Jean Asselborn, Discours à l'occasion de l'assemblée générale de la Fédération allemande des fonctionnaires (DBB - Deutscher Beamtenbund und Tarifunion), Cologne

*** Es gilt das gesprochene Wort ***

Ich möchte mich sehr herzlich für die Einladung zur DBB-Jahrestagung bedanken und unterstreichen, wie sehr ich es schätze hier zu sein. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass der Deutsche Beamtenbund einen ausländischen Außenminister zu seiner Zusammenkunft einlädt. Dies zeigt aber eigentlich, dass wir heute in Europa uns sehr nahe sind und viele Gemeinsamkeiten teilen, dessen wir uns im Tagtäglichen nicht mehr bewusst sind. Europa ist ein Teil unseres Denkens und Handelns geworden. Ich denke, dass meine Präsenz aber auch mit unseren guten deutsch-luxemburgischen Beziehungen zusammenhängt. Trotz mancher verschiedener Ansichten zu EU-Fragen, zum Beispiel in Steuerfragen, kennen und teilen wir größtenteils doch die Sorgen und Zwänge des Nachbarn.

Es ist mir deshalb eine Ehre Ihnen auch aus der Perspektive eines Luxemburger Sozialdemokraten die wesentlichen Fortschritte der EU im Zusammenhang mit dem Lissabon-Vertrag darzulegen.

Seit Dezember 2001 und der "Erklärung von Laeken zur Zukunft der europäischen Union" wurde um Kompromisse gerungen. Texte wurden verabschiedet, nationale Vorbehalte berücksichtigt. Referenden wurden abgehalten, auch in Luxemburg im Juli 2005. Der Verfassungsvertrag wurde durch den Reformvertrag ersetzt, Ausnahmeregelungen gefunden und wieder Referenden abgehalten. Der am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnete Reformvertrag ist nun am 1. Dezember 2009, nach langem politischem Gezerre, endlich in Kraft getreten.

Lassen Sie mich ein paar Worte zur europäischen Union VOR dem Lissabon-Vertrag sagen. Das europäische Friedens- und Wiederaufbauprojekt das aus den Trümmern des 2. Weltkriegs entstanden ist, hat sich im Laufe der Zeit zum größten einheitlichen Wirtschaftsraum entwickelt. Die Union ist heute ein einzigartiges Gebilde, ein Modell der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Integration für viele andere Regionen in der Welt.

Uns sind aus der europäischen Einigung handfeste Vorteile erwachsen, denen wir uns manchmal ungenügend bewusst sind, wie zum Beispiel die Vorteile, die aus dem gemeinsamen Binnenmarkt und seinen vier Grundfreiheiten entspringen. Die EU ist verantwortlich dafür, dass wir heute frei reisen können, und entscheiden in welchem Mitgliedstaat wir arbeiten, studieren und wohnen wollen. Die Union hat auch dafür gesorgt, dass wir günstig telefonieren und preiswert durch ganz Europa fliegen können. Oder denken Sie an die Zeit vor dem Euro. Die gemeinsame Währung vereinfacht jetzt seit zehn Jahren schon den Handel im Binnenmarkt und erleichtert das Leben von nahezu 330 Millionen EU-Bürgern.

Die EU wurde in gewissem Maße über die Jahre hinweg das Opfer ihres eigenen Erfolgs. Seit dem Nizza-Vertrag im Jahre 2000 hat sich die Union um 12 Mitgliedstaaten erweitert. Ihr institutionelles Gefüge war ursprünglich für sechs Mitgliedstaaten gedacht. Mit 27 Mitgliedern, oder gar mehr, wäre der europäische Entscheidungsprozess überfordert gewesen. Sehr schwer nur hätte die EU weitere Staaten aufnehmen können, ohne ihre Institutionen einer tiefgreifenden Reform zu unterziehen.

Fortschritte durch den Lissabon-Vertrag

Wir haben ihn also dringend gebraucht, den Lissabon-Vertrag. Seine Aufgabe ist es, die erweiterte EU in die Lage zu versetzen, demokratischer, schneller und effizienter zu entscheiden. Er schafft dazu eine klarere Kompetenzaufteilung, klarere Strukturen und neue Instrumente.

Zum Beispiel regelt der Lissabon-Vertrag mit einer Neuauflage der Zuständigkeiten die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und der EU präziser und übersichtlicher. Dies war immer schon ein berechtigtes Anliegen von Deutschland, ist aber sicher im Interesse von allen Mitgliedstaaten. Der Vertrag unterscheidet fortan zwischen den Bereichen, in denen die Union in ausschließlicher Zuständigkeit handeln kann, zum Beispiel in den Bereichen Zollunion oder gemeinsame Handelspolitik, und den Bereichen einer geteilten Zuständigkeit von Union und Mitgliedstaaten, wie dem Binnenmarkt und der Sozialpolitik. Dann gibt es jene Felder, in denen die Mitgliedstaaten nach wie vor weitgehende Handlungsfreiheit behalten. Dies ist z.B. im Gesundheitswesen, in Erziehung und Kultur, sowie im Sport der Fall.

An der Schnittstelle zwischen der EU-Kompetenz und derjenigen der Mitgliedstaaten wird es auch unter Lissabon interessante Streitfälle geben. Aus meiner Sicht sollte die EU sich aus Dingen wie zum Beispiel die Salzhaltigkeit des Brotes heraushalten. Die Bayern sollten einen anderen Geschmack pflegen dürfen als die Lappländer oder die Andalusier.

In Sachen Flugsicherheit aber sollte in den EU-Flughäfen zumindest für Überseeflüge eine und dieselbe Regel gelten. Sicherheit und Schutz der Privatsphäre sind auf einen gemeinsamen europäischen Nenner zu bringen. Die Kommission sollte hier von Ihrem Initiativrecht Gebrauch machen.

Die strukturellen Veränderungen, die der Lissabon-Vertrag mit sich bringt, zielen auf eine bessere Übersichtlichkeit der Akteure und eine größere Kohärenz der europäischen Politiken ab. Der europäische Rat, wo die Staats- und Regierungschefs bisher informell zusammentraten, wird zu einer offiziellen EU-Institution. Von ihm werden auch in Zukunft die erforderlichen politischen Impulse für die Entwicklung der EU ausgehen. Er erhält allerdings keine neuen Kompetenzen und hat nach wie vor keine Gesetzgebungsbefugnisse. Diese liegen bei der Kommission, dem Rat und dem europäischen Parlament. Aber, um für mehr Kontinuität in der politischen Führung und eine bessere Vertretung der EU nach außen zu sorgen, wird künftig für jeweils zweieinhalb Jahre ein ständiger Präsident des europäischen Rates gewählt. Bisher wechselte dieser Posten alle sechs Monate unter den Mitgliedsländern. Als erster Präsident wird der Belgier Herman Van Rompuy diesen Posten antreten, das heißt er wird künftig die EU-Gipfeltreffen leiten und versuchen müssen, in schwierigen Fragen für Übereinstimmung zu sorgen.

