Jean-Claude Juncker: Der weite Weg in die Zukunft

VON JEAN-CLAUDE JUNCKER

Im Frühjahr 1941 schrieb Leon Blum, der 1936 erster sozialistischer Regierungschef Frankreichs war, in einer feuchten Kerkerzelle des Vichy-Regimes: "Entweder entstehen nach diesem Krieg starke europäische Institutionen, oder dieser Krieg wird nicht der letzte gewesen sein."

"Mit der tiefsten und unerschütterlichsten Überzeugung" sprach der Sohn elsässischer Juden noch vor dem Abtransport in ein deutsches Konzentrationslager aus, was eine ganze Kriegsopfergeneration dachte. Altiero Spinelli, unter dessen Ägide später im Europäischen Parlament ein Vertragsentwurf mit Verfassungsanspruch für die EU ausgearbeitet wurde, notierte zeitgleich mit Blum auf seiner italienischen Gefängnisinsel Ventotene: "Die Nation hat aufgehört, die ideale Organisationsform der Völkergemeinschaft zu sein."

Die Idee, das Gegeneinander der Nationalstaaten durch supranationales Denken und Lenken unschädlich zu machen, hatte lange schon vor dem nationalsozialistischen Terror Protagonisten der verschiedensten Provenienz begeistert. Der französische Romancier Victor Hugo, der luxemburgische Stahlbaron Emile Mayrisch, der Begründer der Paneuropa-Bewegung Richard Graf Coudenhove-Kalergi, der Pariser Außenminister Aristide Briand und sein deutscher Kollege Gustav Stresemann oder die spätere Alterspräsidentin des ersten direkt gewählten Europäischen Parlaments, Louise Weiss – sie alle hatten den Traum vom einigen Europa geträumt.

Historiker haben errechnet, dass vor 1940 bis zu 200 Skizzen, Pläne und Entwürfe zur europäischen Einigung vorgelegt wurden. Hätte man einige davon in die Tat umgesetzt, beispielsweise die von Coudenhove-Kalergi schon 1923 vorgeschlagene Zusammenlegung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlindustrien – dem Kontinent wäre der schlimmste seiner zahlreichen Kriege erspart geblieben.

Selbst mitten im Zweiten Weltkrieg und trotz seines unsicheren Ausgangs entwarfen vor allem Exilpolitiker und vertriebene Intellektuelle aus Osteuropa kühne Pläne für einen friedlich vereinten Kontinent. Dies mag für uns überraschend sein, die wir die Integration nur aus dem verengten westeuropäischen Blickwinkel sehen. Die im Krieg entstandenen mittel- und osteuropäischen Bauversuche zeigen aber, dass die demnächst zur Europäischen Union stoßenden Beitrittsländer von Anfang an gestaltende Akteure des europäischen Zusammenschlusses sein wollten.

Bereits am 11. November 1940 in London verkündeten der später unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommene Chef der polnischen Exilregierung, General Wladyslaw Sikorski, und der Präsident der provisorischen tschechoslowakischen Exilregierung, Edvard Benes, zwischen beiden Ländern "eine engere politische und wirtschaftliche Assoziation" bilden zu wollen, zu der sie "andere Länder des europäischen Kontinents" einluden.

Beide Regierungen schlossen am 23. Januar 1942 einen Vertrag zur Bildung einer polnisch-tschechoslowakischen Konföderation, genau wie die jugoslawische und die griechische Exilregierung wenige Tage zuvor. Im selben Jahr noch versammelte Sikorski die polnischen, tschechoslowakischen, norwegischen, belgischen, niederländischen, luxemburgischen, griechischen und jugoslawischen Exilregierungen und das von Charles de Gaulle geleitete Komitee des "Freien Frankreichs", um über die Organisation einer "Europäischen Gemeinschaft" nachzudenken.

Der Außenminister des vorfaschistischen Italiens, Graf Carlo Sforza, verfolgte ähnliche Pläne. Er wollte Polen und Serbien zu den Hauptanimateuren einer mitteleuropäischen Föderation machen, die eng mit einer sich um einen französisch-italienischen Kern bildenden lateinischen Föderation zusammenarbeiten sollte.

