Jean-Claude Juncker, Discours à l'occasion de la manifestation du DGB "Europäisches Gespräch - Mitbestimmung für ein demokratisches und soziales Europa", Bruxelles

Sehr verehrte Frau Buntenbach,
Frau Bundesministerin, liebe Ursula,
Meine Damen und Herren,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Eigentlich war ich, der ich jetzt aus einer Sitzung der europäischen Finanzminister komme, in Festtagslaune, und hatte verstanden – so hatte man mir das jedenfalls mitgeteilt und aufgetragen –, ich hätte hier eine Festrede zu 60 Jahren deutsche Montan-Mitbestimmung abzuliefern.

Aber beim intensiven Zuhören und weil ich eh nicht vorbereitet bin, bin ich gerne bereit auch einige Debattenelemente aufzunehmen, die vorhin, wie es mir schien, unter voller Zustimmung des Saales, mitgeteilt wurden.

Aber trotzdem möchte ich, weil ich Festtagsredner bin und mich in der Laune befinde, gerne zum Ausdruck bringen, dass 60 Jahre Montan-Mitbestimmung in Deutschland nicht nur ein Ereignis ist, das die Deutschen betrifft, sondern das die Europäer insgesamt mit auf den richtigen Weg nehmen sollte.

Wir denken zwar immer, die Weltgeschichte, auch der soziale Teil der Weltgeschichte, der ist ja übersichtlich, hätte erst mit unserem Eintritt in dieselbe stattgefunden. Trotzdem ist es so – ich sage das für diejenigen, die sich 1951 schon im postpubertären Erwachsenenalter befanden –, trotzdem ist es so, dass die Mitbestimmung in Deutschland eine wesentlich längere, ältere Geschichte hat, als die, die erst mit der Montan-Mitbestimmung 1951 begonnen hätte, weil sie reicht bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück, weil schon bei der verfassungsgebenden Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche über Arbeitnehmerrechte geredet wurde, über Fabrikausschüsse, über Sozialschutz. Das war kein zu einem Ergebnis führender Denkanstoß. Aber schon Ende des 19. Jahrhunderts hat es auch bei der Novellierung der deutschen Gewerbeordnung den Einzug von sogenannten freiwilligen Arbeiterausschüssen zu vermelden gehabt. Und die bayrische und die preußische Berggesetzgebung Anfang des 20. Jahrhunderts waren wegweisend, wie auch die Weimarer Gesetzgebung aus dem Jahre 1920 über die Betriebsräte. Insofern ist der Mitbestimmungsgedanke ein älterer als man annehmen würde.

Aber die eigentliche Geburtsstunde der deutschen Mitbestimmung, und auch der sich darauf aufsetzenden europäischen Nachahmungsversuche, geht auf das Jahr 1951 zurück.

Und mich hat das immer, als jemanden der europapolitisch aktiv ist und der 17 Jahre Arbeitsminister in seinem Lande war – es war meine schönste Zeit, nicht unbedingt für die luxemburgischen Arbeitnehmer, und ich sage auch nicht, dass ich meine beste Zeit schon hinter mir habe, aber es war trotzdem eine spannende Lebensperiode. Weil Arbeitsminister sind – deshalb bin ich auch während fünf Jahren in denen ich Premierminister war auch noch parallel Arbeitsminister geblieben – mit die wichtigsten Minister, die es in einem Kabinett gibt, weil sie haben es mit den tagtäglichen Sorgen und Problemen der Arbeitnehmerschaft und, über die Arbeitnehmerschaft hinaus, mit den nobelsten Anliegen der Menschen unserer Länder zu tun. Aber, autobiographische Klammer zu, und den Luxemburger hier im Saal drohe ich auch nicht damit, dass ich wieder einmal Arbeitsminister werden möchte.

Mich hat immer sehr bewegt, europapolitisch und sozialpolitisch, dass es eine Parallelität von zwei Prozessen gibt, die gleich wichtig sind.

1951 ist das Jahr, in dem Robert Schuman seine Rede gehalten hat, die am Ursprung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl steht. Und 1951 ist der Startschuss der deutschen Montan-Mitbestimmung. Das heißt, in der deutschen Auffassung zukünftig zu richtender Dinge stand Anfang der 1950er Jahre ein Doppelgedanke, europäische Integration, Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die nicht die kleinste der europäischen Errungenschaften war. Und dann parallel dazu, Mitbestimmung in dem Bereich, in dem die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl stattfand.

