Jean-Claude Juncker: Europa eine soziale Dimension geben

Der Euro kommt bald als Bargeld in die Taschen der Europäer. Die nationalen Währungen verschwinden. Wie viele verschiedene Währungen haben Sie derzeit im Portemonnaie?

Jean-Claude Juncker: (nimmt seine Brieftasche zur Hand) ... 50 französische, 3000 belgische und 200 luxemburgische Francs - woraus ersichtlich wird, dass man in Luxemburg der physischen Einführung des Euros gelassen entgegensieht, weil wir bereits mit mehreren Währungen arbeiten. Der Euro ist nur eine neue nationale Währung und somit einfacher als das System, das wir derzeit praktizieren. Scherzhaft gesagt ist der Euro eine schreckliche Vereinfachung.

Luxemburg begegnet dem Euro mit seltener Einmütigkeit. In anderen Ländern ist das nicht so, es gibt viel Skepsis. Woran liegt das, und wie kann man dem begegnen?

Jean-Claude Juncker: Auch in Luxemburg gibt es noch große Bedenken. Vielen kommt der Euro etwas spanisch vor - und das in allen Altersklassen. Die Menschen interessieren sich nicht für die Stabilität des Euro; das ist eine urdeutsche Sorge. Die Leute fragen sich, wie sie mit dem Euro in der Praxis zurechtkommen. Man muss in Luxemburg grob durch 40 teilen.

Sie sagen, die Stabilität der Währung sei eine urdeutsche Sorge. Teilen Sie denn die Bedenken, dass der Euro nicht so stark wie die Mark werden könnte?

Jean-Claude Juncker: Man muss dafür Verständnis haben, denn die Deutschen haben zweimal in einem Jahrhundert total machtlos der Entwertung des gesamten Volksvermögens zuschauen müssen. Hinzu kommt, dass sich die deutsche Mark nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem identitätsstiftenden Faktor entwickelt hat. Die Währung ist ein nationales deutsches Symbol, wo andere nur eine Fahne haben. Man darf sich deshalb nicht lächelnd über die Bedenken hinwegsetzen. Ich habe diese Sorgen auch stets zu meinen gemacht, weil es für die kleineren Länder von existenzieller Bedeutung ist, dass sie nicht Opfer finanz- und währungspolitischer Irrungen der Flächenstaaten werden. Die Sorge, dass der Euro schwächer werden könnte als die Mark, ist keine Sorge, weil der Euro heute schon stärker ist als die deutsche Mark. Das nehmen die Deutschen mit an Systematik grenzender Beharrlichkeit nur nicht zur Kenntnis. Ich bin auch kein Verfechter davon, dass wir uns übermäßig auf den Außenwert des Euro zum Dollar fixieren sollten. Die Amerikaner sagen zu Recht: Ein Dollar ist ein Dollar. Was es sonst an währungspolitischem Geschehen in der Welt gibt, ist ihnen relativ egal. So sollten wir es auch mit dem Euro halten. Das soll kein Plädoyer für einen schwachen Euro sein, sondern für einen souveränen Umgang mit unserer neuen Währung.

Sie gelten als ein Politiker und Finanzexperte, dessen Wort Gewicht hat. Es kursieren infolgedessen Gerüchte, Sie strebten das Amt des europäischen Zentralbankchefs an.

Jean-Claude Juncker: Das sind nur Gerüchte. Die europäischen Spitzenämter, in die man mich locken möchte, sind samt und sonders Ämter, die mich nicht interessieren, weil sie meinen kurzfristigen Ambitionen nicht entsprechen. Das sind Gesänge, die ich nicht selbst komponiert habe.

Luxemburg ist wie Deutschland Nettozahler in der EU. In Anbetracht der Osterweiterung wird sich ein enormer Finanzbedarf dadurch ergeben, dass die mittel- und osteuropäischen Kandidaten relativ finanz- und wirtschaftsschwach sind. Müssen Luxemburg und Deutschland noch tiefer in die Tasche greifen?

Jean-Claude Juncker: Das würde mich nicht fundamental erschüttern. Aber ich beteilige mich seltenst an einer Debatte über Nettoempfänger und Nettozahler. Denn bei allem Missmut über finanzpolitische Irrungen in der Gemeinschaft ist die Europäische Union ein außergewöhnlich billiges Unternehmen. Keine Osterweiterung wäre ein weitaus teureres Unterfangen. Die Europäer bringen etwas weniger als 1,1 Prozent ihres Bruttosozialproduktes für die Europäische Union auf. Es gibt kein kostengünstigeres Friedensprojekt.

