns Europäer in eine Gemeinschaft des Friedens, der Freiheit, des Rechts und der Würde des Menschen geführt. Neue große Herausforderungen erwarten uns. Der Zufall, wenn es solche Zufälle in der Geschichte gibt, hat die deutsche Präsidentschaft vor eine überragende Aufgabe gestellt: Europa aus der aktuellen Talsohle herauszuführen. Das ist vor 50 Jahren, nach dem Misserfolg der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, solchen visionären, mutigen und zugleich pragmatischen Politikern wie Spaak, Adenauer, Bech … gelungen.

Die europäische Relance braucht auch heute Zukunftsvision, Mut und Pragmatismus.

Europa ist gewachsen und muss auch deshalb den Beweis seiner Entscheidungskapazität und seiner Fähigkeit zukunftsorientierte Kompromisse zu schließen, erbringen.

Die Entscheidungsträger von heute, wie die von gestern, benötigen vor allem eine feste europäische Überzeugung.

Damit Europa sich weiterentwickelt brauchen wir ebenfalls, wie das schon in der Vergangenheit der Fall war, die Möglichkeit zur Flexibilität. Diese darf sicherlich die fundamentale Solidarität zwischen allen Mitgliedsstaaten in Frage stellen. Aber gleichzeitig dürfen nicht die gebremst werden, für die eine tiefere Zusammenarbeit notwendig und dringlich ist. Ohne Flexibilität hätten wir keinen Euro und damit weniger Stabilität in Europa und weniger währungspolitischen Einfluss in der Welt. Die Wiederbelebung der Substanz des Verfassungstextes ist ohne Zweifel notwendig. Institutionen sind sicherlich kein Selbstzweck. Aber ohne funktionierende, demokratisch legitimierte Institutionen wird die Entscheidungsfähigkeit der Union geschwächt und damit ihre Glaubwürdigkeit beim europäischen Bürger, sowie in einer Welt, die sehr oft hohe Erwartungen an Europa stellt.

Erlauben sie mir zum Schluss ein Zitat von Jean Monnet:

"L’Union de l’Europe ne peut pas se fonder seulement sur la bonne volonté. Des règles sont nécessaires. Les évènements tragiques que nous avons vécus, ceux auxquels nous assistons nous ont peut-être rendus plus sages. Mais les hommes passent, d’autres viendront qui nous remplaceront. Ce que nous pourrons leur laisser, ce ne sera pas notre expérience personnelle qui disparaîtra avec nous, ce que nous pouvons leur laisser, ce sont des institutions. La vie des institutions est plus longue que celle des hommes, et les institutions peuvent ainsi, si elles sont bien construites, accumuler et transmettre la sagesse des générations successives."

Un grand rendez-vous attend l’Européen juin.

Berlin est la première étape.

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