Der luxemburgische Ministerpräsident zur Macht der EU-Kommission und den Grenzen der nationalen Haushaltspolitiken: Betriebsblinde Finanzminister

Handelsblatt: Herr Premierminister, zwischen der EU-Kommission und den großen EUMitgliedstaaten ist ein Machtkampf entbrannt. Brüssel will die Außenpolitik bestimmen, die großen EU-Staaten wehren sich dagegen. Wer hat denn jetzt Recht?

Jean-Claude Juncker: Die Außenpolitik kann auf Dauer keine nationalstaatliche Angelegenheit bleiben. Die Bürger erwarten doch von uns, dass Europa auf der Weltbühne geeint und stark auftritt. Die EU-Kommission wird die Außenpolitik irgendwann unweigerlich übernehmen, auch wenn sich Großbritannien, Frankreich und Spanien noch so sehr wehren.

Handelsblatt: Deutschland ist auch nicht besonders angetan, wenn wir hören, dass Kommissionschef Prodi künftig den Vizepräsidenten seiner Behörde zum Außenpolitiker machen will.

Jean-Claude Juncker: ... der Vorschlag ist dennoch vernünftig, wird sich allerdings erst langfristig umsetzen lassen. Bei der im Jahr 2004 anstehenden Reform der EU-Institutionen wird es dazu noch nicht kommen. Wir werden aber erste Schritte in Richtung einer gemeinsamen EU-Außenpolitik machen.

Handelsblatt: Wieso sind Sie da so sicher? Großbritannien will der Kommission die Außenpolitik ganz wegnehmen und einem neu zu wählenden Europapräsidenten übertragen.

Jean-Claude Juncker: Davon halte ich gar nichts. Wir haben in Europa schon einen Präsidenten, und zwar Romano Prodi. Es macht keinen Sinn, wenn die EU-Regierungen daneben einen zweiten Präsidenten wählen, der die Union nach außen vertreten soll.

Handelsblatt: Prodi macht noch ein zweites Fass auf. Er will nicht nur die Außen-, sondern auch die Finanzminister entmachten. Die Kommission soll es sein, die Euro-Land wirtschaftspolitisch führt. Lässt sich Finanzminister Juncker das gefallen?

Jean-Claude Juncker: Auf keinen Fall. Ich lehne die Vorschläge der Kommission zur Wirtschaftspolitik glatt ab. Die Kommission plant, dass wir Finanzminister ihre wirtschaftspolitischen Vorschläge nur noch einstimmig ablehnen können. Mit diesem Vorstoß hat die EU-Kommission ihr eigenes Ansehen beschädigt. Die Idee halte ich für einen Treppenwitz der Geschichte.

Handelsblatt: Über den Sie offensichtlich nicht lachen können. Wieso die Empörung?

Jean-Claude Juncker: Die EU-Kommission hat die Finanzminister mit diesem Vorschlag total gegen sich aufgebracht. Sie will im Handstreich die Konjunktur-, Steuer- und Haushaltspolitik in der ganzen Euro-Zone an sich reißen. Die Kommission bildet sich wohl ein, dass sie von ihrem Brüsseler Leuchtturm aus in jeden Winkel der Gemeinschaft hineinschauen kann. Ein solcher Allmachtsanspruch ist dreist und ordnungspolitisch völlig inakzeptabel.

Handelsblatt: Wenn die EU-Kommission Euro-Land wirtschaftspolitisch nichtfführt, wer soll es dann tun?

Jean-Claude Juncker: Die Gruppe der zwölf Euro-Finanzminister sollte einen permanenten Vorsitzenden bekommen.

Handelsblatt: Sie wollen also Schluss machen mit der halbjährlichen Rotation des Vorsitzes der Euro-Gruppe?

Jean-Claude Juncker: Ja. Die Euro-Gruppe sollte ihren Vorsitzenden für eine Amtszeit von zwei oder drei Jahren wählen. Dieser Vorsitzende könnte dann kontinuierlich die nationale Finanzpolitik abstimmen. Er hätte einen direkten Draht zu allen Finanzministern, zur EU-Kommission und zur Europäischen Zentralbank. Auf diese Weise könnte man die wirtschaftspolitische Koordinierung in Euro-Land deutlich verbessern.

Handelsblatt: Muss der Vorsitzende der bislang informellen Euro-Gruppe dann auch Entscheidungsgewalt bekommen?

Jean-Claude Juncker: Ja. Euro-Land braucht an seiner Spitze ein Gremium, das wirtschaftspolitische Beschlüsse treffen kann. Man muss sich einmal vorstellen, was nach der EU-Erweiterung geschehen wird. Dann stehen den zwölf Euro-Staaten womöglich 13 Nicht-Euro-Länder gegenüber.

Handelsblatt: Und spätestens dann braucht Euro-Land eine eigene Wirtschaftsregierung?

Jean-Claude Juncker: Ich bin jedenfalls dafür, bis dahin einen formalen Finanzministerrat für die Euro-Zone zu schaffen. Allerdings stehe ich mit dieser Meinung im Kreise meiner Kollegen ziemlich allein da.

Handelsblatt: So ein Finanzministerrat würde dann auch Länder zur Raison rufen können wie zum Beispiel Frankreich, das ja angekündigt hat, seinen Sparkurs lockern zu wollen. Dürfen die das?