Eine Stunde Krieg kostet mehr als der gesamte Jahreshaushalt der EU. Deshalb bin ich für eine Europa-Steuer, damit der Bürger sehen kann, was ihn die Europäische Union wirklich kostet. Dann wären die Einnahmen des Europa-Haushaltes transparenter, und die Ausgabenseite wäre effizienter. Dies würde der dumpfen demagogischen Formel - Deutschland und Luxemburg bezahlen die EU - die Grundlage entziehen.

Das Wohlstandsniveau scheint doch im Rahmen der Osterweiterung der EU zu sinken. Das durchschnittliche Bruttosozialprodukt der Kandidaten wird pro Kopf nur 40 Prozent des jetzigen EU-Schnitts ausmachen.

Jean-Claude Juncker: Viele Staaten Mittel- und Osteuropas haben beeindruckende Fortschritte in den letzten zehn Jahren gemacht. Wenn ich diesen Reformwillen mit der Reformmüdigkeit westeuropäischer Staaten vergleiche, ist das für uns beschämend. Das Wohlstandsgefälle hat ohnehin kontinentale Auswirkungen - ob diese Staaten nun Mitglieder der EU sind oder nicht. Die Menschen, Länder und Volkswirtschaften sind ja da. Wenn wir dort zu mehr Wohlstand kommen möchten, ist eine EU-Mitgliedschaft das beste Rezept.

Glauben Sie, dass das Thema Freizügigkeit ein Beitrittshindernis werden könnte?

Jean-Claude Juncker: Nein. Die europäische Position ist da nicht immer in allen Punkten schlüssig. Ein polnischer Arbeitnehmer wird nicht so schnell seine Familie und Heimat verlassen, um im Saarland oder in Rheinland-Pfalz eine befristete Stelle anzunehmen. Da wird die Mobilität überschätzt. Die Arbeitnehmer brauchen aber Perspektiven vor Ort.

Sind diese Übergangsfristen denn eine Überreaktion der EU?

Jean-Claude Juncker: Man muss die Sorgen der Menschen ernst nehmen, aber es ist falsch, eine Politik zu inszenieren, die die Ängste verstärkt.

Ist die europäische Familie mit den mittel- und osteuropäischen Staaten komplett?

Jean-Claude Juncker: Das ist eine schwierige Frage. So ist der natürliche Platz der Schweiz in der EU. Ich sehe auch nicht ein, warum die Staaten des früheren Jugoslawien nicht dazugehören sollen. Aber diese Verhandlungen werden schwierig, noch schwieriger als die jetzigen.

Bleibt natürlich zu fragen, wie das Haus Europa einmal aussehen soll. Der Bau daran scheint derzeit zu stocken: Die Dänen lehnen den Euro ab, die Iren verweigern den Vertrag von Nizza. Wie können die Architekten darauf reagieren?

Jean-Claude Juncker: Die Architekten machen zu viele Pläne und bauen nicht genug. Das europäische Projekt wäre beliebter, wenn wir uns statt mit der europäischen Zukunftsarchitektur mit konkreter Politikgestaltung beschäftigten. Wenn wir es in Europa hinkriegen - nachdem wir mit dem Euro bewiesen haben, dass wir zu großen Leistungen fähig sind - der EU die soziale Dimension zu geben, die wir brauchen, etwa einen Mindestsockel für Arbeitnehmerrechte, dann würde Europa den Menschen viel näher erscheinen. Wir halten uns viel zu lange und zu spielerisch mit Langzeit-Entwürfen auf.

Sie haben sich als Bauherr präsentiert. Wie würden denn Ihre Vorstellungen vom Haus Europa in der Praxis aussehen?

Jean-Claude Juncker: Folgendes würde ich einrichten: einen Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten, eine europäische Polizei zur internationalen Verbrechens-Bekämpfung, gemeinsame Regeln bei Einwanderung, Visa und Asyl, Mindestsätze bei Kapitalertragsund Unternehmenssteuern und die Direktwahl von Kommissionspräsident und Kommissaren.

Was ist mit einer europäischen Regierung?

Jean-Claude Juncker: Ich kann mit dem Konzept Vereinigte Staaten von Europa nicht viel anfangen, weil wir so etwas wie die Vereinigten Staaten von Amerika nie haben werden. Hier ist nicht das Ambiente dafür. Nationen sind keine provisorische Erfindung der Geschichte, sondern langfristig angelegt. Die Menschen brauchen Nähe wie die Region und den Nationalstaat. Wir müssen die Schnittmenge ermitteln zwischen der Nation und Europa. Deutsche möchten nicht nur Europäer sein, sondern europäische Deutsche oder deutsche Europäer. Europa ist ein komplizierter Kontinent und sollte deshalb keine anderen Staatsformen kopieren.

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