Die Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Konzentrationslagern zurückkamen, von den Frontabschnitten in ihre zerstörten Städte und Dörfer zurückkehrten und die aus diesem ewigen Nachkriegsgebet „Nie wieder Krieg“ ein politisches Programm entwarfen, das bis heute seine Wirkung zeigt, die haben spontan begriffen, aus diesem ewigen Kriegsmaterial Kohle und Stahl, das so viel Unglück in seiner verheerenden Kombination über den europäischen Kontinent gebracht hat, eigentlich ein Aufbaumaterial in den 1950er Jahren und in den Jahrzehnten danach zu machen.

Und dass dieser Aufbruch, dieses Nie-wieder-so-sein-wollen, mit Kohle und Stahl in Verbindung gebracht wurde, und gleichzeitig in Deutschland der Mitbestimmungsgedanke zu einer, wie ich finde, doch einigermaßen vollendeten Form emporwachsen konnte, ist doch ein Bespiel dafür, dass es ein Fehler des Denkens, des Ambientes, der Einschätzung ist zu denken, europäische Integration und Interessenvertretung der Arbeitnehmerinteressen wären ein Widerspruch.

Nein, ich bin der Auffassung, seit vielen Jahren schon, und ich werde das auch noch, wie ich hoffe während vielen Jahrzehnten bleiben, europäische Integration, soziale Dimension Europas, fairer Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit, konsequente Vertretung der Arbeitnehmer, Interessen, die man in Verbindung bringen muss mit dem, was im allgemeinen Interesse liegt, sind Dinge, die zusammengehen.

Wer denkt, er könnte die europäische Integration weiterhin auf Fahrt belassen, wobei ich die Fahrtgeschwindigkeit zur Zeit vermisse, wer denkt, Europa könne gegen die Arbeiten der Menschen gemacht werden, der irrt sich fundamental. Genau das Gegenteil ist der Fall.

Es handelt sich bei der Montan-Mitbestimmung, und bei deren vielen Kindern, eigentlich um sonst nichts als um die praktische Anwendung der Kardinaltugenden der sozialen Marktwirtschaft.

Ich weiß auch, ich weiß das aus dem, was ich darüber gelesen habe, weil ich kein Zeitgenosse von Adenauer und Konsorten bin, dass Ludwig Erhard und Müller-Armack, dem eigentlichen Vater, dem Denkvater der sozialen Marktwirtschaft, dass die Herrschaften mit dem Mitbestimmungsgedanken auf betrieblicher Ebene eigentlich nicht sehr viel am Hut hatten. Es schien ihnen konträr zu den eigentlichen Merkmalen der Marktwirtschaft, die sie dann sozial verbrämt als soziale Marktwirtschaft in dem Sinne ausgaben. Wobei das, was Erhard und Müller-Armack zusammengetragen haben, an Gedanken und auch an Leistungen, sehr wohl den Merkmalen der sozialen Marktwirtschaft entspricht. Aber die konnten damit nicht sehr viel anfangen, es ist Anderen zu verdanken.

Adenauer, ein klassischer Konservativer, Böckler, einer der sich nicht im Klaren darüber war, dass er eigentlich ein Zukunftsbewahrer sein wollte, den beiden ist es zu verdanken, dass es zum historischen Montan-Kompromiss kam.

Und dies zeigt wiederum, dass, bevor es uns gab, es schon andere gab, die auch einige Dinge richtig gesehen haben. Wobei ich größte Zweifel daran habe, ob die heutige Politikergeneration – ich gehöre dazu – denselben Durch- und Weitblick hat, wie die, die damals Wegweisendes auf die Strecke brachten.

Ich sage, Mitbestimmung ist die praktische Anwendung der Kardinaltugenden der sozialen Marktwirtschaft. Und als jemand, der fest auf dem Boden katholischer und christlicher Soziallehre steht, war ich eigentlich immer ein Mitbestimmungsanhänger, in dem Sinne, dass Mitbestimmung die Partnerschaft von Kapital und Arbeit in ihrer vollkommensten Form organisiert, Abschied nimmt vom Klassenkampf, von dem wir wissen, dass er nicht in allen Fällen, in den wenigsten Fällen, eigentlich in keinem Fall zu dem gewünschten Gesamtergebnis führt.