Dass daraus nach dem Krieg nichts wurde, lag hauptsächlich am Sowjetdiktator Josef Stalin. Ein Schulterschluss zwischen Ost- und Mitteleuropa passte nicht in dessen Vorstellungen: Ihm war die antisowjetische Grundstimmung dort nicht entgangen, und er wollte sich die Option einer direkten Kontrolle der Sowjetunion über die angrenzenden Staaten offen halten. Deswegen hinderte Stalin nach dem Krieg diese Länder daran, die angebotenen Marshallplan-Gelder der USA anzunehmen. Die Hilfe von 12,4 Milliarden Dollar kam allein Westeuropa zu Gute – die Neinsager schrieben ihre Armut fest.

Stalins "Njet" zur politischen Integration Europas und zur US-Hilfe hat die Nachkriegsteilung des Kontinents betoniert und ist daran schuld, dass es nicht schon 1950 zur Einigung ganz Europas kam. Erst jetzt können diese Länder der EU beitreten. 50 verlorene Jahre!

Doch auch die Pläne der Westeuropäer aus der Exilzeit ließen sich nach 1945 zunächst nicht voll verwirklichen. Belgiens Exil-Außenminister Paul-Henri Spaak plädierte etwa Anfang der vierziger Jahre für eine politische, militärische und wirtschaftliche Assoziierung Belgiens, Luxemburgs' der Niederlande und Frankreichs, der Belgier Paul van Zeeland für eine westeuropäische Zoll- und Währungsunion.

Sogar de Gaulle, der als französischer Staatspräsident später wegen seiner nationalen Alleingänge gefürchtet war, liebäugelte 1943 von seinem Exilsitz Algier aus mit der Idee einer "Föderation des westlichen Europas" aus Frankreich und den Beneluxstaaten; er fasste sogar eine "mögliche Ausbreitung nach Südeuropa und mögliche Erweiterung um das rheinischwestfälische Industriegebiet und Großbritannien" ins Auge. De Gaulle im Exil war England-freundlicher als der spätere Hausherr im Pariser Elysee-Palast, der den Briten zwischen 1961 und 1967 die europäische Tür gleich zweimal verbot.

Von den vielen Europaplänen im Exil wurde nur einer schon bald konkret: Die Belgisch-Niederländisch-Luxemburgische Zollunion nahm im September 1944 verbindliche Vertragsformen an. Die Benelux-Vereinigung hat die spätere Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die heutige Europäische Union vorgeformt.

Neben dem ungleichen deutsch-französischen Liebespaar – daher der manchmal große Streit und die immer wieder ebenso große Zuneigung – verstehen sich diese drei bis heute als Schrittmacher der europäischen Formation. Wer so früh Recht gehabt hat und so erfolgreich das Richtige gemacht hat wie die drei Beneluxstaaten, der kann sich wohl auf seine historische Integrationsleistung berufen und ein europäisches Know-how beanspruchen, das dem der großen EU-Staaten ebenbürtig ist.

Der britische Politiker Winston Churchill hatte schon in seiner epocheprägenden Zürcher Rede, in der er 1946 "etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa" gefordert hatte, darauf hingewiesen, dass dabei großen und kleinen Staaten gleiche Rechte eingeräumt werden müssten, wenn die Union Erfolg haben sollte.

Daran haben sich die Beneluxer bis heute gehalten: Den Verhandlungstisch in Nizza verließen sie im Dezember 2000 erst, als den 26,4 Millionen Niederländern, Belgiern und Luxemburgern zusammen die gleiche Stimmenzahl im Rat zugestanden worden war wie den 82 Millionen Deutschen oder den 6o Millionen Franzosen. Die Zukunftsgeschichte Europas lässt sich von seiner Entstehungsgeschichte nicht trennen.

