Jean-Claude Juncker: Perspektive für mehr Europa

FOCUS: Herr Juncker, wenn Europa nicht mehr weiter weiß, kommt der nächste Arbeitskreis. Die neue Quasselbude heißt Verfassungskonvent. Was soll dabei rauskommen?

Jean-Claude Juncker: Es ist der Versuch, Stimmen einzusammeln, Befindlichkeiten abzufragen und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die nicht sofort unter dem Diktat nationaler Interessen kaputtgehen. Ich bin prinzipiell dafür, mit diesem Experiment die künftigen Strukturen in einem wachsenden Europa zu klären. Apropos quasseln: Wenn wir uns am nächsten Wochenende in Laeken nicht auf diesen Konvent einigen, wird es wieder heißen, die EU-Regierungschefs hätten nichts auf die Reihe bekommen.

FOCUS: Über die Ergebnisse haben die 15 EU-Mitgliedsstaaten das letzte Wort. Was soll ihnen der Konvent präsentieren: bloße Vorschläge oder verbindliche Entwürfe?

Jean-Claude Juncker: Er soll uns Optionen anbieten. Darunter stelle ich mir aber kein Sammelsurium höchst unterschiedlicher oder gar konträrer Konzepte vor.

FOCUS: Geht es konkreter?

Jean-Claude Juncker: Ich würde sofort befürworten, die Außen- und Sicherheitspolitik in die Hände von Europa zu legen. Solche oder ähnliche zielgerichtete Vorschläge erwarte ich.

FOCUS: Gutes Beispiel. Gerade an der mangelhaften Koordinierung der EU-Außenpolitik nach dem 11. September erkennt man doch die Machtlosigkeit der Brüsseler Polit-Elite.

Jean-Claude Juncker: Nicht alle Kritik an der EU-Kommission und ihrem Präsidenten Romano Prodi halte ich für berechtigt. Aus meiner Sicht müssen wir uns wieder mehr auf ein Brüsseler Prinzip besinnen und dies unbedingt beibehalten: Ausschließlich die Kommission darf europäische Gesetze auf den Weg bringen. Wenn sie dieses Schwert gezielt einsetzt, wird sie stark sein. Es gibt keinen Fortschritt ohne Institutionen mit Power. Die Perspektive zu mehr Europa muss erhalten bleiben.

FOCUS: Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder teilt diese Meinung offenbar nicht. Er will Agrar- und Subventionspolitik künftig wieder national organisieren.

Jean-Claude Juncker: Europa wird beschädigt, wenn wir uns andauernd auf die Suche machen, an dieser oder jener Stelle Kompetenzen wegzunehmen. Eins ist allerdings klar: Die Landwirtschaftspolitik müssen die nationalen Regierungen mitbestimmen und mitbezahlen.

FOCUS: Das wird Frankreich ebenso blockieren wie Italien im Augenblick den EU-Haftbefehl.

Jean-Claude Juncker: Sie haben ja Recht, dass das Prinzip der Einstimmnigkeit uns in vielen Bereichen lahm legt. Aber bei manchen sensiblen Fragen müssen die EU-Regierungen auch ihr Veto einlegen können. Stellen Sie sich vor, über Deutschland hinweg würde die Mehrwertsteuer europaweit auf 25 Prozent erhöht. Dann wendet sich auch der letzte deutsche Bürger noch von Brüssel ab.

FOCIJS: Um noch mehr Europa-Verdruss zu vermeiden, will Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber das Volk über die Zukunft Europas entscheiden lassen. Was halten Sie davon?

Jean-Claude Juncker: Man schaut immer ein wenig blöd aus der Wäsche, wenn man dem Volk nicht traut und nichts zutraut. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass manche EU-Länder den Wunsch nach einem Referendum erfüllen. Zurzeit erarbeiten wir in Luxemburg die rechtlichen Voraussetzungen für Volksbefragungen. Ich halte es mit dem Satz: Das Volk versteht nicht alles, aber fühlt das meiste richtig.

FOCUS: Gilt das auch für die umstrittene EU-Osterweiterung? Werden es die Menschen verstehen, wenn schon 2004 zehn weitere Staaten auf einmal an die Brüsseler Fleischtöpfe drängen?

Jean-Claude Juncker: Wir müssen uns davor hüten, falsche Signale zu setzen. Nur diejenigen Länder, die nach unseren Kriterien beitrittsfähig sind, dürfen auch in den Brüsseler Club. Da bleibt kein Raum für Rabatte und politische Schönfärberei.

FOCUS: Politischer Sprengstoff liegt in der Frage, ob die Türkei über einen Beobachterstatus im Verfassungskonvent noch näher an die Europäische Union rückt.

Jean-Claude Juncker: Ich befürworte dieses Vorhaben trotzdem. Die Türkei ist EU-Kandidat. Wir können nicht so tun, als hätte sie diesen Status nicht.

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