Besuch ohne Berührungsängste. Premierminister Jean-Claude Juncker nimmt beim Wien-Besuch Stellung zu Österreich und zur Europapolitik

Herr Ministerpräsident, Sie kommen am nächsten Montag zu einem offiziellen Besuch nach Wien. Ist nach den Sanktionen wieder Normalität eingekehrt?

Jean-Claude Juncker: Der Besuch spielt sich unter den Vorzeichen der absoluten Normalität ab. Neben der Politik verbindet mich mit dem Bundeskanzler auch eine persönliche Freundschaft.

Und mit der FPÖ?

Jean-Claude Juncker: Im Zusammenhang mit der Causa Austria hat es in den 15, nicht nur in den 14 Hauptstädten Fehleinschätzungen, Informationsunterlassungen und Autismus gegeben. Ich hätte es für einen großen Fehler gehalten, wenn wir auf die Regierungsteilnahme der FPÖ nach dem, was diese Partei im Wahlkampf und davor gesagt hat, nicht reagiert hätten. Die so genannten Sanktionen waren keine gehobene Form der Staatskunst. Es gibt nichts zu überwinden, sondern nur etwas hinter sich zu lassen. In der für Österreich wenig erfreulichen Zeit hat es nie einen Bruch des Dialoges zwischen Luxemburg und Wien gegeben.

Sie treffen auch freiheitliche Regierungsmitglieder?

Jean-Claude Juncker: Ich treffe den Bundeskanzler zu einem Vieraugen-Gespräch, ich rede mit der Frau Außenminister und mit dem Finanzminister. Ich sehe den Bundespräsidenten, den Parlamentspräsidenten und den Bürgermeister. Am Mittagessen, das die Bundesregierung mir zu Ehren gibt, wie es im Programm steht, nimmt die Frau Vizekanzlerin teil. Gastgeber ist der Bundeskanzler. Es fällt mir im Traum nicht ein, die Liste der Eingeladenen zu beeinflussen. Es ist ein Besuch ohne Berührungsängste unter Miteinbeziehung der Opposition, um mein Bild von Österreich komplett zu machen.

Zu Europa: Wie interpretieren Sie das Nein der Iren zu Nizza?

Jean-Claude Juncker: Das Votum ist so ernst zu nehmen, wie wenn es sich um eine Volksbefragung in Deutschland oder Frankreich handeln würde. Die Zwischentöne, dass es sich dabei um ein Referendum eines weniger zahlreichen Volkes handelt, lehne ich ab. Volk ist Volk.

Was lernt die EU daraus?

Jean-Claude Juncker: Dreierlei: Man darf nicht den Eindruck erwecken, als ob die Iren nicht abgestimmt hätten. Zweitens muss die Frage gestellt werden, ob es Defizite in der Erklärung gibt, was Nizza ist. Drittens darf die Erweiterung nicht gebremst werden. Der Gipfel in Göteborg muss das klar machen.

Was bietet man Irland an?

Jean-Claude Juncker: Wir müssen hinhören, was die irische Selbstinterpretation ist. Der Vertrag sollte nicht geöffnet werden. Die Parallele zu Dänemark, das 1992 Ausnahmeregelungen wollte, gibt es nicht. Die Iren haben in Nizza alles erreicht. Der Kohäsionsfonds als Solidaritätsinstrument wurde nicht in Abrede gestellt. Die Neutralität wurde nicht tangiert in dem Sinne, dass es neutrale Staaten in der EU nicht mehr geben kann.

Was läuft falsch in der Vermittlung europäischer Politik?

Jean-Claude Juncker: Es gibt einen Graben zwischen Politik und Bürgern. Es gibt aber auch riesige Gräben zwischen Bürgern und Bürgern, zwischen jenen, die die europäische Sache vorantreiben wollen und jenem Bürgerblock, der alles behalten will, wie es ist. Für die Politik ist es schwierig, sich zum exakten Interpreten des Volkswillens zu machen. Unsere Aufgabe ist es, beides zusammenzuführen.

Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dieser Analyse?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube, dass es uns an europäischer Pädagogik fehlt, weil wir leichtfertig unterlassen darauf hinzuweisen, dass die Frage von Krieg und Frieden immer noch gilt. Die junge Generation will nichts davon hören, weshalb es nach dem 2. Weltkrieg zur Integration kommen musste und weshalb es Verwerfungen gegeben hat, die erst 1989/1990 geradegezogen wurden. Wenn es um die Erweiterung geht, um das gesamteuropäische, friedensstiftende Projekt, ist es besser, in Geschichtsbüchern zu blättern als in Meinungsumfragen.