Mitbestimmung heißt, dass die Gesellschaft sich wehrt – nicht nur ihr arbeitender Teil, sondern die Gesamtgesellschaft – gegen den Anspruch der Betriebseigentümer des Kapitals, des Großkapitals, auf exklusive Verfügungsgewalt stellt.

Soziale Marktwirtschaft in ihrer Mitbestimmungsanwendung heißt, dass man es den Arbeitnehmern zutraut, langfristiges Interesse ihres Betriebes im Blick haben zu können.

Soziale Marktwirtschaft richtig gedacht, ist die betriebliche oder die sektorielle Anwendung des Gedankens, dass derjenige, der mitbestimmen möchte, nicht nur mitbestimmt, sondern auch bestimmt, wie in der Gesellschaft die Dinge funktionieren sollen, indem sie ineinandergreifen.

Soziale Marktwirtschaft in ihrem Mitbestimmungsteil ist das Bekenntnis zur Allgemeinwohl-Orientiertheit des wirtschaftlichen Lebens, ist eigentlich die Verinnerlichung dieses Elementargedankens, dass Wirtschaft nicht ein Selbstzweck ist, sondern dass Wirtschaft den Menschen zu dienen hat, und wenn Wirtschaft den Menschen dienen soll, dann braucht es das konsequente Anpacken, Zupacken, Mitmachen der Arbeitnehmerschaft, weil nur so fairer Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit entstehen kann.

Und wenn wir jetzt über die Genese, die Entstehungsgeschichte der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise nachdenken, dann sind viele Eilfertige sehr schnell mit der Schlussfolgerung zur Stelle, die darin besteht, zu sagen, dass das Konzept der sozialen Marktwirtschaft gescheitert wäre.

Nein, nicht die soziale Marktwirtschaft ist gescheitert, sondern das, was wir aus ihr gemacht haben, ist gescheitert, weil wir die Kardinaltugenden der sozialen Marktwirtschaft durch das widerstandslose Einziehenlassen der Verrohung der sozialen Sitten zugelassen haben, in Europa und weltweit. Und deshalb muss man zu den Ursprüngen der Kardinaltugenden der sozialen Marktwirtschaft zurückkommen! Das tun wir aber nur in sehr begrenztem Maße.

Ich bin sehr intensiv dabei, zusammen mit anderen, an der Finanzmarktregulierung zu arbeiten. Finanzmärkte müssen reguliert sein. Es war ein Fehler – ich bin dem im Übrigen weniger aufgesessen als andere, deshalb werde ich nicht rot, wenn ich jetzt hier kritisch bin, weil ich bin eigentlich nicht autokritisch, sondern genieße es, Recht behalten zu haben, jedenfalls in Teilen.

Ich bin groß geworden als Minister, als Premierminister in einer Gesamtatmosphäre, wo man uns Regierenden dauernd bedeutet hat, wir sollten uns aus den wichtigen Dingen des Lebens heraushalten.

Nur als plötzlich die Karre an die Wand gefahren wurde, da machte es plötzlich wieder Spaß Premierminister und Minister zu sein, weil auch die Großen dieser Welt, alle versammelten Gurus, an unsere Tür, das Haupt leicht beugend, angeklopft haben, und gesagt haben, tut was für uns.

Es ging nicht darum etwas für die zu tun, die es immer schon besser wussten, es ging darum, unser Gesellschaftsmodell zu retten. Es ging nicht darum, die Banken zu retten, es ging darum, den Kapitalfluss, den Kreditfluss in der Realwirtschaft zu erhalten. Es ging darum, elementare Interessen, auch der Arbeitnehmerschaft, der Bürger insgesamt, zu verteidigen. Und deshalb muss Finanzmarktregulierung weiter betrieben werden.

Es darf nicht zur Wiedergeburt undurchsichtiger, absolut nicht transparenter, komplizierter Finanzprodukte kommen, die niemand versteht, die niemand überblickt, die in ihrem Gesamtzusammenwirken das fast-Unheil der gesamten Weltwirtschaft zur Folge hatte.

