Jean-Claude Juncker: Wir brauchen in der EU jetzt auch Solidarität nach innen - es reicht nicht, nur militärisch an die Problematik ranzugehen

Nach den Terroranschlägen in Washington und New York gab es für die Länder der Europäischen Union keinen Zweifel. Sie stellten sich sofort an die Seite der USA. Im NATO-Rat wurde der Bündnisfall ausgerufen. Heute nun beschäftigen sich die EU-Staats- und -Regierungschefs auf einem Sondergipfel erneut mit den Konsequenzen der Anschläge. Solidarität mit den USA und eine verbesserte Terrorismusbekämpfung sind die Stichworte. Am Telefon bin ich nun verbunden mit Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker. Guten Morgen!

Jean-Claude Juncker: Guten Morgen.

Herr Juncker, welche Ziele verfolgt die Europäische Union in der aktuellen Krise?

Jean-Claude Juncker: Wir müssen in der aktuellen Krise deutlich machen, dass wir keinen Deut von der Solidaritätsbekundung abrücken, die wir alle sofort in gleichlautenden Worten nach der Bekanntgabe der schrecklichen Ereignisse abgegeben haben. Wir müssen deutlich machen, und dies passiert auch zur Zeit schon, dass wir als Europäische Union in einem Militärschlag, der denkbar ist, nicht die einzige Antwort auf den Terrorismus sehen. Jeder weiß, dass mit einer einzigen, wenn auch gut durchgeführten Militäroperation der Herausforderung des Terrorismus nicht beizukommen ist. Unsere Antwort muss also breit sein, komplett sein, in die Tiefe wirken und über lange Zeit anhalten.

Gestern haben die EU-Innen- und -Justizminister ja einiges auf dem Feld der inneren Sicherheit und der Terrorismusbekämpfung beschlossen. Stichworte sind zum Beispiel die Aufstockung der Abteilung Terrorismus bei Euro-Pol, der europäische Haftbefehl. Das ist ja eine ganze Menge in einem Bereich, in dem die EU traditionell eher ihre Probleme hat. Reicht das denn?

Jean-Claude Juncker: Es ist aus heutiger Sicht schwer zu sagen, ob das reichen wird. Es ist jedenfalls die Grundvoraussetzung, damit wir als Europäische Union und als 15 Länder der Europäischen Union den Kampf mit dem Terrorismus aufnehmen können. Wenn jeder für sich allein in seiner nationalen Ecke und auf seiner nationalen Strecke denkt, den Terrorismus bekämpfen zu können, ihn gar besiegen zu können, dann werden wir uns auf einen gefährlichen Irrweg begeben. Wir brauchen in Fragen der inneren Sicherheit deutlich mehr Europa.

Haben Sie denn den Eindruck, dass einige Regierungen, die bis jetzt doch sehr ihre nationalen Vorbehalte bei der polizeilichen Zusammenarbeit hatten, diese nun im Zuge dieser Krise eher fallen lassen?

Jean-Claude Juncker: Es gibt einige, die tun sich schwerer mit dem, was ich "mehr Europa" genannt habe, aber jeder muss wissen: wenn wir Solidarität nach außen üben wollen, wenn wir Solidarität mit den Amerikanern üben wollen, wenn wir als internationale Völkergemeinschaft aktiv gegen den Terrorismus antreten wollen, dann brauchen wir auch Solidarität nach innen. Dann müssen wir alle Kräfte sammeln die wir brauchen, um in Europa intern die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir uns gegen den Terrorismus behaupten können.

Dass die Luxemburger als Vorzeige-Europäer dies auch wirklich tun werden, steht außer Frage, aber werden es die anderen auch tun, nicht nur bei einem Appell belassen?

Jean-Claude Juncker: Jeder muss hier nationale Bedenken, falls es sie gibt, überspringen. Dies trifft auf alle zu; dies trifft im übrigen auch auf Luxemburg zu.

Der US-Präsident George Bush hat ja in dieser Nacht in seiner Rede vor dem Kongress ultimativ noch einmal die Auslieferung Osama Bin Ladens gefordert. Die Taliban haben prompt reagiert. Sie haben gesagt, das könnten sie nicht, das verstöße gegen eine von ihnen so bezeichnete "islamische Ethik". Wie sehen Sie das? Müssen die USA, müssen die Verbündeten und damit auch Sie, die EU, nun militärisch reagieren?

Jean-Claude Juncker: Wenn sich erweist, dass die Taliban hinter diesen mörderischen Anschlägen stecken, wenn die Beweislast für jeden erkennbar auf dem Tisch liegt, dann müssen die Taliban reagieren. Tun sie das nicht, muss die internationale Völkergemeinschaft in dem Solidarkontext, den ich beschrieben habe, reagieren. Mein Wunsch ist nur, dass man nicht denkt, es gäbe nur die militärische Option. Die wird es geben müssen, falls die Dinge sich so entwickeln, aber wer nur militärisch denkt, der denkt zu kurz. Wir brauchen eine breitere, eine tiefergehende Antwort. Das muss ein Mix aus politischen Maßnahmen, aus wirtschaftspolitischen Maßnahmen werden. Jeder muss wissen, dies ist nicht das Unterfangen eines Tages. Hier startet jetzt ein Langstreckenprozess, der sich aus vielen Einzelteilen zusammensetzt.

Wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Juncker, gibt es für Sie also nicht eine Unabwendbarkeit der militärischen Reaktion? Es müssen erst handfeste Beweise auf den Tisch?

Jean-Claude Juncker: Es müssen Beweise auf den Tisch. Mein Kenntnisstand ist der, dass diese in wachsendem Maße zusammengetragen werden. Aber es reicht nicht, nur militärisch an die Problematik heranzugehen. Das muss jeder wissen; das wissen im übrigen auch die Amerikaner. Wenn es so einfach wäre, mit einem Militärschlag das Problem des internationalen Terrorismus zu beseitigen, dann wäre es nach Lage der Dinge relativ einfach. Man muss aber den Eindruck vermeiden - diesen Eindruck darf es überhaupt nicht geben -, als träten wir als NATO-Staaten und als EU, als Bündnispartner der Amerikaner jetzt in den Krieg gegen die islamische Welt. Dieser Eindruck wäre verheerend und er hätte auch verheerende Folgen.

Ist das auch der Grund, warum Luxemburg ebenso wie Belgien und die Niederlande zu dem berühmten NATO-Artikel 5, dem Bündnisfall, einen Vorbehalt angemeldet hat?

Jean-Claude Juncker: Das ist nicht der Grund. Bei dieser Formulierung, die die drei Benelux-Staaten dem Nato-Beschluss beigegeben haben, geht es in der Sache und im Kern darum, dass deutlich gemacht werden sollte, dass es zu Konsultierungen kommen muss. Der britische Premierminister, der sich ja nicht dem Verdacht aussetzen kann, er würde auf Distanz zu den Vereinigten Staaten von Amerika gehen, hat deutlich gemacht, dass Artikel 5 nicht heißt, dass es für die Amerikaner einen Blanko-Scheck gebe. Das hat nichts mit Abrücken von Solidarität zu tun, sondern mit kohärenter Ausführung des NATO-Beschlusses.

In die große Koalition, wenn man sie so nennen will, der Terrorismusgegner rund um die USA drängen ja mit Macht auch Länder wie Russland und China. Wie sehen Sie das? Droht dort nicht auch eine Gefahr, dass die USA und die Europäische Union sich Partner ins Boot holen, die ihre ganz eigenen Interessen verfolgen, zum Beispiel Stichwort Terrorismusabwehr, vor allem innenpolitische Ziele verfolgen?

Jean-Claude Juncker: Es muss deutlich gemacht werden, dass der Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht eine Sache der Amerikaner oder der Europäer, der EU oder der NATO wäre, sondern dass alle Regierungen der Welt aufgerufen sind, sich an dieser Auseinandersetzung aktiv zu beteiligen. Es ist zu begrüßen, dass sowohl Russland als auch China wie überhaupt die Mehrzahl der Mitglieder der internationalen Völkerfamilie sich diesem Ziel verschrieben haben. Terrorismus kann kein Argument zur Lösung schwierigster Fragen auf den schwierigsten Konfliktfeldern werden.

Und da ist es egal, mit wem man dort in einer Koalition steht?

Jean-Claude Juncker: Russland und China sind nicht egal wer!

Und selbst wenn diese Länder vielleicht den Kampf gegen den Terrorismus jetzt dazu benutzen, um gegen eigene Probleme in Tschetschenien oder dergleichen vorzugehen, würde Sie das nicht stören?

Jean-Claude Juncker: Das würde mich schon stören und man muss auf den von Ihnen jetzt beschriebenen Konfliktfeldern die Dinge auseinanderhalten. Es geht hier darum, dass internationale Terroristen ihre Konflikte in anderen Ländern der Erde austragen. Für die Opfer des Terrors ist es im übrigen ziemlich egal, ob es sie im eigenen Lande trifft oder ob es sie von außen her kommend trifft, aber wir brauchen jetzt die Solidarität der internationalen Völkerfamilie. Daran müssen wir aktiv arbeiten und wir müssen diese Solidarität so organisieren, dass sie nicht nach zwei oder drei Wochen in sich selbst zusammenbricht. Deshalb bin ich der Auffassung wie viele andere auch, dass wir eine breiter gestrickte Ansatzweise bei der internationalen Terrorbekämpfung brauchen. Dies wird uns ohne jeden Zweifel dazu führen, dass wir uns heute Abend zu Fragen der Nahost-Problematik einwandfrei äußern. Dies wird im übrigen - daran denkt man kaum - zur Folge haben müssen, dass wir uns auch mit dem Schicksal afghanischer Flüchtlinge beschäftigen müssen. Wir können ja nicht sehenden Auges zur Kenntnis nehmen, dass vom Hunger bedrohte Flüchtlinge in Bewegung geraten sind. Das sind auch Menschen; denen muss auch unsere Sorge gelten.

Vielen Dank! - Das war ein Gespräch mit Jean-Claude Juncker, dem Premier von Luxemburg, vor dem EU-Sondergipfel heute Abend in Washington.

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