Doch ein paar Avantgardisten der Einigung allein garantieren nicht das Gelingen, nötig ist die grundsätzliche Zustimmung der Bevölkerung und der organisierten Zivilgesellschaft – Gewerkschaften, Parteien, Arbeitgeberverbände, Kulturschaffenden, veröffentlichten öffentlichen Meinung. Politische Weichenstellungen müssen dem Orientierungssinn der Völker entsprechen. Die Menschen haben Angst vor politischen Geisterzügen, die auf sie zurasen. Sie besteigen nur Züge, deren Fahrtrichtung ihrem Reiseziel entspricht.

Als Deutschland am 8. Mai 1945 kapitulierte, lag Europa am Boden. Die Männer, die von den noch rauchenden Schlachtfeldern in ihre zerstörten Städte und Dörfer zurückkehrten, hatten Unsägliches durchlitten. Diejenigen, die zu Hause geblieben waren – Frauen, Kinder, Eltern – auch. Die Toten der Konzentrationslager klagten an, die Überlebenden mahnten.

Das Volk, so wusste schon 1931 der Schriftsteller Kurt Tucholsky apodiktisch zu diagnostizieren, "versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig". Der erste Halbsatz unterschätzt das Volk, die Richtigkeit des zweiten konnte man nach Kriegsende feststellen. Mit dem Verstand allein war das Geschehene, seine Irrungen und Wirrungen und das massive Fehlverhalten der politischen Entscheidungsträger, nicht zu erfassen.

Aber instinktiv haben die Menschen gefühlt, dass das Schreckliche sich jederzeit wiederholen könnte – es sei denn, es gelänge, den übersteigerten Nationalismus und den hemmungslos agierenden, nur sich selbst verpflichteten Nationalstaat zu überwinden.

"Nie wieder Krieg": Dieser Satz wurde für Millionen zum Gebet, für den Kontinent zur Hoffnung und für – im wahrsten Sinne des Wortes – begnadete Politiker zum Programm. Diese hatten allerdings erkannt, dass sie den nationalistischen Staat nicht einfach abschaffen konnten, ohne den Menschen eine andere, neue Idee zu präsentieren.

Vom 7. bis zum 10. Mai 1948 trafen sich in Den Haag rund 800 Parlamentarier, Gewerkschafter, Industrielle und Intellektuelle aus 27 Ländern, um über ein neues Europa zu debattieren. Churchill, auf dem Höhepunkt seiner moralischen Autorität angekommen, hielt die Eröffnungsrede. Staatsmänner wie Anthony Eden, Paul van Zeeland, Paul Ramadier, Konrad Adenauer, Harold Macmillan, Karl Arnold und François Mitterrand hörten ihm zu. Sie verständigten sich schnell auf die grundsätzlichen Maximen: "Nie wieder Krieg", "Europa ist bedroht, weil es geteilt ist", "Kein Staat kann sich allein verteidigen und wirtschaften", "Für Freiheit in ganz Europa und in der ganzen Welt", "Zusammen gegen Krieg und Armut".

Etwas weniger schnell kam das Handbuch zur praktischen Umsetzung der gesammelten Erkenntnisse zu Stande. Doch das Programm hatte es in sich: Europa muss Deutschland offen stehen, bestimmte Souveränitätsrechte der einzelnen Staaten müssen zusammengelegt, die Währungspolitiken koordiniert, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer garantiert werden. Eine von den nationalen Parlamenten gewählte Europäische Versammlung soll die grenzüberschreitende Demokratie festigen, eine europäische Menschenrechtserklärung vor einem europäischen Gerichtshof einklagbar werden.

Dieses Haager Aktionsprogramm enthielt den Stoff, aus dem die EWG, die EG und die EU gemacht wurden. Ein Jahr später – am 5. Mai 1949 – bildeten zehn Staaten eine erste europäische Institution, die zwar wenig politische Macht, aber eine hohe moralische Autorität gewann: Großbritannien, Frankreich, Irland, Italien, Norwegen, Schweden, Dänemark und die drei Beneluxstaaten gründeten den Europarat. Deutschland wurde ein Jahr später Vollmitglied, Österreich 1956. Zypern, die Schweiz und Malta wurden es in der ersten Hälfte der sechziger Jahre. Die nachdiktatorialen Südstaaten Portugal und Spanien wurden 1976 und 1977 in den Club der Demokraten aufgenommen.

