Luxemburg ist besser auf die Krise vorbereitet als andere Länder

LW: Ist es gegenwärtig schwieriger, Premierminister oder Finanzminister zu sein?

Jean-Claude Juncker: Es ist schwer, Finanzminister zu sein in Zeiten, in denen die Quellen sprudeln. Viele Leute haben in solchen Zeiten wenig Verständnis dafür, dass man bei vollen Kassen Nein sagt. Außerdem tun sie sich schwer, Verständnis dafür aufzubringen, dass man in dem Augenblick, wo man Geld hat, nicht alle Mittel zur Verfügung stellen kann, da man Reserven behalten möchte für Zeiten, wo es schlimmer wird. Es ist leichter, Finanzminister zu sein bei knapper Kasse als bei voller Kasse – das ist meine Erfahrung. Premierminister zu sein ist in jedem Fall eine Beschäftigung, die sich der Kategorisierung zwischen Freud und Leid entzieht. Es ist eher eine Pflichterfüllung, die mal mehr, mal weniger Freude bereitet.

Sprachfähig bleiben

LW: Seit Sie Premierminister sind, hat sich das wirtschaftliche Wachstum ständig verbessert. Viele Forderungen und Wünsche von Interessengruppen konnten einfach mit Geld erfüllt werden. Jetzt erleben wir erstmals eine rückläufige Entwicklung. Eine Rezession ist nicht mehr auszuschließen. Ist die Regierung vorbereitet und auch stark genug, um die Situation im Griff zu behalten?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube nicht, dass die eigentlich wichtigen Wünsche der Leute mit Geld erfüllt werden können. Manchmal bedingen die politischen Fragestellungen und die politischen Antworten nicht ein Einhergehen mit der Zur-Verfügung-Stellung von Geld. Ich habe es mir in den langen Jahren, in denen ich Finanzminister bin, immer untersagt, eine Anfrage nach Geld mit einem Scheck zu beantworten, weil ich immer das Empfinden hatte – da stehe ich in der Tradition meiner Vorgänger Dupont, Werner und Santer -, dass es allzu einfach ist, Geld sofort zur Verfügung zu stellen, um einen vermeintlich ernsthaft formulierten Wunsch zu erfüllen. Ich hatte immer die Tendenz, die staatlichen Finanzen so zu rühren – und Luc Frieden tut dies übrigens genauso -, dass man den Streit im Augenblick in Kauf nehmen muss, weil man Nein sagt, um morgen überhaupt noch sprachfähig und nicht sprachlos zu sein, wenn es zu einer Verknappung der Geldmittel kommt – nach dem Motto, dass man immer einen Apfel gegen den Durst in der Reserve haben muss. Solange der Durst noch nicht da ist und der Apfel noch nicht gebraucht wird, trifft diese Politik auf totales Unverständnis. Wenn dann aber der Durst eintritt und der Apfel zur Verfügung steht, wird diese Situation auch noch für selbstverständlich gehalten. Mit solchen Dingen muss man aber leben.

Jetzige Situation nicht mit Stahlkrise zu vergleichen

LW: Es gibt Zeitgenossen, die behaupten, die Krise, die wir jetzt erleben, wäre vergleichbar mit der Stahlkrise aus den 70er Jahren. Was halten Sie von einem solchen Vergleich?