Es ist wichtig, dass der erste Präsident des Rates aus einem Mitgliedstaat kommt, der an allen Politikbereichen teilnimmt, und dass er über klare europapolitische Überzeugungen verfügt. Der gemeinschaftliche Entscheidungsprozess, die sogenannte Gemeinschaftsmethode, sowie das institutionelle Gleichgewicht sind Pfeiler des europäischen Integrationsprozesses. Richtig ist, dass der Präsident zu Ihnen steht, dass er sich weder als Gegenspieler des Präsidenten der Kommission entpuppt, noch als Verteidiger der Interessen der größten Mitgliedstaaten der EU. Er muss die nötige Sensibilität für die Belange aller Mitglieder aufbringen, ob groß oder klein. Im Vorfeld der Wahl hatte sich Luxemburg zusammen mit seinen Partnern Belgien und den Niederlanden in einem Beneluxpapier für diese Ideen stark gemacht.

Eine andere wichtige Neuerung ist die Vereinfachung des Beschlussverfahrens der EU. Die Handlungsfähigkeit des Ministerrates der europäischen Union, in dem die jeweilig betroffenen Minister zusammenkommen, zum Beispiel die Transportminister oder die Umweltminister, ist wesentlich davon abhängig, ob Rechtsakte durch einstimmige oder mehrheitliche Beschlüsse verabschiedet werden können. Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Ministerrat wird nun laut Vertrag auf 47 neue Politikfelder ausgedehnt. Das bedeutet, dass Entscheidungen in den Bereichen nicht mehr von einem einzelnen Land blockiert werden können. Das ist zum Beispiel der Fall für die Immigrationspolitik, die Polizei- sowie weite Teile der Justizzusammenarbeit. Der EU werden so bessere Möglichkeiten eröffnet, gegen grenzüberschreitende Kriminalität und illegale Zuwanderung sowie gegen den Menschen-, Waffen- und Drogenhandel vorzugehen. Dies liegt im Interesse aller EU-Bürger.

Weiterhin der Einstimmigkeit bedürfen allerdings Bereiche wie die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Steuerharmonisierung sowie die familienrechtliche Zusammenarbeit. Man darf aber nicht vergessen, dass in diesen Bereichen, wie auch im Zivilrecht, das Integrationsbestreben weiter gebracht werden sollte, denn dies ist eine natürliche und notwendige Ergänzung des europäischen Binnenmarkts.

Die gleichzeitige Ausweitung des gesetzgeberischen Mitentscheidungsverfahrens zusammen mit dem europäischen Parlament, das nun zum Regelfall wird, stärkt des Weiteren die Legitimität der Beschlüsse. Ich bin mir bewusst, dass das Verfassungsgericht in Karlsruhe eine eigene Lesart der demokratischen Legitimität des Europaparlaments hat. Diese kann ich jedoch nicht ganz teilen.

Für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist das Mitentscheidungsverfahren von besonderer Bedeutung. In der Innen- und Justizpolitik, wo oft Fragen des Eingriffs in die Privatsphäre der Bürger anstehen, festigt das Mitbestimmen des europäischen Parlaments die erforderliche demokratische Legitimität. Nach meiner Ansicht gilt dies speziell auch für die notwendige Schaffung von Mindestrechten in Strafverfahren oder eines gesamtgesetzgeberischen Rahmens in punkto Datenschutz. Nur so stärken wir das zur Weiterentwicklung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung notwendige Vertrauen in die Rechtssysteme der Mitgliedstaaten.

Der Lissabon-Vertrag verhilft also dem europäischen Parlament zu weiteren Befugnissen. Seine Rolle wird gestärkt. Es entscheidet fortan über den EU-Haushalt und internationale Verträge mit. Es bekommt auch mehr Rechte bei der Nominierung der Kommission. Gestern haben in Straßburg die Anhörungen begonnen, während denen die parlamentarischen Ausschüsse jedes designierte Kommissionsmitglied bewerten. Das europäische Parlament stimmt anschließend über die Kommission in ihrer Gesamtheit ab. Erst nach der Zustimmung des Parlaments kann die neue Kommission formell vom europäischen Rat ernannt werden.

Wie Sie wissen gibt es trotz – oder gerade aufgrund – der zunehmenden europäischen Integration in vielen Ländern immer wieder heftige Debatten darüber, ob etwas auf europäischer Ebene geregelt werden soll oder nicht. Auch diese Bedenken werden im Lissabon-Vertrag berücksichtigt, indem der neue Vertrag ebenfalls die Rolle der nationalen Parlamente bei der Beschlussfassung stärkt.

Die Abgeordneten in den Mitgliedstaaten können Einspruch gegen Entscheidungen der Union einlegen, wenn sie den Grundsatz der Subsidiarität verletzt sehen. Wie Sie wissen, müssen laut Subsidiaritätsgrundsatz Entscheidungen in der EU möglichst nah beim Bürger getroffen werden. Das heißt, die EU soll, außer in den Bereichen für welche sie ausschließlich zuständig ist, nur dann tätig werden, wenn ihr Vorgehen wirksamer ist als Einzelmaßnahmen auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene.

Jedes nationale Parlament kann innerhalb von 8 Wochen nach Vorlage eines europäischen Gesetzesvorschlags eine begründete Stellungnahme an die europäische Kommission richten. Wenn ein Drittel der nationalen Parlamente diese unterstützt, kann eine Überprüfung eines Gesetzesvorhabens erzwungen werden. Sind mehr als die Hälfte der nationalen Parlamente dieser Meinung, müssen das europäische Parlament und der Rat den umstrittenen Vorschlag diskutieren. Wird das EU-Gesetz jedoch angenommen, können die Parlamente vor dem europäischen Gerichtshof Klage erstatten, wenn sie weiterhin glauben, das Gesetz verstoße gegen den Subsidiaritätsgrundsatz.