Ich bin – und Luxemburg ist ein Finanzzentrum – sehr dezidiert der Auffassung, dass wir eine Kapitaltransaktionssteuer brauchen. Das hat nichts mit primitivem Anti-Finanzkapitalismus zu tun. Ich werde sehr beredt, wenn es darum geht, den Finanzkapitalismus zu kritisieren, weil er ist zu kritisieren. Es geht einfach um die Schließung dieser Gerechtigkeitslücke, die man in ihrer Breite, und in ihrer Bedeutung, in ihrer atmosphärischen Bedeutung, nicht unterschätzen sollte. Die Menschen fangen an – mich wundert das im Übrigen nicht – sich zu wehren, weil die Menschen der Auffassung sind, dass die Dinge, so wie sie sind, eben nicht mehr gerecht sind.

Ich weiß im Übrigen nicht, was soziale Gerechtigkeit im Detail ist. Ich weiß immer nur, und spüre immer nur, was nicht gerecht ist. Und die Dinge sind eben nicht gerecht, und deshalb müssen die Verhältnisse geändert werden, damit die Dinge wieder gerecht werden, und die Menschen sich wieder versöhnen können mit unserer Art und Weise, Wirtschafts- und Sozialpolitik praktisch zu gestalten.

Und deshalb muss Schluss sein mit dieser Verrücktheit, die darin besteht, immer nur das Kurzfristige im Auge zu haben. Von Quartal zu Quartal sich bewerten zu lassen. Und das geht munter weiter. Jeden Tag werden in Deutschland, in Europa, weltweit Quartalergebnisse veröffentlicht. Ja, was sind denn Quartalergebnisse? Das ist ein Drittelergebnis eines Jahres. Wieso werden Menschen ins Unglück gestürzt, ganze Betriebe ins Aus getrieben, Aktienstürze veranlasst, nur weil im zweiten Quartal weniger Geld verdient wurde als im ersten Quartal? Wenn aber im dritten Quartal mehr verdient wird, und man gleichzeitig Massenentlassungen vornimmt, dann steigen die Aktien. Das ist eine ungerechte Welt, und gegen die muss man sich wehren.

Ich habe nie Verständnis dafür gehabt, dass auch deutsche Banken – ich glaube, sie hieß sogar so – Inserate in den überregionalen deutschen Zeitungen geschaltet haben, die da hießen, „Lassen Sie Ihr Geld über Nacht arbeiten“. Geld arbeitet nicht über Nacht! Und wenn es über Nacht arbeitet, dann gegen andere. Das Geld für sich arbeiten lassen, ist das Geld auf Kosten anderer arbeiten lassen. Und wer zu Wohlstand kommen möchte, und wer Zufriedenheit auch als ein anzustrebendes, kollektives Gut begreift, der muss selbst arbeiten.

So, und dann bin ich bei Griechenland. Es hat lange gedauert, aber ich musste mir zuerst die Lufthoheit über den Raum sichern.

Ich bin, so steht es in den Zeitungen, Chef der Eurogruppe. Das ist kein vergnügungssteuerpflichtiger Job, weil ich muss mich mit Dingen und mit Menschen und mit Zuständen auseinandersetzen, die nicht in Ordnung sind. Und bei aller vorsichtigen Beurteilung dessen, was Herr Papandreou – den ich sehr mag und den ich für einen sehr ernstzunehmenden und als ernst einzustufenden griechischen und europäischen Patrioten halte –, ich muss feststellen, dass Griechenland mehr Geld ausgegeben hat in langen Jahrzehnten Irrungen und Wirrungen, als Griechenland Geld verdient hat. Ich muss feststellen, dass Griechenland, und ich beschäftige mich jetzt nicht mit der Frage, wer sich wo hineingemogelt hat, da war ich dabei. So, und ich hatte auch nicht den Eindruck, da wird gemogelt, aber es wurde gemogelt, nicht weil es zu viel Europa gibt, sondern weil es nicht genug Europa gibt, weil ich Idiot und andere Idioten der Kommission verboten hatten, unsere statistischen, nationalen Daten zu überprüfen. Ich habe dann auch gesagt, weil das damals die Mode war, so, es reicht jetzt, dass die Kommission überall ihre Nase hineinsteckt, wir wissen doch selbst wie wir unsere statistischen Daten zu führen haben. Ja, wir wussten es, aber die Griechen wussten es auch, die wussten es nur besser, und die haben es falsch gemacht. Und wenn wir mehr Europa gehabt hätten, dann hätte das auch rechtzeitig entdeckt werden können.