Jean-Claude Juncker: Ich würde ihnen sagen, dass dieser Vergleich historisch falsch ist. Die Krise, in der wir uns zwischen 1977 und 1985 befanden, war eine allgemeine Wirtschaftskrise mit einem starken Augenmerk auf die Stahlwirtschaft. Es war eine Wirtschaftskrise, die uns doppelt – allgemein und strukturell – erwischt hat. Sektoriell war jener Bereich betroffen, der damals den wichtigsten Anteil an der Schaffung des nationalen Reichtums hatte. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird Luxemburg von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und der europäischen Wirtschaftskrise erreicht. Aber im Gegensatz zu der Situation Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre steht das Haus Luxemburg, das wir in den vergangenen Jahrzehnten errichtet haben, nicht in Flammen. Und darum ist es jetzt auch nicht notwendig, den großen Löschzug in Bewegung zu setzen. Es besteht jedoch der Verdacht eines Sickerbrandes in einzelnen Zimmern des Hauses. Dies kann zu einer gefährlichen Feuerentwicklung führen, wenn die Zimmer-Sickerbrände vernachlässigt werden. Außerdem sind wir in einer unwahrscheinlich besseren Art und Weise auf den wirtschaftlichen Rückgang und die finanzielle Verknappung, die wir im Moment durchschreiten müssen, vorbereitet als dies 1980 der Fall war. Im Augenblick haben wir auf der Einnahmenseite des Staatshaushaltes substanzielle Reserven aufgrund von noch nicht abgerufenen Steuern auf den Gewinnen der Banken zur Verfügung. Auf der Ausgabenseite des Staatshaushaltes verfügen wir über annähernd drei Milliarden Euro in den Investitionsfonds. Ein solches Polster gab es anfangs der 80er Jahre nicht. Man muss einfach sehen, dass es außergewöhnlich schwierig sein wird, den Staatshaushalt 2002, der sich in einzelnen Bereichen durch einen starken Steuerrückgang auszeichnet, im Gleichgewicht abzuschließen. Dies stellt aber kein Problem dar, da wir über eine Haushaltsreserve verfügen, um das Defizit, das 2002 vorübergehend entstehen könnte, aufzufangen. Die wirtschaftlich starke Eintrübung, die wir im Augenblick haben, hat nicht die Dramatik wie die Wirtschaftskrise Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Sie wirft auch nicht so viele Zukunftsfragen wie damals auf.

LW: Sie sagen, dass in den 70er Jahren ein Sektor betroffen war, der eine dominante Stellung in der Wirtschaft des Luxemburger Landes innehatte. Ist diese Situation von damals nicht mit der heutigen Vormachtstellung des Finanzplatzes vergleichbar?

Jean-Claude Juncker: Dieser Vergleich drängt sich auf. Er ist aber nicht in strikter Parallelität machbar. Stärkere Rückgänge sind auf einzelne Geschäftsbereiche des Finanzplatzes beschränkt. Immerhin wurden an der Börse in diesem Jahr 8 000 Milliarden Euro Vermögen vernichtet. Ein solcher Einbruch bleibt nicht ohne Auswirkung auf das Börsengeschäft des Finanzplatzes. Schwieriger Spaziergang durch die sich ständig verändernde Prognoselandschaft.

LW: Das Wachstum der Luxemburger Wirtschaft ist von acht Prozent im Jahr 2000 auf ein Prozent im Jahr 2001 dramatisch eingebrochen. Warum hat es dennoch bis nach der Sommerpause 2002 ge dauert, bis sich die Politik dieser Situation bewusst wurde. War ein Rückgang in diesem Ausmaß nicht eher erkennbar, zumal weil er eine Folge von Entwicklungen aus dem Ausland war, deren Auswirkungen auf Luxemburg nicht ausbleiben würden?