In Deutschland sind nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Juni und den Begleitgesetzen auch die innerstaatlichen Informations- und Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat gestärkt worden. Das ist gut, denn komplementär zu den Regierungen haben die nationalen Parlamente eine sehr wichtige Aufgabe, nämlich die, europapolitische Fragen zu debattieren und sie der Öffentlichkeit nahezubringen. Dazu müssen sie bestens informiert sein über die Zusammenhänge der europäischen Politiken. Nur dann können auch sie den Bürgerinnen und Bürger Europa besser erklären.

Allerdings wäre es meines Erachtens für die europäische Integration beschwerlich, wenn die Einlassungen des Bundesverfassungsgerichts zu imperativen Mandaten vom Bundestag an die Regierungsmitglieder führen würden. Ich weiß, dass dies Teil langer Verhandlungen war und schließlich im Text der Begleitgesetze nicht so festgeschrieben wurde. Sie dürfen auch politisch nicht in diesem Sinne ausgenutzt werden. Dies wäre nicht im langfristigen Interesse von Deutschland und der EU. Die nationalen Vertreter im EU-Rat sollten so viel Handlungsfreiheit behalten, dass sie in Brüssel zielorientiert verhandeln können. Das geht nur, wenn sie weiterhin eine gewisse Flexibilität behalten und nicht bei jedem Detail die Erlaubnis ihres Parlaments einholen müssen.

Andersrum gesagt: würde Deutschland in Zukunft einen ausgeprägten Hang zum imperativen Mandat entwickeln, läge die Gefahr nahe, dass alle strittigen Fragen vom Ministerrat auf den europäischen Rat abgeschoben werden würden. Dies hätte zur Konsequenz, dass sich die Konsensbildung auf dem absolut niedrigsten Niveau einpendeln würde. Dies zum Nachteil der politischen Effizient in der EU und der EU schlechthin.

Neben der Stärkung der repräsentativen Demokratie erhält auch die Stimme der europäischen Bürger ein stärkeres Gewicht durch den Vertrag von Lissabon. Im Rahmen der neuen Bürgerinitiative können eine Million Bürger aus "einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten" verlangen, dass die EU-Kommission zu einem Thema einen Vorschlag unterbreitet. Auch wenn die EU-Kommission nicht zu einem Gesetzesvorschlag gezwungen werden kann, erlaubt die Bürgerinitiative, dass die Bürger tiefgreifenden politischen Einfluss auf das Initiativmonopol der Kommission bekommen.

Auch wenn die Details noch geklärt werden müssen, kann man jetzt schon sagen: Indem die europäische Bürgerinitiative die Kommission zwingt, die Bürger stärker zu beteiligen und ihre Interessen zu berücksichtigen, kann sie einen wichtigen Beitrag leisten zu einer stärkeren Mitgestaltung Europas durch die Bürger. Sie werden zu mehr Engagement und internationaler Vernetzung im Vorfeld europäischer Rechtsetzung motiviert. Wenn das klappt, werden wir dem Ziel einer aufmerksamen, aktiven und kritischen europäischen Gesellschaft etwas näher kommen.

Die Unionsbürgerschaft ist ebenfalls ein Mittel, nicht bloß ein Symbol, um das Zugehörigkeitsgefühl zur EU der europäischen Bürger zu fördern. Die europäische Bürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ohne diese zu ersetzen. Mit ihr verbunden sind Rechte wie Aufenthalts- und Bewegungsfreiheit, aktives und passives Wahlrecht für die europäischen Parlaments- und den Kommunalwahlen, Anspruch auf diplomatischen und konsularischen Schutz oder das Recht, den europäischen Bürgerbeauftragten anzurufen.

Die Rechte des Bürgers werden dadurch abgesichert, dass die EU durch den Lissabon-Vertrag eine eigene einheitliche Rechtspersönlichkeit erhält. Bisher besaßen die Union und die europäischen Gemeinschaften unterschiedlichen Rechtsstatus. Die Beschlussfassung erfolgte deswegen nicht nach einheitlichen Regeln. Seit dem 1. Dezember gibt es nur noch die europäische Union mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit. Dies ist ein großer Fortschritt, weil es nicht nur die Sache juristisch vereinfacht, sondern nun auch endlich die europäische Grundrechtcharta rechtsverbindlich werden kann. Mit dieser Charta wurden im Jahre 2000 die Grund- und Menschenrechte erstmals umfassend auf europäischer Ebene schriftlich niedergelegt. Die Charta bindet zum einen die Gemeinschaftsorgane, zum anderen die Organe der Mitgliedstaaten, insoweit diese Gemeinschaftsrecht ausführen. Jede europäische Bürgerin und jeder Bürger kann fortan vor dem europäischen Gerichtshof Klage erheben, wenn er eines seiner Rechte von diesen Organen im Rahmen der Ausführung des Gemeinschaftsrechts als verletzt erachtet. So hat zum Beispiel jeder Bürger das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit, Eigentum, Gesundheitsschutz und gerechte Arbeitsverhältnisse. Leider haben drei Mitgliedstaaten, und zuletzt die Tschechische Republik, ein „opt-out“ für diesen Teil des Vertrags angestrebt und erhalten. Ich kann nur hoffen, dass die Zeit ihnen zeigen wird, dass diese Entscheidung nicht die richtige war.

Der Lissabon-Vertrag legt ebenfalls die Grundwerte der Union im Einzelnen klar dar. Diese Grundwerte sind für alle Mitgliedstaaten verbindlich. Dies war bisher nicht der Fall. Werte wie Wahrung der Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit sollen allen Mitgliedstaaten gemeinsam sein. Die europäische Gesellschaft soll sich durch Pluralismus, Gerechtigkeit, Nichtdiskriminierung, Solidarität und die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau auszeichnen. Auch der grundsätzliche Schutz der sprachlichen und kulturellen Vielfalt wird festgeschrieben.

Die EU ist ein einzigartiges politisches Projekt, das sich als neuartiges Gouvernance-System versteht. Alternativ zu dem angelsächsischen neo-liberalen Kapitalismus oder dem chinesischen wirtschaftlichen Dirigismus, versucht es wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte zu vereinen. Denken Sie zum Beispiel an die Lissabonstrategie, die zum Ziel hat, im Rahmen des globalen Ziels der nachhaltigen Entwicklung den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt in Europa anzukurbeln.

Frau Merkel hat in Ihrer letzten Regierungserklärung gesagt, eine der Lehren der Finanz- und Wirtschaftskrise sei es gewesen, dass durch das entschlossene Eingreifen der Politik Schaden von den europäischen Ländern abgewendet werden konnte. Ich gebe ihr Recht. Hätten die europäischen Partner nicht zusammen agiert, wäre es noch schlimmer gekommen.