Das ist ein Beispiel dafür, dass dieser Schlachtruf, „Wir haben zu viel Europa“, eine falsche Aussage ist. Wir haben nicht genug Europa. Weil wenn wir mehr Europa gehabt hätten, hätten wir kontrollieren und überprüfen können, und dann wäre uns vieles, und den Griechen auch, erspart geblieben.

Ich bin nicht zuständig für die inhaltlichen Maßnahmen, die die griechische Regierung getroffen hat. Ich weiß nur, Griechenland hat seit Eintritt in die Währungsunion 50% seiner Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Und ich halte dieses Benchmarking – ich darf das auch in Gegenwart einer einflussreichen Bundesministerin sagen –, ich halte es nicht für in allen Fällen zulässig, dass die Leistungen aller anderen immer mit der gesamtbundesdeutschen wirtschaftlichen Leistung verglichen werden.

Verstehen Sie, ich war ja, wie gesagt, 17 Jahre Arbeitsminister, aber eine Agenda 2010 in der Form hätte ich Christdemokrat, und nicht Sozialist, und nicht Sozialdemokrat, so nie gemacht. Ich muss aber zugeben, und damit haben die Tarifparteien ja auch etwas zu tun, dass die deutsche Lohnzurückhaltung, ja, die reale Lohnzurückentwicklung, die es über 10 Jahre zu beobachten gab, wesentlich zur Besserung der deutschen Wettbewerbsfähigkeits-Komparativstellung beigetragen haben. Ob das im Einzelfall im maximalen Interesse des einzelnen deutschen Arbeitnehmers war, das wage ich zu bezweifeln. Aber ich muss damit leben, dass jeder sagt, Deutschland ist gut, und ihr sollt euch bemühen. Aber ich finde das nicht korrekt, weil man kann nicht alles mit allem vergleichen.

Aber dass die Griechen genau das Gegenteil dessen gemacht haben, was in der Bundesrepublik auch unter verantwortlicher Partizipation der Tarifparteien bewerkstelligt wurde, kann auch nicht einfach so hingenommen werden. Ich habe Georgios Papandreou nie kritisiert, dass er ein Referendum abhalten wollte. Ich bin seit acht, neun Monaten mit ihm in Gesprächen über ein Referendum. Ich hätte nur gerne gehabt, er hätte es rechtzeitig gemacht, und nicht zu einem Moment, wo wir uns, mühseligst genug, auf einen Gesamtkompromiss geeinigt hatten. Insofern habe ich das als illoyal empfunden, und ihm das auch gesagt. Und ich bin wirklich engstens mit ihm befreundet. Den Griechen gilt meine ganze Sympathie, das ist jetzt nicht schweißtriefende Arbeiterromantik, die blutarmen, 1 Meter 50 großen Durchschnittsgriechen, die zahlen die Zeche. Und ich hätte gerne, dass die 2 000 Familien in Griechenland, denen 80% des Volksvermögens gehört, dass die ihre Zeche zahlen.