Jean-Claude Juncker: Wer sich die Schwierigkeit einer korrekten Einschätzung der Lage vergegenwärtigen will, sollte einen Spaziergang durch die sich ständig verändernde Pfögnpsenlandschaft unternehmen, die wir in den Jahren 2001 und 2002 vorfanden. Beim Betrachten der Prognosen der Europäischen Kommission über das Wirtschaftswachstum in Luxemburg kann folgendes festgestellt werden: Im April 2001 tippte die Kommission auf ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent für das Jahr 2002. Im Herbst schraubte sie diese Erwartung auf drei Prozent zurück. Im Frühjahr 2002 wurde dann ein Wirtschaftswachstum von zwei Prozent vorausgesagt mit dem Hinweis, dass die Belebung der Konjunktur unmittelbar vor der Tür stünde. Noch im Juli 2002 sagte die OECD, das Wirtschaftswachstum würde sich in der zweiten Jahreshälfte deutlich beschleunigen. In diesem Herbst jedoch sieht die Brüsseler Behörde ein Wachstum von nur noch 0,1 Prozent. Sowohl 2001 wie 2002 wurde jeweils für das zweite Semester die bevorstehende wirtschaftliche Belebung vorausgesagt. Diese Regierung muss sich bei allen Abweichungen und Berichtigungen der Prognosen dennoch der Frage stellen, ob sie die jetzige Schieflage hätte vorhersehen können. Kam es zu wesentlichen Verwerfungen am Arbeitsmarkt, die als Warnzeichen verkannt wurden? Nein, denn die Expansion am Arbeitsmarkt hielt an. Es kam 2001 auch zu keinem Einbruch bei den Steuereinnahmen. Im Gegenteil, wir verzeichneten einen Überschuss. Es gab demnach keine konjunkturell direkt spürbaren negativen Entwicklungen, die auf die jetzige Lage hinwiesen.

Wirtschaftspolitik bedingt Sozialpolitik

LW: Während der guten Zeiten wurde ständig von allen drei großen Parteien der Sozialstaat massiv ausgebaut. Sparen war ein Fremdwort. Kann Luxemburg das hohe Niveau der Umverteilung in Zukunft problemlos aufrecht erhalten?

Jean-Claude Juncker: Ich möchte diesem Eindruck widersprechen. Dies obwohl ich während der letzten zehn Jahre häufiger kritisiert wurde, weil ich dem Forderungsdruck, der aus einzelnen Schichten der Gesellschaft an die Politik herangetragen wurde, nicht nachkam, als dass ich wegen zu großer Großzügigkeit in die Kritik geraten wäre. Ich habe mich ablehnend zu den Resultaten des "Rententischs" geäußert, weil mir scheint, dass der Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum und den Konsequenzen seines Nachlassens auf die Finanzierung der Alterssicherungssysteme nicht genügend stark hervorgehoben wurde. Das brachte mir heftige Anfeindungen ein. In einer kleinen Ecke der Selbstzufriedenheit stelle ich fest, dass diese Bosheiten in den letzten Monaten verklungen sind. Jeder Bürger kann heute klar sehen, dass das, was ich damals befürchtet habe, schon jetzt eintrifft. In der Sozialpolitik kann man nur das verteilen, das zuvor durch die Wirtschaftspolitik geleistet wurde. Das ist eine empirische Erfahrung der letzten 100 Jahre. Bei den ersten Anzeichen der Krise dürfen Spareffekte nicht bei den wirtschaftlich Schwachen angesetzt werden. Daher bin ich nach wie vor für die Erhöhung des Mindestlohns, obwohl das Patronat die Aussetzung dieser Maßnahme fordert. Es wäre falsch, das soziale Netz gerade jetzt beschneiden zu wollen. Herabsetzen der Arbeitslosenentschädigung und das Kappen familienpolitischer Leistungen hätte einen konsumabschwächenden Effekt. Das kann nicht der richtige Schritt sein.

"Gouvemer – c'est prévoir"

LW: Es hat Minister gegeben, die im Frühjahr noch Kreditwünsche mit Steigerungen von 18 Prozent angemeldet haben, obwohl die Wirtschaft schon am Boden lag. Kennen die Politiker das Sprichwort "Gouvemer – c'est prevoir" nicht mehr?

Jean-Claude Juncker: Es gibt zahlreiche Betriebe in der Privatwirtschaft, die für 2002 und 2003 umfangreiche Investitionsprogramme vorgesehen hatten. Ihre mangelnde Voraussicht wird jetzt offenbar.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass bei den verschiedenen Ressortministern Kreditwünsche auftauchen, die nicht mehr nachvollziehbar sind. Seit 1984 bin ich als Budgetund Finanzminister damit beschäftigt, trotz erheblicher Widerstände Kürzungen durchzusetzen.

Diese Aufgabe kommt im Augenblick auch Minister Luc Frieden zu.