Als Sozialdemokrat erlaube ich mir hinzuzufügen, dass all jene Ideologen und politische Denker, die sich auf der Schiene "mehr Kapitalismus wagen" zügig fortbewegten, in einem gewissen Maβe selbst die Handbremse gezogen haben. Manchmal gar mit einer umwerfenden Überzeugung, die in die diametral anders gelagerte Logik der staatlichen Vollkasko mündete. Ich wage zu behaupten, und es fällt mir vor Gewerkschaftsvertretern nicht übermäßig schwer, dass der freie Markt auch im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft eine Dosis staatliche Orientierung braucht, genau wie politischen Schutz gegen Auswüchse die das System untergraben und die soziale Komponente weit hinter das Profitstreben stellen.

Besonders in der Finanz- und Wirtschaftskrise war die gemeinsame Währung von Vorteil für die Mitglieder der Eurozone. Der Rahmen, in dem der Euro verwaltet wird, gewährleistet die Stabilität unserer Währung mit geringer Inflation und niedrigen Zinssätzen und hat so einige europäische Länder (Irland) vor noch größeren Schwierigkeiten bewahrt. Die Beispiele der baltischen Staaten und Ungarn, die nicht zur Eurozone gehören, oder Island außerhalb der EU, zeigen was die Konsequenzen der Krise sein konnten für Länder außerhalb der Währungsunion. Die Einhaltung der Regeln des gemeinsamen Binnenmarkts, unter der Obhut der EU-Kommission, schützt zudem alle davor, dass einige EU-Mitgliedstaaten ihre Wirtschaft abschotten und Absatzmärkte völlig wegbrechen. Dies konnte leider nicht verhindern, dass einige Länder Schwierigkeiten haben, ihr Haushaltsdefizit zu bewältigen, wie zum Beispiel Griechenland. Hier müssen Lösungen gefunden werden, die den Bedürfnissen der gesamten Eurozone Rechnung tragen.

Sozialpolitische zukunftsweisende Neuerungen und vertiefte Solidarität

Die Krise ist noch nicht vorbei. In der nahen Zukunft wird es in Europa darum gehen, auf politischer Ebene die Balance zu finden zwischen den Vorgaben des europäischen Stabilitäts- und Wirtschaftspakts und dem Weiterbestand unseres Sozialmodells.

Der Lissabon-Vertrag führt denn auch im Sozialbereich einige notwendige – wenn auch, meiner Ansicht nach, unzureichende – Innovationen ein. So zum Beispiel die horizontale Sozialklausel. Sie besagt, dass bei der Festlegung ihrer Politik die EU sozialen Erfordernissen Rechnung tragen muss, wie zum Beispiel der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, eines angemessenen Sozialschutzes und der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung. Auch der Förderung eines hohen Bildungsniveaus und Gesundheitsschutzes soll Rechnung getragen werden.

Dies ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Ziel, den sozialen Rechten den gleichen Rang zu geben als den wirtschaftlichen Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes. Diesen wurde ja bisher in einigen Fällen vom europäischen Gerichtshof der Vorrang gegeben, zum Beispiel in den Urteilen Rüffert oder Laval. Der Sockel der Sozialrechte war bis jetzt mit Sicherheit noch nicht stark genug, was auch mit der Geschichte der EU als eine ursprünglich marktorientierte Union zusammenhängt. Die EU muss sich stärkere soziale Regeln geben, aufgrund derer gegebenenfalls der Gerichtshof entscheiden kann. Europa braucht eine ausgeglichene soziale Marktwirtschaft, im rheinischen Sinne.

Von großer Bedeutung für die Verteidigung dieser Wirtschafts- und Sozialkultur ist die jüngste Entwicklung in den USA einzuordnen. Die großen Reformen auf dem Gebiet des Gesundheitssystems von Präsident Obama zum Beispiel, sind ein entscheidender Durchbruch der zeigt, dass Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht ohne gegenseitige Komplimentarität funktionieren sollte.

Der neue Vertrag zielt auch auf eine stärkere Einbindung der Sozialpartner ab. Der mindestens einmal jährlich stattfindende Sozialgipfel soll spezifisch zum Dialog über Wachstum und Beschäftigung einen Beitrag leisten, indem er Teilnehmer aus der Kommission, der Ratspräsidentschaft und Vertreter der Sozialpartner zusammenbringt.

Man darf allerdings nicht glauben, in der EU wären grundsätzlich soziale Anliegen bisher auf taube Ohren gestoßen. Schaut man sich die vieldiskutierte Entsenderichtlinie an, stellt man fest, dass durch sie eine ganze Reihe von Rechten und Pflichten für alle Arbeitnehmer und Unternehmen europaweit verbindlich werden. Sie betreffen Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten, Mindestlohnsätze, Gesundheitsschutz und Hygiene am Arbeitsplatz sowie arbeitsrechtliche Mindeststandards an Freizeit und Urlaub. Der Gerichtshof hat zum Beispiel auch die Richtlinie bestätigt, nach der jeder Arbeitnehmer Recht auf mindestens vier Wochen bezahlten Urlaub hat. Somit wurde der Grundsatz bestätigt, dass nicht nur der Markt, sondern der Mensch im Mittelpunkt unseres politischen und wirtschaftlichen Bestrebens stehen muss.

In dem Sinne plädiere ich für die Einführung eines europäischen Mindestlohns. Löhne von 3,50 Euro die Stunde und weniger sind keine Seltenheit mehr und der sogenannte Niedriglohnsektor umfasst mehr und mehr Beschäftigte: in Deutschland müssen 4,5 Millionen Arbeitnehmer für weniger als 7,50 Euro die Stunde arbeiten! Davon kann man nicht leben. Ein Europa des Wettbewerbs nach unten bei Sozial- und Arbeitsbedingungen lehne ich ab.

Das Argument, wonach Armutslöhne den Abbau von Arbeitsplätzen verhindern, hat keinen Bestand. Eine solche Politik ist nicht nur menschenverachtend. Sie ist auch negativ für die Produktivität unserer Volkswirtschaft. Mindestlöhne setzen dem Wettlauf um die niedrigste Entlohnung ein Ende. In Großbritannien und Irland wurden erst vor wenigen Jahren Mindestlöhne eingeführt. Der von vielen Wirtschaftsinstitute angekündigte Anstieg der Arbeitslosigkeit ist jedoch nicht eingetreten; durch die vermehrte Kaufkraft haben sich vielmehr positive Beschäftigungseffekte ergeben.