Heute zählt der Europarat 43 Mitglieder, demnächst gehört auch Bosnien dazu. So erfüllt sich die damals fast illusionäre Hoffnung des Haager Kongresses von 1948: "~Wir fangen im Westen an und hören im Osten auf."

Die Europäische Menschenrechtskonvention, die am 4. November 1950 in Rom unterschrieben wurde, ist die bleibende Zivilisationsleistung des Europarats. Feierliche Deklarationen zur Menschenwürde und zu den Grundfreiheiten gibt es in allen Sprachen der Welt – und fast überall kann ungestraft gegen sie verstoßen werden. In Straßburg ist das nicht so: Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof kann Urteile und Sanktionen gegen Mitgliedstaaten verhängen, die sich nicht an die garantierten Grundsätze halten.

Allein im Jahre 2001 wurden über 310000 Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen in Straßburg eingereicht.

Kein Mitgliedsland, keine Regierung und kein Parlament können die Rechtsprechung der Straßburger Richter ignorieren. Allein im Jahre 2001 haben sie in 800 Fällen Urteile erlassen. Der Europarat hat sich um die Menschenrechte in Europa verdient gemacht.

Genau zu dem Zweck war er gegründet worden.

Aber der Europarat hat nicht alle Ziele erreicht, die seine Haager Initiatoren ihm mit auf den Weg gegeben hatten. Der 1950 unter dem ersten Präsidenten der parlamentarischen Vollversammlung, Paul-Henri Spaak, gestartete Versuch, dem Europarat legislative und exekutive Befugnisse einzuräumen, blieb in seinen Anfängen stecken. Den Föderalisten schien der Europarat zu sehr von den einzelnen Regierungen bestimmt zu sein, die Verteidiger der nationalen Souveränität dagegen glaubten, er bereite den Weg zu einer europäischen Föderation. An diesem Widerstreit, der bis heute die Debatte um die Verfassung der EU beherrscht, scheiterten auch alle Pläne, den Europarat mit weiter gehenden Vollmachten auszustatten.

Ins Zentrum der Einigungsversuche rückte dagegen ab 1950 die Wirtschaft. Dort konnten am ehesten die Empfindlichkeiten nationaler Politik ausgeklammert werden, mit scheinbar unpolitischen Argumenten ökonomischer Rationalität. Dies war der Königsweg, auf dem die Vereinigung fortan unauffällig, aber stetig, bis heute voranschritt.

Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) wurde zum bahnbrechenden Erfolg, weil ihre Väter zu der richtigen Methode im Umgang mit den inneren Bedingungen in Europa fanden, besonders mit den gegensätzlichen nationalen Interessen im Kohle- und Stahlbereich. Anfang der fünfziger Jahre war die Kohle mit einem Marktanteil von 70 Prozent die Hauptenergiequelle Europas. Die förderstärksten Kohlengruben lagen im Ruhrgebiet und arbeiteten unter der Aufsicht der Internationalen Ruhrbehörde. Die französische Stahlindustrie brauchte dringend Kohlennachschub aus Deutschland. Frankreich war erpressbar: Erhebliche Preissteigerungen bei der deutschen Importkohle wären das Ende der französischen Stahlwerke gewesen. Hinzu kam, dass Frankreich auf eine Überproduktion beim Stahl zusteuerte.

Das französische Wirtschaftsinteresse war klar – billige deutsche Kohle importieren, französischen Stahl zu geregelten Preisen exportieren. Das deutsche Nationalinteresse war auch klar: Obwohl Mitglied der Internationalen Ruhrbehörde, wollte Adenauer wieder Herr im Ruhrpott sein. Es bot sich also an, die deutsche und die französische Kohle- und Stahlindustrie aus ihren unterschiedlich gelagerten Zwängen zu befreien und zusammenzulegen.