So manch früherer Minister, der jetzt die Oppositionsbank drückt und zu rigorosen Schritten zur Budgetgesundung aufruft, fiel in der Vergangenheit durch maßlos übertriebene Haushaltvorschläge auf, die er als Verwalter seines Ressorts einreichte.

Gewerkschaften in legitimer Rolle

LW: Wie sehen Sie die Rolle der Gewerkschaften in der ganzen Situation? Sie haben laut Kritikern in den vergangenen Monaten gezeigt, dass sie Partikularinteressen über das allgemeine Wohl des Landes setzen. Haben diese Verbände für solche Interessen nicht ein zu starkes Gewicht in wichtigen Gremien des Landes, zumal sie kein Mandat vom Bürger, sondern nur von ihren Mitgliedern haben?

Jean-Claude Juncker: Die Gewerkschaften und ihre Vertreter besitzen mindestens eine eben so große Legitimität wie die Vertreter der Arbeitgeberverbände. Ich sehe keine der großen Gewerkschaften, LCGB, OGB-L und CGFP, als Verfechter von Partikularinteressen. Sie setzen sich natürlich für ihre Mitglieder ein, zumal bei der Tarifpolitik. In den vergangenen beiden Jahren waren alle Gewerkschaften zu moderaten Lohnabschlüssen bereit.

Ich konnte feststellen, dass im Koordinationsausschuss der Tripartitc mit den Gewerkschaften ein tiefschürfendes, besorgtes und ernstes Gespräch über die allgemeine Wirtschaftslage möglich war. Die Luxemburger Gewerkschaften haben immer gewusst, wann der nationale Schulterschluss sich als Handlungsmaxime aufdrängt. Ich bin überzeugt, dass sie dies auch künftig nicht vergessen werden. Tarifabschlüsse zwischen Privatwirtschaft und Staatswirtschaft vergleichbar

LW: Sie haben sich bereits kritisch zu den Beschlüssen des Rententisches geäußert. Sind andere Entscheidungen, die ebenfalls von Tragweite sind, wie zum Beispiel das Lohnabkommen im öffentlichen Dienst, nicht ebenfalls auf der Grundlage von falschen wirtschaftlichen Hypothesen getroffen worden?

Jean-Claude Juncker: Ich muss zunächst einmal bemerken, dass ich die Beschlüsse des Rententisches nicht als solche kritisiert habe. Ich habe lediglich bemängelt, dass keine Vorkehrungen getroffen wurden für den Fall, wo die Wirtschaft langsamer treten und infolgedessen die Arbeitsmarktexpansion und die Zahl der Beitragzahler sich rückläufig entwickeln würde. Wenn Luxemburg ein Wirtschaftswachstum von mindestens vier Prozent haben muss, um die Finanzierung der Altersversicherungen zu gewährleisten, dann muss man gleichzeitig Instrumente einbauen, welche die Korrekturen und Eingriffe ermöglichen, die notwendig werden, wenn das Wirtschaftwachstum abnimmt. Mich hat gestört, dass der Eindruck erweckt wurde, die Politik könnte ohne weiteres in den kommenden 40 Jahren für ein Wirtschaftswachstum von mehr als vier Prozent sorgen. Ich habe eher Recht bekommen als angenommen wurde: 2002 werden wir ein geschätztes Wachstum von 0,1 Prozent haben...

LW: Und der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst?

Jean-Claude Juncker: Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst ist nicht höher als die Tarifabschlüsse zu Beginn der neunziger Jahre, die unter noch schwierigeren wirtschaftlichen Bedingungen abgeschlossen wurden. Außerdem: Es kommt zu einer Anpassung der Gehälter unter der Fünf-Prozent-Marke in den kommenden drei Jahren. Eine solche Entwicklung ist nicht höher als die durchschnittliche Anpassung der Löhne im Privatsektor. Drittens: Der Anteil der Gehälter der öffentlich Bediensteten am Staatshaushalt ging von 1990 bis 2003 von 24,5 auf 19 Prozent zurück. Diese relative Verringerung ist darauf zurückzurühren, dass die Investitionsausgaben in den vergangenen Jahren sehr stark gestiegen sind. Die Vorstellung, jeder externe Schock auf die Staatsfinanzen könne durch eine einfache Absenkung der Gehälter in der öffentlichen Funktion ausbalanciert werden, lässt das Zahlenrahmenwerk nicht zu.