Sicher, ein einheitlicher Mindestlohn in ganz Europa wird nicht funktionieren, dazu ist die wirtschaftliche Situation in den 27 EU-Mitgliedstaaten zu unterschiedlich. Dennoch sollte auf europäischer Ebene eine Regelung getroffen werden, die garantiert, dass in allen Mitgliedstaaten eine Lohnuntergrenze von über der Hälfte des jeweiligen nationalen Durchschnittslohnes gilt.

Ich vertrete die Meinung, dass es nach den Phasen der Entstehung der EU im Rahmen der deutsch-französischen Versöhnung, dann der Erweiterung im Nachspann des Mauerfalls im Jahre 1989 heute darum geht, in Europa soziale Errungenschaften abzusichern. Vor allem nach der Krise sollten wir uns darauf zurückbesinnen, dass nicht der Profit, sondern das nachhaltige Wohlergehen der Menschen wichtig ist. Wachstum ist kein Selbstzweck, sondern eine Voraussetzung für die Wahrung und Vermehrung des Wohlstands in Europa und somit für den Erhalt und die Verbesserung unseres Sozialmodells.

Eines der Ziele der Union ist das Hinwirken auf eine nachhaltige Entwicklung in Europa, die auf einem hohen Maß an Schutz und Verbesserung der Umwelt beruht. Jetzt, gerade nach der Ernüchterung in Kopenhagen, müssen wir noch verstärkten Wert auf unsere Umweltpolitik legen. Wir dürfen unsere ambitiösen Ziele in dem Bereich nicht aus den Augen verlieren. Im Vertrag von Lissabon wird die Förderung von nationalen und internationalen Maßnahmen zur Bewältigung von Umweltproblemen und zur Bekämpfung des Klimawandels erstmals verankert.

Der Vertrag von Lissabon läutet ebenfalls einen neuen Abschnitt zum Thema Energie ein. Die Union sollte für einen funktionierenden Energiemarkt sorgen, die Versorgung sichern, die Energieeffizienz und das Energiesparen, sowie die Entwicklung neuer und erneuerbarer Energieträger fördern. Darüber hinaus legt der Vertrag das Prinzip der Solidarität für den Fall fest, dass in einem oder mehreren Mitgliedstaaten ein Versorgungsengpass auftritt. Von den übrigen Mitgliedstaaten wird dann erwartet, dass sie einspringen.

Durch eine im Vertrag neu festgeschriebene Solidaritätsklausel versichern sich die Union und ihre Mitgliedstaaten gemeinsam zu handeln, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist. Die Union wird verpflichtet alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, zu mobilisieren. Wenn dies auch bis jetzt nicht in der Praxis so gehandhabt wurde, so ist doch die Verankerung dieser gegenseitigen Beistandsklausel ein wichtiger Ausdruck des europäischen Solidaritätsgedanken.

EU-Außenpolitik

Als einer der 27 Außenminister in der EU liegt es mir am Herzen mit Ihnen auch einige Gedanken über die EU in der Welt zu entwickeln.

Deutschland, Europa und die Welt haben am 9. November 2009 den 20. Jahrestag des Mauerfalls gefeiert. Hat die Welt verstanden mit diesem Jahrhundertereignis, wie auch mit dem Zusammenbruch des Kommunismus, richtig umzugehen? Hat sie es verstanden die Lehren zu ziehen, die sich aufgedrängt haben?

Der Sieg der Freiheit, der Menschenrechte schlechthin, über die Diktatur war doch die eklatanteste Botschaft. Käfige waren und bleiben menschenunwürdig. Frieden sichern ist jedoch mehr als Niederreißen von materiellen Gittern, Zäunen oder Mauern. Frieden heißt Toleranz, Respekt auf Anderssein, Achtung der Interessen und der Kultur des andern.

Die EU hat unbedingt richtig gehandelt in den frühen neunziger Jahren schon den Prozess der Erweiterung für die osteuropäischen Länder zu beginnen. Manche haben damals gebremst, gezögert, ja populistische Töne eingeschlagen. Ihnen wurde glücklicherweise nicht zugehört. 2004 und 2005 traten 12 neue Länder der EU bei. Mit allen Problemen, Sorgen, strukturellen Herausforderungen die uns auch heute noch begleiten, war dies die einzig logische politisch richtige Alternative im Sinne des Friedensprojektes der EU.

Wir wissen, dass es zeitgleich mit der Erweiterungsdebatte zum Krieg im damaligen Ex-Jugoslawien kam. Mitten auf dem europäischen Kontinent, in einer Region die zwischen Österreich und Griechenland liegt, standen wieder Folter, Vertreibung, ethnische Säuberungen, Völkermorde, Krieg mit Zehntausenden Opfern auf der Tagesordnung.

Heute wissen wir, dass nur die EU Stabilität, Frieden, Demokratie in alle Länder des Balkans, von Kroatien bis Montenegro, von Bosnien-Herzegowina bis zur früheren jugoslawischen Republik Mazedonien, von Albanien über Kosovo und Serbien langfristig, abzusichern vermag.

Diese riesige Herausforderung, welche die EU 2003 in Saloniki verkündet hat, nämlich all diesen Ländern die Türen der EU zu öffnen, ist die Aufgabe die die EU in der kommenden Dekade erwartet. Diese Perspektive umzusetzen wird Kraft kosten, Geduld aber auch Mut erfordern.

Erweiterung ist zu einem wenig populären Wort in der EU geworden. Vielerorts, auch in Luxemburg, sowie in Deutschland, Österreich oder Frankreich zum Beispiel. Aber aufgepasst! Hier hat die EU ureigene Herausforderungen zu bestehen. Sie muss sich stellen: nicht die Amerikaner oder die Russen sind gefragt, sondern einzig und allein die EU.

Selbstverständlich pochen wir auf den konkreten Reformgeist in all diesen Ländern, auf die Zusammenarbeit mit dem internationalen Gerichtshof in Den Haag und hoffen auf viel mehr Zusammengehörigkeitsgefühl aller Balkanländer sowohl wirtschaftlich, kulturell aber auch politisch. Als Luxemburger erlaube ich mir zu sagen, dass hier eine mehr „beneluxianische“ Einstellung gut täte.

Die türkische Frage

Wissend, dass das Thema Türkei in den deutschen Bundesländern Emotionen erweckt, mit denen man als Nichtdeutscher behutsam umzugehen hat, möchte ich versuchen meine subjektive Annäherungsweise darzulegen.