Um eine Wiederauflage der folgenschweren deutsch-französischen Rivalität zu vermeiden, schlug der in Luxemburg geborene, aus Lothringen stammende französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 die Bildung einer Hohen Behörde für Kohle und Stahl vor, die als supranationale Instanz in größtmöglicher Unabhängigkeit den Markt für Kohle und Stahl organisieren und regulieren sollte. Adenauer akzeptierte den Plan, die B3eneluxstaaten und Italien auch.

Schuman und Adenauer haften mit einem Handgriff gleich mehrere Minen auf dem Feld des Nachkriegseuropas entschärft: Die beiden klassischen Kriegsmaterialien Kohle und Stahl waren dem Zugriff der Nationalstaaten entzogen. Und erstmals begann in einem europäischen Wirtschaftssektor der Abbau von Zöllen, Grenzen und Wettbewerbsverzerrungen.

Die supranationale Lösung in der Montanunion 1951 stärkte alle Partner. Frankreich gewann wirtschaftlich wieder einen Spielraum, Deutschland kehrte als gleichberechtigter Partner in die europäische Staatengemeinschaft zurück, die Beneluxstaaten befreiten sich von dem Trauma deutsch-französischer Rivalität, unter deren militärischer Entladung sie stets als Erste gelitten haften.

Als die sechs Montanunionstaaten unter dem Eindruck der sich abzeichnenden Kohlekrise 1957 die Europäische Atomgemeinschaft gründeten, um mittels einer eigenständigen europäischen Kernenergie der Abhängigkeit von Erdölimporten zu entfliehen, kam dieser Schritt den Europäern schon wie ein Stück Normalität vor.

Die Methode, auseinander driftende Wirtschafts- und damit Politikinteressen der Nationalstaaten auf europäisch-supranationaler Ebene sektoral zusammenzuführen, hat bis zum heutigen Tage Bestand. Der EGKS-Prozess und der Euro-Prozess sind nämlich mehr als nur artverwandt. Die "Waffen", mit denen sich die europäischen Staaten in den vergangenen drei Jahrzehnten wirtschaftlich "bekämpften", waren nicht mehr wie früher Kohle und Stahl, sondern die nationalen Währungen.

Wie die EGKS hat auch die Währungsunion von günstigen inneren und äußeren Bedingungen und Umständen profitiert. Der 1985 in Angriff genommene europäische Binnenmarkt kam durch die insgesamt 20 Auf- und Abwertungen, die es seit 1979 im Europäischen Währungssystem gegeben hatte, in immer größere Schwierigkeiten, er drohte gar unter der Rückkehr zum Nationaiwirtschaftsegoismus zusammenzubrechen. Es gab nur einen Ausweg: die Einheitswährung.

Die Wirtschafts- und Währungsdominanz der USA, die faktische Macht der Globalisierung und das europäische Durcheinander haben den Euro forciert. Der Kollaps des Sowjetkommunmsmus und der zentral verwalteten Volkswirtschaften in Ost- und Mitteleuropa machten zudem eine neue Begründung für den europäischen Lusammenschluss nötig. Waren WEU, Nato, EWG und EG noch zum großen Teil aus Gegenwehr zum Hegemonie-Anspruch des militant-militärischen Kommunismus entstanden, so drohte dessen jähes Ende ihnen die bisherige Fermentmasse zu entziehen.

In dem sich neu ordnenden Europa wäre eine Schwächung der alten Solidaritätsbande verheerend gewesen. Der Euro, so wollten es besonders Kohl und Mitterrand, sollte die europäische Einigung unumkehrbar machen, Europa seine Attraktivität erhalten und neue Partner anziehen.