LW: Hat die Privatwirtschaft denn Unrecht, wenn Sie behauptet, das Lohnabkommen im öffentlichen Dienst sei in diesen Zeiten ein falsches Signal?

Jean-Claude Juncker: Wir hatten in den vergangenen Jahren einen sehr moderaten Anstieg bei der Besoldung der öffentlich Bediensteten. Zwischen 1995 bis 2000 lag er jedes Jahr bei um ein Prozent, in den Jahren 2002, 2003 und 2004 wird er bei 1,6 Prozent liegen. Wir haben nicht festgestellt, dass Lohnmäßigung beim Staat zu einer entsprechenden Zurückhaltung im Privatsektor geführt habe. Der Staat ist nicht mehr treibende Kraft in der Lohnpolitik. Die Lohnentwicklung war dennoch sehr stark. Die Löhne haben sich allerdings auch nicht überentwickelt, da sie im Einklang mit den Produktivitätsgewinnen standen. Den Vorwurf, der Staat sei der Motor an der Lohnfront, kann man aufgrund der reellen Entwicklung der Staatsgehälter nicht akzeptieren.

LW: Für Sie ist die kontroverse Diskussion nur billige Polemik?

Jean-Claude Juncker: Der Staat muss sich nach der Decke strecken. Wenn es zu einer Verfestigung der wirtschaftlichen Eintrübung kommen wird, wird dies eindeutige Kon-Sequenzen für die Besoldung der öffentlich Bediensteten haben.

Staatsdienst oder Privatwirtschaft: eine persönliche Wahl

LW: Warum soll ein Mensch überhaupt noch in der Privatwirtschaft einer Arbeit nachgehen? In der mittleren und unteren Laufbahn beim Staat wird vergleichsweise sehr gut verdient. Man braucht nicht um seinen Arbeitsplatz zu bangen und ist auch nicht dem direkten Druck der Marktwirtschaft ausgesetzt.

Jean-Claude Juncker: Ich bin nicht zuständig für die individuellen Lebensentscheidungen der Einwohner Luxemburgs. Einige sind eher dem öffentlichen Dienst zugeneigt und müssen mit allen Möglichkeiten und Bedingungen, die diese Arbeit vorschreibt, zurechtkommen. Andere entscheiden sich für die Privatwirtschaft. Bei der Ballung von wirtschaftlichen Problemen wissen die öffentlich Angestellten, dass sie der Tatsache, dass sie über einen nicht kündbaren Arbeitsplatz verfügen, in ihren Lohnforderungen Rechnung tragen müssen. Sinnvoller, bei wirtschaftlicher Abkühlung zu investieren

LW: Kritiker behaupten, der Staat hätte in Zeiten des Überflusses zu viel Geld in den Konsum und den Sozialstaat gesteckt und Investitionen in die Infrastruktur des Landes vernachlässigt. Als Beispiele werden die Eisenbahn, der Flughafen, eine nicht mehr zeitgemäße Kinderklinik oder der Justizpalast genannt. Ist die Kritik berechtigt?

Jean-Claude Juncker: Wären diese Investitionen, die sonder Zweifel wünschenswert sind, bereits getätigt worden, wären die finanziellen Reserven in den Staatsfinanzen bei weitem geringer. Es ist jedoch sinnvoller, in Zeiten wirtschaftlicher Abkühlung stärker zu investieren, wenn man – wie jetzt – über die hierzu notwendigen Mittel verfügt. Im Gegensatz zum Eindruck, der öfters erweckt wird, sind die staatlichen Konsumausgaben im Staatsbudget in den vergangenen 13 Jahren proportional sehr stark zurückgegangen. Zwischen 1990 und 2003 hat sich der Anteil der staatlichen Konsumausgaben am Staatshaushalt von 30 auf 27 Prozent reduziert.