1. Die EU ist ein "Verein" dessen politische Verlässlichkeit oberstes Gebot ist. 2004 und 2005 hat die EU einstimmig beschlossen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Dazu muss die EU stehen. Stellen wir uns vor zu jedem X-beliebigen Zeitpunkt stünde einer der sogenannten "Leader" der EU auf und stelle gefasste Beschlüsse in Frage. Zum Beispiel der Mann aus der ewigen Stadt möchte seine Lira wiederhaben, oder der Mann aus der goldenen Stadt die Auflösung des EU Gerichtshofes in Luxemburg. Kaum vorstellbar! Die EU muss zu Ihren Abmachungen stehen.

2. Die Türkei tritt der EU bei. Nicht die EU der Türkei. Also: die EU bestimmt die Prozeduren, legt Rechenschaft über die Verhandlungen in der Substanz ab und entscheidet zu einem gewissen Moment, ob ja oder nein der Beitritt für beide Seiten abzuschließen ist.

3. Die Türkei ist ein großes, strategisch wichtiges Land, ein Land das der EU mit Blick auf den nahen und mittleren Osten ein einzigartiges politisches Gewicht verleihen könnte. Um eine der herausragendsten Aufgaben in diesem Jahrhundert anzugehen, dem Zusammenleben der Zivilisationen, wäre eine EU mit Türkei der ideale "Player" mit gewaltigem Einfluss. In der Türkei wie auch in der EU, sollte es das langfristige Ziel sein die europäische Türkei zu fördern. Eine Türkei, die Europa nicht den Rücken wendet, sondern zeigen kann, dass Islam und Demokratie sehr wohl miteinander funktionieren können.

4. Ich habe es schon gesagt: die EU ist ein Friedensprojekt. In diesem Sinne ist seit 2004 viel Positives in der Türkei, im Interesse von 70Mio Menschen geschehen: Abschaffung der Todesstrafe, Reformen im Justizwesen, Vertiefung der Frauenrechte und der Zivilrechte, Abschaffung der Folter und verfassungsrechtliche Reformen. Nichts ist abgeschlossen. Vieles bleibt im Fluss. Aber allein das Bestehen der Nabelschnur, via Beitrittsverhandlungen mit der EU, ist eine Garantie, dass die Türkei offener, demokratischer und stabiler wird, dass die Menschenrechte sich zusehends verbessern.

5. Die Türkei muss wissen, dass ohne Lösung der Zypernfrage eine Mitgliedschaft in der EU ein Ding der Unmöglichkeit bleibt. Fazit: da wir hier nicht in Wildbadkreut, sondern in Köln sind, darf ich mir erlauben zu sagen, dass der deutsche Außenminister Westerwelle bei seinem Türkei-Besuch letzte Woche eine Position bezogen hat, die in der EU breite Zustimmung findet.

Spätesten seit Weihnachten ist in den USA der Begriff "Krieg gegen Terrorismus" wieder hoch im Kurs. Verständlicherweise. Die Suche nach einer effizienten Strategie ist komplex. Mit technischen Maßnahmen in den Flughäfen, in den Flugzeugen, mit Verbesserungen in der Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste, mit biometrischen Pässen, usw. wird das Problem an der Wurzel aber nicht zu erfassen sein.

In den letzen 20 Jahren, nach dem Mauerfall, in denen die Globalisierung sich rasant entwickelt hat, wurde eine große Lehre nicht konsequent gezogen.

Die Abrüstungsspirale hat sich nicht dorthin bewegt, wo viele Milliarden hätten freigesetzt werden können; Milliarden die für die Verwirklichung der Millenniumsziele dringend notwendig gewesen wären. Die Menschheit ist von der im Jahre 2000 angepeilten Halbierung der Armut auf dem Planeten bis 2015 weit entfernt. Es ist gar zu befürchten, dass die Weltwirtschaftskrise Fortschritt weiter bremsen wird.

Der ehemalige deutsche Außenminister Steinmeier hat sich in den vier Jahren seiner Amtszeit unermüdlich für den Abbau der Waffenarsenale eingesetzt. Äußerst verständlich aus deutscher Sicht, dass der Vertrag bezüglich des Abbaus der konventionellen Waffen in Europa wieder belebt werden müsste. Sollte Start2 zwischen USA und Russland in Sachen Reduzierung der interkontinentalen Raketenarsenale in den nächsten Monaten Wirklichkeit werden, wäre ein Schritt gemacht der parallel zur Inkrafttretung des CTBT-Vertrages, der alle atomaren Versuche auf der Welt untersagt, zu neuer Hoffnung Anlass geben könnten.

In derselben Logik ist auch die Rede von Präsident Obama in Prag anzusiedeln, als er von einer Welt ohne jegliche Atomwaffen sprach.

Der EU stünde es absolut gut zu Gesicht, wenn sie in den kommenden Jahren die beiden Ziele der Waffenabrüstung und der "Kooperationsaufrüstung" in der Dritten Welt mit viel Engagement verfolgen würde. Nur eine gerechtere Welt mit menschenwürdigen Lebensbedingungen auf allen Kontinenten, die eigentliche Vorlage der UN-Millennium-Ziele, wird Hass, Intoleranz und in letzter Instanz Terror den Nährboden an der Wurzel entziehen.

Seit Mitte 2004 habe ich das Privileg EU-Außenpolitik aus der Nähe mitzuerleben und in einem bescheidenen Maße mitzubestimmen. Jemen, Somalia, Iran, Pakistan, Nahost und Afghanistan sind Konflikte, die die EU-Außenpolitik in einem hohen Maße beschäftigen. Gestatten Sie mir aus Zeitgründen nur zu Afghanistan und dem Nahen Osten einige Gedankengänge hier anzubringen.

Afghanistan

Im breiten politischen Spektrum aller EU-Länder, in Stellungnahmen von NGO’s, gar in Predigten, wird über die Präsenz von Militär- und Zivilmissionen vieler EU-Mitgliedstaaten in Afghanistan Pro und Kontra debattiert.

Drei Punkte dazu:

1. Es besteht ein UNO-Mandat, das der internationalen Gemeinschaft den Auftrag gibt in Afghanistan beim Aufbau rechtstaatlicher Strukturen zu helfen, die dem Land und dem Volk erlauben in Frieden und Freiheit zu leben. Militärischer Einsatz wie ziviler Aufbau gehören zu diesem Mandat. Dies im Gegensatz zum Irak wo kein solches UNO-Mandat vorlag.