Innere Notwendigkeiten und äußerer Druck allein hätten 1991 beim Gipfeltreffen von Maastricht aber nicht gereicht, um die Gegensätze zwischen dem "Hartwährungsland" Deutschland und der "weichen" EU-Hälfte unter Frankreichs Führung auszugleichen. Wenn laufende Kameras ausgeschaltet sind, geben deutsche und französische Spitzenpolitiker zu, dass sie ohne die Handlangerdienste derer, die beide Länder besser kennen, als diese sich gegenseitig kennen können, nicht einigungsfähig gewesen waren.

Auch hier taucht eine Konstante der europäischen Nachkriegspolitik auf: Sowohl die Einigung bei Kohle und Stahl als auch jene über die Währungsunion setzten weitgehende Kompromisse zwischen Deutschland und Frankreich voraus. Diese hätten die ihnen gemeinsame Schnittmenge nie bestimmen können, wenn nicht auch andere europäische Staaten brückenschlagende Vorschläge beigesteuert hätten.

Parallelen zwischen EGKS und europäischer Wirtschaftsund Währungsunion gibt es mehrere. Sie verbindet nicht nur das durch inneren und äußeren Druck erzwungene Einigungserfordernis. Beiden Prozessen gemeinsam war auch der Aufprallschock zwischen den Anhängern der Gemeinschaftsmethode und den Advokaten des Intergouvernementalen.

Großbritannien ist der EGKS ferngeblieben, weil es seine nationalen Kohleund Stahlinteressen nicht supranational vermengen und vergemeinschaften wollte. London und andere haben sich 1991 gegen die Währungsunion entschieden, weil sie die Gestaltungsinstrumente der Gegenwart nicht in europäische Hände geben wollen. Sie entdecken heute, dass diese Mittel in einer europäischen Bank besser autgehoben wären, weil sie nur so in einer globalisierten Wirtschaft wirksam angewandt werden können.

Aber auch diejenigen, die ihre Währungsschlüssel in Frankfurt abgegeben haben und ihre Wirtschaftspolitik in Brüssel koordinieren (sollen), entdecken, dass die nationale Okonomie an ihre Landesgrenzen gestoßen ist. Die Euro-Länder können nicht mehr jedes nach seiner Fasson glücklich werden. Was der Nachbar macht, betrifft auch den eigenen Staat.

Der Weg von der EGKS zum Euro verlief nicht schnurgerade. Die, die ihn gingen, gingen ihn zwar aufrecht. Aber unterwegs wurden sie manchmal fast umgefegt. Und zwar immer dann, wenn die inneren Zwänge zu schwach und der äußere Druck ungenügend waren.

Besser: Wenn man dachte, sie würden bald wieder verschwinden.

Die Europäische Verteidigungsgememnschaft (EVG) wurde von jenen mit Nachdruck betrieben, die aus dem sowjetischen Machtanspruch, dem Koreakrieg und dem Aufstand in Ost-Berlin die europäischen Folgen ziehen wollten. Gescheitert ist die EVG am Nein der französischen Nationalversammlung, in der eine knappe Mehrheit der Abgeordneten 1954 dem verführerischen Appeasement-Gesang der Stalin-Nachfolger mehr glaubte als den amerikanischen "Falken". Ihr Nein hat die europäische Einigung dennoch vorangetrieben.

Denn es veranlasste die drei Beneluxregierungen zu einem gememnsamen Memorandum zur Integration der europäischen Wirtschaftsräume. Der Vorstoß führte zu dem Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, der am 25. März 1957 in Rom unterzeichnet wurde.

Es war eine besondere Generation von Politikern, die diese Unterschrift leisteten, wie schon sechs Jahre vorher bei dem EGKS-Vertrag: Männer, deren Lebensbahnen vom Zweiten Weltkrieg durchschnitten worden waren. Der 1881 im österreichisch-ungarischen Kaiserreich geborene italienische Ministerpräsident Alcide de Gasperi begann 1911 seine Karriere im Wiener Parlament und setzte sie 1921 als italienischer Abgeordneter fort. Die Mussolini-Faschisten verurteilten ihn zu vier Jahren Gefängnis und verbannten ihn aus dem öffentlichen Leben.