Meine Sorge war, wenn die Griechen ein Referendum veranstalten, und die Antwort wird „nein“ sein, wegen der sozialen Schieflage, die auch einzelne Maßnahmen, ohne jeden Zweifel, zur Folge gehabt haben, dann wird der Ruf in anderen Ländern der Europäischen Union laut werden zu genau dem gleichen Thema, auch eine Volksbefragung abzuhalten. Und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, und sonst niemandem, es gibt ja noch Gewerkschaftler, die wirklich selbst noch im Betrieb arbeiten, ja, die gibt es, jeder von ihnen der im Betrieb selbst noch arbeitet, und nicht nur jemand kennt, der in einem Betrieb arbeitet, der weiß, dass auch die deutsche Arbeitnehmerschaft in ihrer großen Mehrheit gegen jedwede Hilfe an Griechenland votieren würde. Das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen. Das ist so. Man mag es bedauern, aber es ist so. Auch ist es so, weil in Deutschland sehr oft – nicht nur in Deutschland im Übrigen – ein Griechenlandbild entworfen wurde, das mit der eigentlichen Befindlichkeit der Griechen überhaupt nichts zu tun hat. Anstatt das griechische Volk dauernd zu beleidigen und die Würde der griechischen Nation mit Füßen zu treten – wer sind wir eigentlich, dass wir denken, dass wir dies tun dürften? –, sollten wir uns bemühen, sowohl Konsolidierung, die alternativlos ist, mit Maßnahmen in Einklang zu bringen, damit wieder Wachstum in Griechenland entsteht. Wenn Griechenland nicht wächst, wenn die griechische Wirtschaft nicht wieder auf die Sprünge kommt, dann wird alles Sparen der Welt nichts helfen. Wir brauchen Konsolidierung und Wachstum, und Wachstum so, dass Arbeitsplätze konsolidiert werden. Es geht nicht nur um die Konsolidierung der Staatsfinanzen, es geht auch um die Konsolidierung der Arbeitsplätze in Griechenland.

So, und wenn es jetzt im Euroland so wäre, dass viele am deutschen Mitbestimmungswesen genesen wären, dann wäre es auch nicht zu diesen Verirrungen gekommen. Wenn wir mehr Mitbestimmung in Europa hätten, wäre vieles nicht einfach so durchgewunken worden.

Ich bin auch für Flexibilität des Arbeitsrechtes, ich bin aber gegen die Zerstörung des Arbeitsrechtes. Kündigungsschutz ist kein Luxus, Kündigungsschutz ist eine volkswirtschaftliche, notwendige Einrichtung, ein Rettungsschirm, der um die Arbeitsmärkte herumgelegt wird, damit auf den Arbeitsmärkten nicht Willkür herrscht. Arbeitnehmer haben Rechte, und Arbeitnehmer haben auch das Recht beschäftigt zu sein.

Ich bin in langen Jahren stiller, aber verärgerter Beobachtung zur Schlussfolgerung gekommen, dass diese Rede, dass der typische Arbeitsvertrag ausgedient hätte und durch den atypischen ersetzt werden müsste, so, dass heute der Atypische typisch geworden ist, und befristete Arbeitsverhältnisse zahlreicher sind bei Neueinstellungen als unbefristete Arbeitsverhältnisse, das ist eine Welt, die ich so nicht mag. Wissen Sie, mein Vater war Stahlarbeiter. Wenn mein Vater alle sechs Monate hätte bangen müssen, ob er in Beschäftigung bleibt, dann hätte ich nie eine Universität von innen gesehen.

Arbeitnehmer, "kleine Leute" im noblen Sinne des Wortes, die sind ja nicht blöder als nicht kleine, die brauchen Gewissheit, die brauchen Planungssicherheit, die müssen wissen, wo es langgeht.

Ich weiß auch, dass es die lebenslängliche Anstellung in der Form der ersten 50 Jahre des 20. Jahrhunderts nicht mehr gibt, aber dass man hin und her geschoben wird, dass man nie weiß, wenn man morgens aufsteht, wo man die Mittagsschicht verbringt, dass man nie weiß, ob man in acht Monaten noch in Beschäftigung ist, dass Arbeitnehmer plötzlich eigentlich wieder zu Freiwild werden, wir also in eine Zeit zurückkehren, die wir schon einmal hatten, und gegen die wir uns gewehrt haben und gekämpft haben als Gewerkschaftler, der ich auch bin, ja, das ist doch etwas, was man noch sagen darf, ohne dass man sofort als altmodisch, als archaisch und als ewig gestrig abgestempelt wird. Mit dieser totalen Flexibilisierung, mit dieser übereiligen Deregulierung, mit dieser Auflösung der Normierung gehen wir Zeiten entgegen, die total unübersichtlich werden.

Und wir erleben an den Finanzmärkten und in dieser Wirtschaftskrise genau das Ergebnis dieser unvernünftigen Art Politik zu machen, und Gesellschaftspolitik eigentlich zu verstümmeln, weil die Menschen finden sich in so einem System nicht mehr zurecht.

