Giftige Wirkung

Deutschland, Frankreich und Portugal werden ihre Verpflichtungen im Rahmen der Europäischen Währungsunion nicht erfüllen. Ist der Stabilitätspakt tot?

Nein, die drei Prozent stehen im Vertrag und kein Land befindet sich in einer Situation, die eine Ausnahme rechtfertigt. Ich habe die ernsthafte Sorge, dass sich einige Länder jetzt Freiheiten nehmen, die nicht abgestimmt sind und gegen vertraglich eingegangene Bindungen verstoßen.

Selbst Kommissionspräsident Romano Prodi bezeichnet den Stabilitätspakt inzwischen als dumm, weil er angeblich zu wenig flexibel sei.

Nicht der Pakt ist dumm, sondern dumm wäre eine Politik, die blindlings – wie früher gehabt – in die Schuldenfalle tappt. So kann Romano Prodi nicht verstanden werden. Die Kommission hat vorgeschlagen, den Ausgleich der Haushalte auf 2006 zu verschieben, aber gleichzeitig betont, dass das strukturelle Defizit dieser Länder in jedem Jahr um 0,5 Prozentpunkte sinken muss. Nur deshalb ist der Vorschlag akzeptabel und zeigt damit, dass es auch eine nicht rigide Auslegung des Paktes geben kann. Frankreich möchte diese Anstrengung erst 2004 unternehmen. Ich gehe davon aus, dass die Einsparung dann weit größer als 0,5 Prozentpunkte sein wird. Was Berlin anbelangt, werden wir die Beschlüsse der Koalitionsvereinbarung noch sehr eingehend daraufhin prüfen, ob sie dieser Anforderung entsprechen.

Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder wollen den Pakt aber ebenfalls flexibilisieren, weil die Einsparungen zum jetzigen Zeitpunkt die Konjunktur noch mehr bremsen würden.

Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass der Stabilitätspakt rein mechanisch und ohne Rücksicht auf die konjunkturelle Lage angewendet werden muss. Jetzt bei den Investitionen zu sparen, würde die Chancen auf eine konjunkturelle Erholung mindern. Das heißt dann aber auch im Umkehrschluss, dass man sich aktiv an der Beseitigung der strukturellen Defizite im Haushalt beteiligt. Hier ist Frankreich 2003 ausgeschert. Im Übrigen sind die drei Prozent reichlich bemessen, um konjunkturellen Problemen Rechnung zu tragen. Eine Überschreitung dieser Grenze kann auch jetzt nicht mit der schwachen Wirtschaftslage begründet werden, sondern hat seinen Grund vielmehr darin, dass vorher nicht ausreichend konsolidiert worden ist.

Leidet die Glaubwürdigkeit des Pakts nicht darunter, dass sich große Länder wie Frankreich oder Deutschland nicht mehr an die Regeln halten wollen, weil sie ihnen nicht passen?

Es ist immer ein Problem, wenn ein Land aus der Solidarität ausschert. Ob es sich dabei um ein großes oder um ein kleines Land handelt, spielt keine Rolle. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt, dass die Kommission einem kleinen Land nicht so schnell mit dem Vorschlag entgegengekommen wäre, den Haushaltsausgleich um zwei Jahre zu verschieben. Dass Frankreich trotz dieses Entgegenkommens erklärt, es habe 2003 andere Prioritäten und werde sich nicht daran halten, ist ein politisches Problem, dessen Brisanz völlig unterschätzt wird.

Inwiefern?

Von dem französischen Solo und den anderen Aufweichungsversuchen geht eine giftige Wirkung für die künftige Konsensbildung aus. Warum sollte Luxemburg zum Jahresende das Bankgeheimnis aufgeben, wenn sich nur wenige Wochen vorher Frankreich in einem derart zentralen Punkt nicht an vertraglich vereinbarte Spielregeln hält? Es wird in Paris und in Berlin, überhaupt in den Hauptstädten der größeren Mitgliedstaaten, nicht zur Kenntnis genommen, dass es auch in anderen Ländern eine öffentliche Meinung gibt, die es zu berücksichtigen gilt.

Nun sieht der Stabilitätspakt für Länder, die ein zu hohes Defizit haben, finanzielle Sanktionen vor. Sind die stark genug?

Meine Hoffnung war, dass die Möglichkeit einer solchen Sanktion wie eine nukleare Abschreckung wirkt. Dass ein Land die Stabilitätskriterien überschreitet und eine Strafe in Höhe von bis zu 0,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts riskiert, habe ich nie glauben wollen. Wenn nun Deutschland das Drei-Prozent-Limit überschreitet und Frankreich und Italien diesem Beispiel folgen sollten, muss das Verfahren in Gang gesetzt werden, das für diesen Fall vorgesehen ist. Acht der zwölf Euro-Länder haben mit teilweise sehr schmerzhaften Anstrengungen ihre Haushalte saniert. Diese Landerwerden es nicht hinnehmen wollen, dass die Glaubwürdigkeit des Stabilitätspakts von Ländern infrage gestellt wird, die zusammen rund 75 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts repräsentieren. Dies hätte eine zersetzende Wirkung auf die Stabilitätspolitik der gesamten Gemeinschaft.