Der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer wurde 1933 von den Nazis als erster Magistrat der Stadt, in der er 1876 geboren worden war, abgesetzt. 1944 verhaftet, wurde er 1945 erneut zum Oberbürgermeister bestellt, um sofort wieder von den Besatzungsmächten entlassen zu werden.

Beide – Adenauer und de Gasperi – gehörten zu den Gründungsvätern der christdemokratischen Parteien in ihren Ländern und haben sie und alle anderen europäischen christlichen Volksparteien zu Europa-Anhängern gemacht.

Der Luxemburger Joseph Bech hatte erlebt, wie sein kleines Land unter den Nazi-Stiefeln erzitterte, wie die Unabhängigkeit des Großherzogtums zerstört wurde und wie isoliert – weil allianzenlos – neutrale Länder in der Not sind. In seinem Londoner Regierungsexil wurde er zum Fürsprecher der Supranationalität. Als Außenminister hatte er schon in den zwanziger Jahren die Ohnmacht des intergouvernemental operierenden Völkerbundes erlebt.

Robert Schuman, der dem Montanunionspian seinen Namen gab, wuchs in Luxemburg als Sohn eines lothringischen Vaters und einer luxemburgischen Mutter auf, diente im Ersten Weltkrieg als deutscher Ersatzreservist, wurde Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung, trat 1940 aus der Vichy-Regierung aus, wurde von der Gestapo verhaftet und schloss sich nach seiner Flucht dem französischen Widerstand an. Er hat die von Jean Monnet vorgedachte Montanunion zur politischen Reife geführt und wurde der erste Präsident des Europaparlaments. Mehr als jeder andere hat er sich für die deutsch-französische Aussöhnung eingesetzt.

Der Belgier Paul-Henri Spaak hatte sich im Ersten Weltkrieg freiwillig zur belgischen Armee gemeldet, obwohl er noch nicht wehrpflichtig war. Die zwei Jahre deutscher Kriegsgefangenschaft, die er als 17-Jähriger antreten musste, machten ihn 1940 zu einem beredten Verteidiger der belgischen Neutralität. Wie Bech musste er jedoch einsehen, dass die Neutralität kleinen Staaten keinen Schutzraum bietet, und wie Bech wurde er ein talentierter und engagierter Anwalt der Gemeinschaftsmethode. Sicher: EGKS und EWG sind die intelligenten Konsequenzen aus den inneren und äußeren Zwängen des Europas der fünfziger Jahre. Aber die Männer, die diese Konsequenzen zogen und sie schließlich durchsetzten, waren durch Narben in ihrer Biografle gekennzeichnet, die sie ihren Kindern ersparen wollten.

Die Hauptfrage "Krieg oder Frieden", die unserem komplizierten Kontinent so sehr zugesetzt hatte, war für sie keine rhetorische Floskel, sondern Teil ihrer individuellen Lebenserfahrung. Nicht ein Einziger der heutigen Staats- und Regierungschiets der EcU, im Gegensatz zu der Kohl-Mitterrand-Generation, kann auf eine ähnlich dramatische Biografie verweisen wie Schuman, Bech, de Gasperi, Adenauer und deren Weggenossen.

Vielleicht sind wir deshalb zu manchmal unbegnadeten Pragmatikern geworden statt wie unsere Vorgänger zu radikalen Bekennern, die ganze Völker zu überzeugen wussten.

Der Vertrag, der zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft führte, war eine ausgewogene Mischung, die essenzielle Segmente der europäischen Wirtschaft vergemeinschaftete und den Rest der nationalen Hoheitsrechte im engen Kanal des Intergouvernementalen beließ.

Wir haben erlebt, wie das Vergemeinschaftete florierte und wie das Intergouvernementale in seiner engen Röhre unter Platznot litt. Über die Einheitliche Europäische Akte 1986, den Maastrichter Vertrag von 1992 bis zum Vertrag von Amsterdam 1997 wuchsen die Entscheidungsbefugnisse und Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments in einem Maße, dass der Nationalstaat nur noch in wenigen Revieren exklusives Jagdrecht besitzt. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nimmt – wenn auch viel zu langsam – Form an.