LW: Wagen wir einen Blick in die Zukunft. Schenkt man dem Haushaltsberichterstatter und anderen optimistischen Zeitgenossen Glauben, dann wird es schon bald wieder aufwärts gehen. Wie sieht Jean-Claude Juncker die Zukunft?

Jean-Claude Juncker: Ich habe nicht mehr Wissen darüber als jeder andere, der Prognosen abliefert, und ich schließe mich der Konsensprognose an, die besagt, dass es zu einer wirtschaftlichen Erholung ab dem zweiten Semester 2003 kommen wird.

Attraktive Steuerlandschaft

LW: Wo liegen denn die Stärken Luxemburgs? Über welche Standortvorteile verfügen wir, die für Investoren ausschlaggebend sind?

Jean-Claude Juncker: Wir haben eine Steuerlandschaft, die attraktiv bleibt für internationale Investoren sowohl bei der direkten Betriebsbesteuerung als auch bei der indirekten Dienstleistungsbelastung. Ich befinde mich in Gesprächen mit verschiedenen internationalen Konzernen, die im Bereich des e-commerce tätig sind, damit sie ihre europäischen Aktivitäten in Luxemburg ansiedeln. Ich bin zuversichtlich, dass die Verhandlungen in den nächsten Monaten positiv abgeschlossen werden können. Solange wir uns im internationalen Steuervergleich im attraktiven Teil der Skala bewegen, bleibt es sinnvoll für jemanden, der heute überlegt, wo er in zwei Jahren investieren soll, sein Augenmerk auf Luxemburg zu konzentrieren.

Wir verfügen auch über stabile politische Verhältnisse und über sozialen Frieden. Außerdem sind wir ein wirtschaftlich starkes Land auf einem zunehmend größer werdenden politischen Kontinent. Wir verbessern pausenlos unsere Infrastrukturen. Mit Haushaltsüberschüssen in den vergangenen zehn Jahren und einer unwesentlichen Staafsverschuldung bleiben die Staatsfinanzen trotz der jetzigen Wirtschaftsflaute gesund. Luxemburg ist wesentlich besser vorbereitet und befindet sich in einem besseren Zustand als viele andere Länder, die wie wir unter der internationalen Wirtschaftskrise leiden.

Kein Uniweltdumping betreiben

LW: Ist aber nicht ein Umdenken unter den Bürgern notwendig? Viele wollen in ihrer Nähe keine industriellen Aktivitäten mehr wegen der damit verbundenen Belastungen.

Jean-Claude Juncker: Ich bin der Ansicht, dass man nicht versuchen soll, über Umweltdumping Unternehmen nach Luxemburg zu bringen. Umweltstandards müssen eingehalten werden. Ich wünsche mir aber, dass verschiedene Genehmigungsprozeduren beschleunigt werden. Wir benötigen zu lange Zeit zwischen der Entscheidung und Verwirklichung, sowohl bei der Bautätigkeit der öffentlichen Hand als auch der Investitionstätigkeit der Privatwirtschaft.

Kritik an Grethen unberechtigt

LW: Spätestens seit 1974 wissen wir über die Gefahren einer monolithischen Wirtschaftsstruktur und die Notwendigkeit einer Diversifikation Bescheid. Besonders der frühere Wirtschaftsminister Robert Goebbels lässt in diesem präzisen Punkt kein gutes Haar an seinem Nachfolger Henri Grethen. Ist es jedoch überhaupt realistisch, in einem kleinen Land die Aktivitäten so stark zu diversifizieren, dass die Wirtschaft sich stabiler entwickeln kann?