Rechnen Sie überhaupt damit, dass es zu einer Sanktion kommt? Die Stabilitätssünderkönnen doch gemeinsam eine entsprechende Entscheidung blockieren.

Ein Land, das sich mit einem Defizitverfahren konfrontiert sieht, sollte sich an der Abstimmung über die Anwendung der Strafe nicht beteiligen.

Sie haben sich für eine bessere Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik stark gemacht. Was vermissen Sie konkret?

Es kann nicht sein, dass Frankreich die europäischen Finanzminister nur zwei Tage vorher darüber informiert, dass es sich am Abbau der Defizite nicht beteiligen will. Die nationalen Haushaltsplanungen müssen so frühzeitig im Kreis der europaischen Finanzminister besprochen werden, dass noch Zeit für eventuell nötige Korrekturen bleibt. Koordinierung hieße auch, dass jetzt alle Defizitländer bis Jahresende konkrete und verbindliche Pläne vorlegen, wie sie gedenken, ihr strukturelles Defizit zu bereinigen. Darüber hinaus bin ich der Auffassung, dass die Euro-Gruppe innerhalb des Rats der Wirtschafts- und Finanzminister eine formelle Einrichtung werden muss, die auch in der Lage sein sollte, eigene Beschlüsse zu fassen. Sonst wird es nach der Erweiterung so sein, dass die wirtschaftspolitischen Richtlinien in der Union von Ländern bestimmt werden, die mehrheitlich nicht der Wahrungszone angehören.

Überfordert die Osterweiterung angesichts leerer Staatskassen nicht ohnehin viele Länder der bisherigen EU?

Ich möchte die Finanzierungsfrage nicht klein reden, aber man muss sich das richtige Maß der Dinge vor Augen halten. Es geht hier um die einmalige Gelegenheit, Kontinentaleuropa friedlich zu vereinen. So eine Chance darf man nicht vertun, indem man sich in technische Details verbeißt. Mich stört, dass sich finanzpolitische Engherzigkeit in die Entscheidungskultur einschleicht. Umsonst wird die Osterweiterung aber nicht zu haben sein. Ich halte die Finanzierungsfrage für gestaltbar. Die Erweiterung wird in den ersten drei Beitrittsjahren 40,3 Milliarden Euro kosten, wir werden dafür sehr viel zurückbekommen – nicht nur in den kommenden drei Jahren, sondern in den kommenden Jahrzehnten.

Niemand weiß, welche Kosten danach auf die bisherigen EU-Mitglieder zukommen.

Am Anfang des Erweiterungsprozesses werden wir in puncto Transferleistungen gefordert sein - das dürfen wir nicht außer Acht lassen. Ich finde die Ängste in den alten Mitgliedstaaten, dass sich die Osterweiterung auf Kosten unseres Wohlstandes vollzieht, durchaus nachvollziehbar. Aber man muss auf die positiven wirtschaftlichen Effekte hinweisen. Ginge es der EU wirtschaftlich heute besser, wenn Spanien und Portugal nicht Mitglied wären?

Wie passt Ihre Forderung nach finanzpolitischer Großzügigkeit mit der Haushaltsmisere in Deutschland und Frankreich zusammen?

Sehr gut sogar. Luxemburg ist Nettozahler Nummer eins in der EU. Insofern maße ich mir an, mich in dieser Gemengelage auch äußern zu dürfen. Wenn ich jetzt aus Deutschland höre, die ganze Veranstaltung wird zu teuer, dann bitte ich, das makroökonomisch zu überprüfen. Der Gewinn für die deutsche Wirtschaft durch die Osterweiterung lässt die kurzfristige Beanspruchung des Bundeshaushaltes in einem anderen Licht erscheinen. Derzeit überweist Deutschland netto 0,4 Prozent seines Bruttosozialproduktes nach Brüssel - das halte ich angesichts der zu erwartenden ökonomischen Erweiterungsgewinne nicht für eine Überforderung.

Die Deutschen zahlen aber nominal den höchsten Betrag.

Stimmt. Ich war stets der Auffassung, dass Deutschland zu viel in die EU-Kassen einzahlt. Nicht hinnehmbar ist auch, dass Großbritannien wegen seines Beitragsrabatts in den Kreis der Nettoempfänger gerutscht ist. Im Rahmen der Erweiterung müssen wir die Finanzierung der EU neu gestalten. Wir müssen zu einer Umfinanzierung ganzer Teilstrecken der Agrarpolitik kommen, auch wenn das viele Luxemburger anders sehen. Wir brauchen einen Einstieg in die Kofinanzierung.

Die Agrarpolitik sollte also zu Teilen aus den nationalen Kassen finanziert werden?

Ja. Wie bisher kann die europäische Agrarpolitik nicht auf Dauer finanziert werden. Es würde mich nicht im Geringsten stören, wenn wir Luxemburger unsere Agrarumweltpauschale ganz aus unserer Kasse bestreiten würden. Man kann den europäischen Haushalt nicht in Vollzugszwang stellen, um eigentlich nationale Aufgaben zu finanzieren.

Beim Brüsseler Gipfel treffen die Staats- und Regierungschefs vom Donnerstag an die letzten Vorbereitungen für die Erweiterung. Werden alle zehn Länder auf einmal beitreten?

Davon gehe ich aus. Es ist auch meine Überzeugung, dass dies so geschehen muss.

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