Ich bin dafür, dass wir nicht nur über das europäische Sozialmodell reden, sondern auch aktiv etwas dafür tun, damit es auch erhalten bleiben kann.

Das heißt jetzt nicht, dass ich mit allem einverstanden wäre, was DGB und EGB, und die luxemburgischen GBs zu Protokoll bringen. So ist das nicht. Ich bin ein streitbarer Mensch, wenn es um männliche Debatten mit Gewerkschaftssekretären und Betriebsräten geht.

Aber ich bin nicht bereit, alles das, was aufgebaut wurde in 100 Jahren europäischer Sozialgeschichte, und in 60 Jahren deutscher Mitbestimmungsgeschichte, jetzt einfach an der Garderobe zu dieser globalisierten, neoliberalisierten Welt abzugeben. Ich bin für Eigenverantwortlichkeit. Ich bin allergisch dagegen, dass der Staat alles tun soll, aber ich bin total dagegen, dass man denkt, dass für jeden gesorgt wäre, wenn jeder für sich selbst sorgt. Das ist ein Ambiente, das im Endeffekt dazu führt, dass die Arbeitnehmerschaft sich von ihrem Betrieb entfernt und entfremdet, und sie sich auch, wenn dies das europäische Feldgeschrei weiterhin beherrschen wird, auch von der Idee der europäischen Integration letztendlich entfremden und entfernen wird.

Und deshalb bin ich auch der Meinung, dass wir alle Mitbestimmungsinstrumente, die es in Europa gibt – die sind ja übersichtlich an der Zahl und auch an der Qualität –, dass wir jetzt angesichts der Krise all diese Instrumente wieder auf den Prüfstand stellen. Alles wird zurzeit überprüft. Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Globalisierung, alles wird überprüft. Alles wird integriert, oder auch nicht, harmonisiert oder auch nicht, koordiniert oder auch nicht, nur über die soziale Dimension des Binnenmarktes, und über die soziale Dimension der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion wird ja fast überhaupt nicht geredet. Es wird ja das Wort „sozial“ von vielen als ein obszöner Worteinschub empfunden, wenn man über die Gesamtverhältnisse in Europa redet. Und dagegen müssen wir aufstehen. Nicht um primitive Rezepte in den Handel zu bringen, davon wird niemand gesund werden. Nicht wirtschaftspolitische Homöopathie ist angesagt, wenn es um soziale Medizin geht.

Aber ich hätte gerne, dass die Menschen, die arbeiten, die für Lohn und Gehalt arbeiten, dass die auch dort, wo sie selbst betroffen sind, mitbestimmen. Und dort, wo ihre Entscheidungen, ihre betriebsinternen Entscheidungen andere betreffen, andere in Europa, andere in Deutschland, andere in Luxemburg, andere in der Welt, dass sie versuchen, ihrer globalen Aufgabe gerecht zu werden.

Es reicht ja nicht nur bissige Kapitalismuskritik zu machen, und wenn der eigene Betrieb sich auf Kosten anderer, und zum Unglück anderer bereichert, oder wirtschaftet, dann beide Augen zuzudrücken. Nein, nein, nein, Gewerkschaftler sind ja Internationalisten, so haben wir es früher in den Studienzirkeln gelernt. Wenn man Internationalist ist, dann muss man auch auf die Anliegen Anderer, in einem anderen Betrieb, in einem anderen Bundesland, in einem anderen europäischen Land, in einer anderen Region der Welt, achten.

Man ist global zuständig, wenn man die Globalisierung kritisiert. Dann muss man auch die eigene, höchst individuelle Aufgabe in dieser globalisierten Welt wahrnehmen.

Und deshalb bin ich dafür, dass die Mitbestimmung, dort wo sie funktioniert, auch begriffen wird als Chance, die Zustände in Europa und die Zustände in der Welt in eine Richtung zu drücken, dass aus der Welt ein besserer Platz zum leben wird.

Und dieser Platz wird auch dann besser, wenn wir dem gesunden Menschenverstand eine größere Chance einräumen würden. Ich weiß, der gesunde Menschenverstand ist höchst unterschiedlich verteilt.