2. Als Luxemburger habe ich großen Respekt vor Ländern wie Deutschland, Frankreich, Spanien, Dänemark, Italien, Großbritannien, die Niederlande, um nur einige EU-Länder zu nennen, die viel Engagement zeigen und oft tote Soldaten zu beklagen haben. Entschieden stehe ich persönlich auf der Seite jener die wie übrigens General Mc Chrystal, auf der letzen NATO-Tagung in Brüssel sagen, dass mit Bomben, Tanks und Raketen dem UNO-Mandat nicht Genüge geleistet werden kann.

Nur die Afghanisierung der Sicherheit in Afghanistan wird Stabilität bringen. Das heißt, dass die internationale Gemeinschaft Ausbilder stellen muss für Polizei und Armee. Wenn eines Tages nur noch afghanische Uniformen in den Strassen von Kabul patrouillieren, wenn afghanische Soldaten eingesetzt werden um Opiumsfelder zu zerstören, wird Stabilität eine Chance haben.

Kai Ede, der UN-Beauftragte in Afghanistan sagte in Brüssel im Dezember: "Wir brauchen dringend erfahrene Leute aus der westlichen Welt, die den Afghanen zeigen wie Schulen, Krankenhäuser, Verwaltungen, Gemeinden und Städte geführt werden."

Die extremistischen Taliban sind in Afghanistan stark, weil die Regierung und die Verwaltungen schwach sind. Hier muss angesetzt und durchgesetzt werden. Die Londoner Konferenz am 28. Januar bietet Gelegenheit dafür.

3. Wer jemals in Kambodscha war, weiß, dass man dort heute noch sieht welches Unheil die roten Khmer 1975 und 1979 angerichtet haben. 1.7 Mio Menschen wurden gefoltert, erschossen, ermordet. Die Welt hat zugeschaut. Gleiches darf sich nicht in Afghanistan wiederholen. Darum ist es wichtig und notwendig, dass wir in Afghanistan engagiert sind und bleiben. Verloren hat die internationale Gemeinschaft, wenn das afghanische Volk nach Jahrzehnten Krieg, wieder unter der Dominanz der Extremisten zu leiden hätte. Gewonnen hat sie wenn auch Taliban freie Wahlen akzeptieren und in einer rechtstaatlichen Regierung Verantwortung zu übernehmen bereit sind.

Der nahe Osten ist wohl eine Schlüsselstelle des Weltfriedens. Solange das Kernproblem "Frieden zwischen Israel und Palästina" nicht gelöst ist, werden von den Philippinen, über Indonesien bis in die Türkei, wie in großen Teilen Afrikas immer wieder Motivationen geschürt werden, um Gewalttaten zu stimulieren, gar zu rechtfertigen.

Morgen wird das Quartett in Brüssel tagen. UNO, USA, Russland und die EU werden versuchen die Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern, die seit dem Gazakrieg im Dezember unterbrochen sind, neu zu beleben.

Als Freund Israels und gerade hier in Deutschland muss darauf hinzuweisen sein, dass die jetzige Regierung in Tel Aviv aus meiner Sicht einen gravierenden politischen Fehler macht.

Sie macht ihn einerseits durch ihre Siedlungspolitik im Westjordanland, die dem Geiste von Annapolis grundlegend widerspricht und dem palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas es nicht ermöglicht an den Verhandlungstisch wiederzukehren. Noch nie gab es eine solch friedensorientierte, pragmatische und engagierte Regierung der Palästinenser. Sie hätten mehr Entgegenkommen aus Tel Aviv verdient.

Andererseits war in den Ländern der arabischen Liga der Wille mit Israel Frieden zu schließen nie so groß, wie nach Annapolis. Dieser verschwindet jedoch zusehends. Ägypten und Syrien neutralisieren sich gegenseitig. Die diplomatischen Anstrengungen der Türkei tragen viel weniger. Das erhoffte Näherkommen zwischen Israel und Syrien ist gestoppt. Aus dem Iran bezieht Hamas große Unterstützung und breitet seinen Einfluss aus.

Israel kann sich, wie der frühere Israelische Botschafter in Berlin, Avi Primor, es in der Süddeutschen Zeitung schrieb, nicht jedes Jahr einen Krieg leisten.

Darum ist es an uns Europäer die israelische Regierung zu ermutigen:

a) die Siedlungspolitik einzustellen in Gebieten, die Israel nicht gehören;

b) Gaza zusammen mit Ägypten zu öffnen damit 1.5 Mio Menschen aus diesen Käfig mit Meeresblick herauskommen, um arbeiten zu können, den Wiederaufbau zu tätigen, um sich medizinisch pflegen zu lassen, um studieren zu können, kurz gesagt, um neue Lebensmotivation aufzubauen. Nur so kann diese tickende Bombe Gaza entschärft werden. Ein wenig Menschlichkeit ist gefragt, mehr Weitsicht täte gut.

Ich hoffe, dass die EU mit allen Mitgliedstaaten seine gemeinsame Linie zu Israel weiter entwickelt. Israel braucht eine klare EU-Linie, zu den Grenzen von 1967, zu der die Frage von Jerusalem gehört, zur Flüchtlingsfrage und zur Zweistaatenlösung als großes Ziel.

Die EU ist heute die einzige Organisation in der Welt, die sich sowohl militärisch, wie auch zivil in Krisensituationen in Drittstaaten engagiert. Im Rahmen der EU sind 23 Krisenmanagement-Missionen auf drei Kontinenten unternommen worden, die insgesamt 70.000 Leute beschäftigen. Die Missionen, die die EU-Länder bisher außerhalb ihres Gebietes durchgeführt haben, dienten der Friedenssicherung und der Stärkung der internationalen Sicherheit gemäß den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen.

Im Jahre 2003 wurde die erste Sicherheitsstrategie der EU definiert, die unsere Vision der Weltordnung und unsere Rolle in dieser festlegt. Sie hat uns geholfen kohärenter und kontinuierlicher mit Drittstaaten zu außenpolitischen Problemen zusammenzuarbeiten.

In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass im Lissabon-Vertrag die seit dem Vertrag von Amsterdam bestehende Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit erweitert wird. Sie bietet besondere Rechtsvorschriften für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, zum Beispiel im Bereich Krisenmanagement und Peacekeeping. Die Handlungsfähigkeit der EU wird durch die Möglichkeit erhöht, dass mindestens neun Mitgliedstaaten in einem Bereich rascher voranschreiten können als die übrigen Mitglieder. Diese können sich natürlich jederzeit entscheiden mitzumachen. Vorgeschmack, wenn auch nicht im juristischen Rahmen der sogenannten verstärkten Zusammenarbeit, waren zum Beispiel das Schengener Abkommen, durch das bereits in der Vergangenheit einzelne Mitgliedstaaten schneller als andere Integrationsschritte durchführten.