Reicht das, um die Bürger für Europa zu interessieren?

Jean-Claude Juncker: Die europäische Einigung hat sich als Beruhigungspille entpuppt, nicht als politischer Auftrag künftigen Generationen gegenüber. Um Europa einen Zustimmungs-Kick zu geben, braucht es einige Dinge. Wenn ich die Frage von Krieg und Frieden stelle, rede ich vom 21. Jahrhundert. Jugoslawien liegt nicht in Westafrika, es ist mitten unter uns. Die alten Dämonen sind nicht gestorben, sie schlafen nur. Wenn es uns nicht gelingt, der Mehrheit der Europäer – und das sind die Arbeitnehmer – ein Projekt zu präsentieren, mit dem sie im Alltag etwas anfangen können, dann wird Europa abgelehnt werden. Wir brauchen mehr Europa dort, wo die Menschen mehr Europa wollen: im Kampf gegen das organisierte Verbrechen, in der Einwanderungs- und Asylpolitik. Wir müssen uns den Themen zuwenden, die lebensbestimmend sind: Das ist Arbeit und Sicherheit.

Zwei Modelle zur EU-Reform liegen auf dem Tisch. Stehen Sie einer Idee näher?

Jean-Claude Juncker: Es gibt nicht nur zwei Entwürfe, es gibt viele Vorschläge. Es ist nicht so, dass sich Deutsche und Franzosen ausmachen können, wie der Zug weiter fährt. Jospin plädiert für ein soziales Europa, für die gemeinsame Verbrechensbekämpfung, inklusive der Idee eines europäischen FBI und eines europäischen Staatsanwaltes. Im französischen Vorschlag gibt es mehr inhaltliche Positionen als im SPD-Leitantrag.

Sollte der Ministerrat zu einer Länderkammer werden?

Jean-Claude Juncker: Es ist viel zu früh, über institutionelle Fragen zu reden. Wir müssen zuerst die Frage beantworten, was wollen wir in Europa? Und wer soll was tun? In Europa gibt es viele, die der handwerklichen Maßarbeit nicht mehr fähig sind, deswegen flüchten sie in das weite Feld der Zukunftsspekulationen. Es wird nie ein Europa geben, das nach dem deutschen föderalen System zugeschnitten ist. Europa wird nicht deutsch oder französisch sein, es wird eine Mischung zwischen beiden sein, angereichert von anderen Beiträgen.

Wie viel kosten die Beitritte?

Jean-Claude Juncker: Man kann nicht alles materiell sehen. In den Kandidatenländern leben 100 Millionen, die es nicht zu verantworten haben, dass sie am Ende des 2. Weltkrieges auf der Schattenseite des Kontinents leben mussten. Alle brauchen Europa. Wer einem Menschen in Prag oder Laibach erklären will, dass er nicht zur europäischen Familie gehört, dem wünsche ich argumentative Kraft. Wer so tut, als ob es nicht um Menschen ginge, versteht Europa nicht. Es sei denn, nationaler und individueller Egoismus werden zur Richtschnur kontinentalen Gestaltens. Dann droht die Katastrophe.

Was sind nun die Kosten?

Jean-Claude Juncker: Die Kostenfrage ist bis 2006 geregelt; danach muss man neu verhandeln. Man muss auch sehen, dass die Erweiterung neue Märkte, neue Exporte bringt.

Sie wollen eine EU-Steuer?

Jean-Claude Juncker: Meiner Meinung nach soll eine Europasteuer eingeführt werden. Nicht, um mehr Geld in den EU-Haushalt fließen zu lassen - wie die FPÖ, von Sach- und Fachkenntnis meilenweit entfernt, mir unterstellt -, sondern um das Geld für jeden nachvollziehbarer und verantwortbarer in Europa anzuwenden. Es geht nicht um die Einhebung zusätzlicher Steuern. Der Bürger muss wissen, was er zum EU-Budget beisteuert. Im übrigen ist Europa sehr billig. Ich würde alle bitten, die auf den Zuschauerrängen murren, auszurechnen, was eine Stunde Krieg oder Frieden kostet.

Sie sind als Nachfolger von Wim Duisenberg, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, im Gespräch. Interessiert Sie der Job in Frankfurt?

Jean-Claude Juncker: Ich kann dem Job sehr viel abgewinnen, wenn ich ihn nicht mache. Ich schließe es aus, dass ich diesen Job mache.

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