Aber wenn man sich einen Binnenmarkt an die Hand gibt, wo wir alles aplanieren, wo wir Handelshemmnisse abtragen, wenn wir diesen Binnenmarkt durch eine Währungsunion vervollständigen, wo niemand mehr auf- und abwerten kann, wo wir alle in einem Boot sitzen, dann verstehe ich bis heute nicht, und verstehe es seit 1985 nicht, seit die Binnenmarktphilosophie um sich griff, wieso wir denn nicht über soziale Harmonisierung in Europa reden dürfen.

Nun bin ich nicht der Auffassung, dass wir uns im Bereich der Sozialordnung, der Versicherungssysteme, der Alterssicherungssysteme auf den Weg einer forcierten Harmonisierung machen sollten. Das werden wir nicht schaffen, und das würde unsere Kräfte übersteigen.

Aber ich hätte gerne, und ich sage das seit vielen Jahren, aber ich ein kleiner luxemburgischer Heiliger in einer großen europäischen Kirche, ich hätte gerne, dass wir einen Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten haben. Es gibt überall Maxima und Minima. Wieso gibt es keine Minimalbestimmungen bei Arbeitnehmerschutz und bei Kündigungsschutz?

Und deshalb hätte ich gerne, dass wir jüngere Menschen, die ja deutlich nach dem Inkrafttreten der Montan-Mitbestimmung politisch aktiv wurden, wenn nicht sogar erst geboren wurden – das war jedenfalls mein Fall, ich bin schon in eine fertige Montan-Landschaft hineingeboren worden –, hätte ich gerne, dass wir uns eigentlich nicht schämen, wenn wir manchmal so altmodisch klingen.

Ich bin dafür, dass man sich auf das Wesentliche besinnt, dass Wirtschaft kein Selbstzweck ist, dass Wirtschaft den Menschen zu dienen hat, dass die Finanzwirtschaft der Realwirtschaft zu dienen hat. Und ich hätte gerne, dass Europa ein Platz bleibt, wo es viele Menschen gibt, die sich für dieses europäische Sozialmodell einsetzen, weil wenn wir dieses Sozialmodell nicht verteidigen, wer soll es dann tun?

Wissen Sie, wir sind ja, wir denken ja immer noch, wir wären die Herren der Welt. Wahrscheinlich waren wir es nie, und als wir es waren, war die Welt nicht viel besser als heute. Es gab am Anfang des 20. Jahrhunderts 20% Europäer weltweit. Am Anfang dieses Jahrhunderts gab es noch 11% Europäer. Mitte des Jahrhunderts werden wir noch 7% sein und am Ende des Jahrhunderts, am 1. Januar 2100, gibt es noch 4% Europäer. Es kann nicht sein, dass wir auf einem kleinen Kontinent immer weniger zahlreich werden und uns jetzt plötzlich wieder der Kraft des allein selig machenden Nationalstaates besinnen.

Nein, wir müssen zusammen arbeiten in Europa, wegen der Menschen in Europa, wegen dessen, was es an gutem europäischem Gedankengut zu erhalten bleibt, und damit andere in der Welt – nicht an uns lernen sollen, die Anderen sind zahlreicher, obwohl Demographie ein relativer Begriff ist. Wer Luxemburger ist, der drückt sich in Sachen Geographie und Demographie immer höchst bescheiden aus. Obwohl, wenn ich mit dem chinesischen Premierminister zusammen bin, mit dem ich so als typischer Christlich-Sozialer gut befreundet bin, dann nehme ich den immer an der Schulter, und sage: Wenn ich bedenke, dass du und ich, dass wir beide ein Drittel der Menschheit darstellen. Insofern ist Demographie ein relativer Begriff.

Wir müssen lernen, wir Europäer nehmen zahlenmäßig ab. Ich hätte aber gerne, dass wir geistig, sozial und politisch und gesellschaftspolitisch führend in dieser Welt bleiben, und deshalb hätte ich gerne, dass das, was an Tugendhaftem auf dem Boden des deutschen Mitbestimmungsgedankens gewachsen ist, dass das weiter in Europa gilt, und in die Welt hinausgetragen wird.

Ich bedanke mich.

Membre du gouvernement

JUNCKER Jean-Claude

Organisation

Ministère d'État

Date de l'événement

08.11.2011