Wohlverstanden misst die EU in ihrem Handeln dem Multilateralismus die größte Bedeutung bei. Die EU ist ein Anwalt des internationalen Rechts und seiner Institutionen, allen voran des UNO-Systems. Luxemburg hat sich immer für starke UNO-Institutionen eingesetzt, vor allem im Bereich Sicherheit und Frieden, Entwicklung und Menschenrechte. Keine andere Struktur besitzt die Legitimität des UNO-Systems, auch nicht der G20, obwohl es da ja eine deutliche Entwicklung zu einer gerechteren Balance zwischen den Weltregionen gibt. Der G20 sollte aber kein Ersatz sein für multilaterale Institutionen, welche das Mandat haben, verbindliche Maßnahmen nehmen zu können in Bereichen wie zum Beispiel dem Kampf gegen die Armut, dem internationalen Handel oder der Wirtschafts- und Finanzkrise.

Global gesehen zielt der Vertrag von Lissabon darauf ab, dass die EU nach innen wie nach außen, geschlossener auftreten soll. Dass die außenpolitische Kontinuität der EU verstärkt und ihre Stimme auf der internationalen Bühne besser gehört wird, dafür soll das neu geschaffene Amt der Hohen Vertreterin der Union für Außenpolitik sorgen. Die Britin Catherine Ashton, die für diesen Posten nominiert worden ist, leitet fortan den Rat der Außenminister und ist zur gleichen Zeit Vize-Präsidentin der Kommission. Zusammen mit dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Kommissionspräsidenten soll sie die außenpolitische Strategie der Union verfolgen. Dazu wird Catherine Ashton einem eigenen diplomatischen Korps vorstehen, der Beamte aus der Kommission, dem Rat und den Mitgliedstaaten umfassen wird. Er soll eng mit den diplomatischen Diensten der Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, so dass die beschlossenen Maßnahmen wirksamer umgesetzt werden können.

Die EU ist auf der ganzen Welt durch Vertretungen repräsentiert. Diese Außenstellen, die bis jetzt ausschließlich die europäische Kommission vertraten, wurden am 1. Dezember zu Vertretungen der europäischen Union. Sie setzen sich in mehr als 130 Ländern für unsere Werte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ein, sind die Ohren und Augen der europäischen Union. Sie helfen, Informationen zu kohärenten Politiken zu verarbeiten, sei es Außen-, Entwicklungs- oder Handelspolitik.

Sie haben gespürt, ich kann dem Lissabon-Vertrag viel abgewinnen. So kann es, dessen bin ich mir sicher, jeder Europäer. Der Vertrag erlaubt es aber auch denjenigen, die von der europäischen Integration noch nicht hundertprozentig überzeugt sind, bestimmte Vorurteile und Kritiken gegenüber "Brüssel" abzubauen, indem er für mehr Transparenz, mehr Kohärenz, schnellere Handlungsfähigkeit und Verringerung des Demokratiedefizits sorgt und einige sozialpolitische Handbremsen einführt.

So positiv die Bereicherungen durch den Lissabon-Vertrag auch sind - Kernfragen nach der Zukunft der EU beantwortet der Vertrag jedoch nicht. Das ist die Rolle der Politik. Auf viele Fragen müssen in der Zukunft Antworten gefunden werden. Welche Grenzen soll die EU haben? Wie sollen ihre Beziehungen zu den wichtigsten Nachbarn aussehen? Wie sollen unsere Sozialsysteme abgesichert und gleichzeitig die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Wirtschaft aufrechterhalten werden?

Angesichts dieser Herausforderungen ist die Politik also mit dem Inkrafttreten des neuen Vertrags keineswegs aus der Verantwortung entlassen. Vielmehr geht es darum, die EU in der konkreten Umsetzung des Vertrages so handlungsfähig und so legitim wie möglich zu machen. Erst bei der Umsetzung des neuen Vertrags wird sich zeigen, ob Europas Regierungen und Politiker wirklich zu einer starken Union stehen.

Herman Van Rompuy hat schon sehr bestimmt seine Prioritäten für das neue Jahr dargelegt. Sein erstes Ziel ist dabei die vollständige Umsetzung des Lissabon-Vertrags und ein bald reibungsloses Funktionieren der neuen Institutionen. Ich begrüße übrigens die Veröffentlichung einer gemeinsamen Erklärung der Herren Van Rompuy und Zapatero, Ministerpräsident von Spanien, das den rotierenden Ratsvorsitz innehat. Sie werden loyal zusammenarbeiten und dabei auch ein gutes Stück Kreativität an den Tag legen müssen. Prioritäten der EU sind dabei neben der Umsetzung der neuen institutionellen Ordnung eine bessere Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, um den wirtschaftlichen Wiederaufschwung voranzutreiben.

Die Vergangenheit hat uns gezeigt, dass Integrationsmöglichkeiten nicht mehr automatisch allgemeine Unterstützung erhalten. Auch hier müssen sich Europas Politiker einsetzen, um der europäischen Zusammenarbeit wieder mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen und den Mehrwert des europäischen Handelns zu beweisen. Das geht, indem Politiker über die Erfolge Europas kommunizieren und "Brüssel" nicht nur dann verantwortlich gemacht wird, wenn etwas schiefgeht.

Die EU muss weiterhin Erfolge verzeichnen, welche die Bürger Europas direkt betreffen, sie miteinander vernetzen und ihre Zukunftschancen erhöhen. So wie zum Beispiel das bewährte Erasmusprogramm für universitäre Austausche, mehr als einer Millionen Studenten erlaubt hat, für Beruf und Leben zu lernen. Weitere Initiativen sollten sich auf die Bereiche Bildung und Wissenschaft konzentrieren.

Es liegt in der Hand der politischen Führung, Europa neue Ideen und einen weiteren Integrationsschub zu geben, indem sie die Chancen nutzt, die ihr der Lissabon-Vertrag anbietet. Dabei muss sie klar zugeben: angesichts der globalen Herausforderungen können die Länder Europas nur zusammen stark sein. Inmitten der anderen großen Spieler auf der Welt brauchen wir weiterhin den europäischen Mannschaftserfolg.

Membre du gouvernement

ASSELBORN Jean

Date de l'événement

11.01.2010