Jean-Claude Juncker: Nein. Jahrelang haben wir den Menschen gepredigt, dass wir für einen stabilen Euro die staatlichen Schuldenberge abbauen müssen. Davon kann man sich kurz nach dem Start des Euros nicht einfach ohne Federlesens verabschieden. Es geht auch nicht, dass man sich im Wahlkampf ohne erkennbare Not marktschreierisch von EU-Grundsatzbeschlüssen distanziert, die man selber unterschrieben hat.

Handelsblatt: Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac hat es aber getan.

Jean-Claude Juncker: Ja, leider.

Handelsblatt: Und wenn es ein Land wirklich nicht schaffen kann, den festgelegten Sparkurs einzuhalten?

Jean-Claude Juncker: Wenn einer Schwierigkeiten hat, dann sollte er das in der Euro-Gruppe besprechen und nicht zu Hause auf den Marktplatz tragen. Das sage ich allen gewesenen und zukünftigen Wahlkämpfem. Der Stabilitätsgedanke ist schließlich kein Relikt aus Gründerzeiten der Währungsunion, sondern ein bleibendes ordnungspolitisches Prinzip. Hier gilt allerdings eine Einschränkung: Wir dürfen die Stabilitätskriterien nicht formalistisch anwenden.

Handelsblatt:  Nicht so viele Formalien also. Ist das auch der Grund, weswegen die EU-Kommission den blauen Briefan Hans Eichel dann doch nicht abgeschickt hat?

Jean-Claude Juncker: Ich war gegen den blauen Brief, denn schließlich war und ist die EU-Kommission mit Eichels Haushaltspolitik einverstanden. Den blauen Brief wollte die Kommission nur schicken, um den formalen Kriterien des Stabilitätspaktes zu genügen. Solch ein mechanisches Herangehen ist doch absurd. Der Stabilitätspakt ist schließlich kein Selbstzweck.

Handelsblatt: Deutschland sollte den blauen Brief bekommen, weil die erlaubte Grenze von drei Prozent Haushaltsdefizitfast erreicht ist.

Jean-Claude Juncker: Aber eben nur fast. Wenn die Grenze wirklich erreicht würde, dann müsste Deutschland natürlich einen blauen Brief bekommen. Doch das war bisher nicht der Fall.

Handelsblatt: Frankreich hat mit dem Drei-Prozent-Ziel kein Problem, aber mit dem Datum 2004. Ist es überhaupt noch realistisch, dass alle Euro-Staaten bis dahin einen nahezu ausgeglichenen Haushalt ausweisen?

Jean-Claude Juncker: Es bleibt beim Datum 2004. Das werden wir beim EU-Finanzministerrat am kommenden Donnerstag beschließen. Allerdings müssen wir darüber diskutieren, unter welchen Bedingungen das Sparziel erreicht werden muss. Deutschland hat eine solche Bedingung bereits genannt ...

Handelsblatt:  ... nämlich mindestens 2,5 % Wachstum in diesem und im nächsten Jahr...

Jean-Claude Juncker: ... das ist des Pudels Kern. Wenn das Wachstumsziel nicht erreicht wird, muss man eventuell Abstriche am Sparziel für 2004 machen. Außerdem sollten wir in der Euro-Gruppe mehr als bisher über die Prioritäten in der nationalen Finanzpolitik sprechen.

Handelsblatt: Mischt sich die Euro-Gruppe damit nicht allzu sehr in nationale Angelegenheiten ein?

Jean-Claude Juncker: Schauen Sie, in der Politik geht es doch zu wie im Privatleben: Sie haben sich vorgenommen, sich nicht zu verschulden, und plötzlich kommen unvorhergesehene Kosten auf Sie zu. Was geschieht? Sie müssen an anderer Stelle sparen. Genau darüber müssen wir in der Euro-Gruppe sprechen.

Handelsblatt: Wie weit darf dieser Eingriff in die nationale Haushaltshoheit gehen? Wird die Euro-Gruppe dem Bundesfinanzminister eines Tages von den milliardenschweren Investitionen in den Transrapid abraten?

Jean-Claude Juncker: Nein, so weit wird es nicht kommen. Es stimmt aber, dass jeder Finanzminister mit einer gewissen Betriebsblindheit geschlagen ist. Ratschläge von Kollegen in der Euro-Gruppe können da sehr nützlich sein. Die richtige Koordinierung beginnt doch beim klein Geschriebenen.

Handelsblatt: Vorausgesetzt, alle Finanzminister gehen ehrlich miteinander um.

Jean-Claude Juncker: In der Tat brauchen wir korrekte Daten über die Haushaltssituation in den Ländern, und die haben wir nicht immer. In Portugal zum Beispiel schnellte nach dem Regierungswechsel urplötzlich das Haushaltsdefizit in die Höhe. Die EU-Kommission hat sich von der früheren portugiesischen Regierung belügen lassen und uns falsche Zahlen geliefert. Das darf nicht wieder passieren.

Handelsblatt: Erwarten Sie nach den deutschen Bundestagswahlen im Herbst einen grundsätzlichen Kurswechsel in der Berliner EU-Politik?

Jean-Claude Juncker: Die SPD ist eine ausgewiesene Europapartei und die Union auch. Insofern erwarte ich keine großen Veränderungen.

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