Jean-Claude Juncker: Luxemburg ist relativ betrachtet das Land, dem es trotz starker wirtschaftlicher Rückbildung in der EU vergleichsweise gut geht. Luxemburg ist gleichzeitig das Land, dessen Wirtschaft sich durch die herausragende Stellung eines Sektors in fast monolithischer Form auszeichnet. Die Tatsache, dass wir in besonderem Maß von den Aktivitäten des Finanzplatzes abhängen, hat nicht dazu geführt, dass wir wirtschaftlich schwächer sind. Dort, wo es die Abhängigkeiten in der verengten Form wie in Luxemburg nicht gibt, sind Wirtschaftssituation und soziale Zustände wesentlich schlechter als in Luxemburg.

Die Kritik des früheren Wirtschaftsministers an die Adresse des heutigen Wirtschaftsministers teile ich nicht. Als Staatsminister von zwei Regierungen, in denen beide Mitglied waren, kann ich das gut beurteilen. Henri Grethen stand vor einem Jahr in der Kritik, dass seine Diversifikationspolitik falsch sei, weil er versuche, wahllos Unternehmen ins Land zu locken. Der Vorwurf ist falsch. Der Wirtschaftsminister hat ganz bewusst eine selektive Diversifikationspolitik betrieben und diese führt er auch so weiter. Ich habe mich über die Arbeit von Henri Grethen nicht zu beklagen.

LW: Herr Juncker, eine letzte Frage: Wie viele Einwohner wird Luxemburg im Jahr 2050 haben?

Jean-Claude Juncker: Ich weiß wie viele Einwohner das Luxemburger Land braucht, weil ich weiß, wie viele Beitragszahler das Land im Jahr 2050 benötigt, damit das Rentenniveau, das kürzlich beschlossen wurde, erhalten bleiben kann. Ich weiß aber auch, dass wir im Fall eines fortgesetzten stark abgeschwächten Wirtschaftswachstums die Beitragsmasse nicht erreichen, die wir benötigen, um die Alterssicherungssysteme sicherzustellen.

LW: Herr Premierminister, vielen Dank für das Gespräch Interview: Paul Lenert

Arbeitgeber sollen Personalentlassungen vermeiden

Die schlimmste direkte Konsequenz einer Wirtschaftskrise besteht in der Privatwirtschaft in einem Arbeitsplatzverlust. Welchen Rat gibt der Premierminister einem Menschen, der sich in einem solchen Fall befindet oder demnächst in eine solche Situation gerät?

Jean-Claude Juncker: Ich möchte zuerst den Arbeitgebern in Luxemburg ans Herz legen, nicht unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise, die sich abzeichnet, direkt mit Personalentlassungen zu reagieren. Wenn die Konsensprognose stimmt, dass es zu einer Erholung der Wirtschaft im zweiten Semester 2003 kommt, ist es betriebsunfreundlich und -schädlich, Beschäftigte mit Know how und Erfahrung auszugliedern und dann, wenn die Konjunktur wieder Tritt fasst, diese durch frisches und unerfahrenes Personal zu ersetzen.

Ich wünsche mir auch, von den Schnellschüssen, die darin bestehen, in erster Linie die älteren Arbeitnehmer über 50 Jahre zu entlassen, Abstand zu nehmen. Diese Menschen sind sehr erfahren und haben den Nachteil, dass sie sich in einer schnelllebigen Wirtschaftswelt nur unter extrem schwierigen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt repositionieren können. Die Betriebe haben hier eine soziale Pflicht, aus der sie sich nicht selbst entlassen sollen.

Schließlich sollen sich die Leute, die hier im Land wohnen, daran erinnern, dass ihre Kaufkraft in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Als Konsumenten waren sie noch nie so ausgabenstark wie heute. Sie sollen sich nicht verunsichern lassen durch Wirtschaftsmeldungen aus benachbarten Ländern, vor allem aus Deutschland, und sich nicht von der Vertrauenskrise anstecken lassen. Auch sollen sie nicht der Neigung verfallen, in übertriebenem Maße zu sparen.

In keinem anderen europäischen Land sind die Fundamentaldaten so gut wie in unserem Land. Deshalb kann ich nicht erkennen, warum es uns an der nötigen Sprungkraft fehlen soll, um wieder aus dem Konjunkturloch herauszukommen.

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