Der Weg Europas in die Zukunft ist noch weit – aber doch ohne grundsätzliche Gefährdungen. So können wir heute in einem Konvent und in einer späteren Regierungskonferenz 2004 europäische und nationale Kompetenzen klären und neu zuordnen, ohne unser in der ganzen Welt bestauntes Projekt zu gefährden.

Wir werden wieder und wieder über dieses Projekt streiten, aber es gibt kein besseres. Europa bleibt eine Konstruktion sui generis, eine – auch wenn sie nicht immer klar zu erkennen ist – Balance zwischen Gemeinschaft und Nationalstaat. Der Nationalstaat wird sich wehren, ja manchmal wehren müssen. Denn die Nationen, deren Nähe die Menschen brauchen, sind keine vorübergehende Erscheinung der Geschichte. Aber sie dürfen nie mehr Geschichte auf Kosten Europas machen.

Um das zu verhindern – Churchill hatte 1946 in Zürich gesagt: die Gefahren für den Frieden bleiben -, müssen diejenigen, die im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts regieren, die europäischen Angelegenheiten mit großem "E" schreiben. Sie konnten nicht aus eigener Erfahrung klug werden. Die Geschichte hat ihnen das Gott sei Dank erspart. Aber sie sind aus der Erfahrung ihrer Väter und Mütter klug geworden.

Ihre Kinder und Kindeskinder müssen die Klugheit ihrer Ur-großeltern und Großeltern im Tun und Lassen ihrer Eltern wirksam werden sehen. Damit sie klug bleiben.

Europa ohne Grenzen
Die Integration nach dem Zweiten Weltkrieg

1948 Zollunion zwischen Belgien, Luxemburg und den Niederlanden
1949 Gründung des Europa rats
1950 Der französische Außenminister Robert Schuman stellt den von Jean Monnet erarbeiteten Plan für eine Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion von Frankreich und der BundesreDublik vor
1951 Unterzeichnung des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS bzw. Montanunion)
1955 Die Konferenz von Messina beschließt die Ausdehnung der wirtschaftlichen Integration auf allen Sektoren und eine gemeinsame Atomenergiepolitik
1957 Unterzeichnung der Römischen Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG bzw. Euratom)
1960 Gründung der Europäischen Freihandelszone Efta
1965 Krise der Gemeinschaft wegen der Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik, Frankreich praktiziert im Ministerrat die "Politik des leeren Stuhls"
1966 Luxemburger Kompromiss mit Frankreich: bei vitalen Interessen eines Mitgliedstaates ist Einstimmigkeit erforderlich
1973 Erweiterung der Gemeinschaft um Großbritannien, Dänemark und Irland
1979 Das Europäische Währungssystem (EWS), das auf eine deutschfranzösische Initiative zurückgeht, tritt in Kraft. Die europäische Währungseinheit heißt Ecu. Erste Direktwahlen zum Europäischen Parlament
1981 Süderweiterung: Beitritt Griechenlands als zehntes Mitglied
1985 Schengener Abkommen über den Abbau der Personenkontrollen an den Binnengrenzen
1986 Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte (erste umfassende Refoirm). Zweite Süderweiterung: Spanien und Portugal treten bei
1988 Cecchini-Bericht über die Vorteile des Gemeinsamen Binnenmarktes
1992 Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags: Gründung der Europäischen Union mit dem Ziel weiterer politischer, sozialer und wirtschaftlicher Integration 1995 Finnland, Österreich und Schweden treten der Gemeinschaft bei
1996 Zollunion zwischen EU und Türkei
1997 Unterzeichnung des Vertrags von Amsterdam: Er bringt Reformen, die erwartete Straffung der Institutionen bleibt jedoch aus
1999 Der Euro wird gemeinsame Währung
2001 Mit dem Vertrag von Nizza wird die vierte große Vertragsrevision beschlossen
2002 Münzen und Scheine des Euro lösen in 12 Staaten die nationalen Währungen ab

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