Europäische Geschichte und europäische Geographie wachsen zusammen

LW: Am 12./13. Dezember sollen die Beitrittsverhandlungen mit zehn Ländern in der dänischen Hauptstadt abgeschlossen werden. Der Europäische Ratspräsident Rasmüssen war bei seiner Visite in Luxemburg nicht restlos davon überzeugt, dass dies gelingt. Rechnen Sie mit einem schwierigen Gipfeltreffen?

Jean-Claude Juncker: Dies wird zum einen ein historischer Gipfet, weil der Erweiterungsprozess nach Ost- und Mitteleuropa und Malta und Zypern in Kopenhagen zum Abschluss gebracht wird. Historisch, weil hier europäische Geschichte und europäische Geographie zusammenwachsen. Es gibt, was nicht unüblich ist, in mehreren Bereichen und für mehrere Beitrittsstaaten zu klärende Restfragen. Wenn nicht alle zufrieden stellend geklärt werden können, könnte es durchaus am Abend des 13. Dezember so sein, dass wir mit sieben, acht oder neun erfolgreich abschließen mit einem oder zwei vielleicht noch nicht. Aber jeder ist sich des historischen Beschlusses bewusst, dass wir am Freitagabend oder am frühen Samstagmorgen mit zehn Beitrittskandidaten abschließen können. Die dänische Ratspräsidentschaft wird parallel zum eigentlichen Gipfeltreffen bilateral mit den einzelnen Kandidaten verhandeln. Das Gesamtergebnis muss die Zustimmung aller finden.

LW: Das hört sich insgesamt so an, als sei der Beitrittstermin l. Mai 2004 für alle Zehn nicht gefährdet ...

Jean-Claude Juncker: Dieser Termin ist nicht gefährdet.

LW: Zum Schluss der Verhandlungen geht es um das liebe Geld. Polen will mehr für seine Landwirte, die Dänen haben rund eine Milliarde Euro mehr gegenüber den Brüsseler Beschlüssen angeboten, aber verglichen mit der Finanzvorschau von Berlin 1999 beträgt der Spielraum doppelt so viel. Fühlen sich die Kandidaten nicht zu Recht schlecht behandelt?

Jean-Claude Juncker: Die Kandidaten fühlen sich schlecht behandelt, weil wir in einem atemberaubenden Finish versuchen, die zu spät getroffenen Finanzbeschlüsse den Kandidatenländern zu vermitteln, statt diese Frage im Kreise der EUIS bereits im April oder Mai geklärt zu haben. Das haben wir erst am 24./25. Oktober in Brüssel getan, bedingt auch durch die Wahlen in Frankreich und Deutschland, die ein zügiges Vorankommen in dieser Frage unmöglich machten. Die Kandidaten fühlen sich, was ich für nachvollziehbar halte, auch nicht adäquat behandelt, weil man ihnen den Eindruck vermittelt, dass wir jetzt nach der Methode "Vogel friss oder stirb" mit ihnen zu Rande gehen. Die dänische Präsidentschaft hat noch eine Milliarde draufgesattelt, und ich gehe davon aus, dass wir in Kopenhagen noch einmal das Gesamtfinanzvolumen erhöhen müssen. Es geht nicht um Milliardenbeträge, aber man wird einiges drauflegen müssen.

LW: Geschieht das nicht, könnten dann die Volksabstimmungen in den beitrittswilligen Ländern gefährdet sein?

Jean-Claude Juncker: Man muss auch sehen, dass sich alle Kandidatenländer per Referendum entscheiden müssen und deshalb kommt es wesentlich darauf an, dass Regierung, Parlament und öffentliche Meinung das Gefühl haben, fair behandelt worden zu sein. Man darf keinem Land zumuten, dass es nach dem Beitritt haushaltsmäßig schlechter gestellt ist als vorher. Niemand darf zu schnell Nettozahler werden. Das kann man Ländern, die noch immer unter Transformations- und Anpassungsstress stehen, nicht zumuten.

LW: Hinsichtlich der Türkei kursieren Pläne, wonach die EU-Kommission im Sommer 2004 ein Gutachten über die durchgeführten Reformen erstellt. Fällt dieses positiv aus, könnten 2005 die Verhandlungen beginnen, die acht Jahre dauern sollen. Halten Sie einen solchen Zeitplan für realistisch und sollte er durchgeführt werden?

Jean-Claude Juncker: Wir haben den Grundsatzbeschluss, dass die Türkei EU-Mitglied werden kann, im Dezember 1999 in Helsinki gefasst. Wir haben damit den Beschluss des Europäischen Rates von Dezember 1997 in Luxemburg korrigiert. Als damaliger Ratsvorsitzender hatte ich der Türkei den Kandidatenstatus verweigert. Mit dem Grundsatzbeschluss von Helsinki ist die Frage, ob ja oder nein an sich geklärt. In dieser Logik muss man jetzt den Umgang der Union mit der Türkei sehen und planen.

LW: D. h. eine Diskussion darüber, ob die Türkei überhaupt zu Europa gehört oder nicht wird es nicht mehr geben?

Jean-Claude Juncker: Ich habe diese Diskussion 1997 geführt, und das hat mir in Europa und der Türkei sehr viel Ärger eingebracht. Ich bin kein begeisterter Beitrittsbefürworter, sondern einer derjenigen, der sehr großen Wert darauf legt, dass diejenigen die gegen einen EU-Beitritt der Türkei sind, nicht auf einer falschen Argumentationspiste verharren. Diejenigen, die sagen, die EU würde den Türkei-Islam nicht aufnehmen können, weil sie ein christlicher Staatenverbund wäre, beschäftigen sich nicht mit den eigentlichen Pro- und Kontra-Gründen. Die EU darf nicht den Eindruck bieten, sie wäre nur ein Christenclub. Ich bin ein nüchterner Begleiter des Annäherungsprozesses zwischen der Europäischen Union und der Türkei.

Wir haben dem AKP-Vorsitzenden Erdogan bei seinem Besuch in Luxemburg deutlich gemacht, dass die Türkei die politischen Kriterien, die dem eigentlichen Verhandlungsauftrag vorgeschaltet sind, restlos erfüllen muss. Es muss in der Türkei trotz der erzielten Fortschritte zu einem nahtlosen Respekt und einer flächendeckenden Einhaltung der Menschenrechte kommen. Folter kann nicht als Petitesse auf dem Weg in die EU abgetan werden. Ein Land in dem gefoltert wird, kann nicht mit Beitrittsverhandlungen starten. Als ich das 1997 gesagt habe, wurde ich fast "totgeschlagen", heute sagt die Europäische Kommission das auch.

Im Übrigen hat der türkische Premierminister bei seiner .Regierungserklärung in Ankara die Türkei auch als ein Land kritisiert, in dem noch gefoltert würde. Die Rolle des Militärs muss geklärt werden, sie passt nicht in die Art und Weise, wie hier zivile Gesellschaften und das Militär zusammen funktionieren.

Ich bin nicht der Meinung, dass wir der Türkei jetzt in Kopenhagen ein Datum für den Verhandlungsbeginn geben sollten, das haben wir Herrn Erdogan auch gesagt. Ich bin aber nicht dagegen, dass wir uns einen Termin gegen Ende 2004 geben wo die Gesamtlage gepryft wird und anhand der Kopenhagener Kriterien erörtert wird und dann 2005 oder leicht später mit den Verhandlungen beginnen, für die man sich dann Zeit nehmen muss. Es darf nicht wieder so kommen, dass wir in einen solchen Druck geraten, wie er jetzt im Vorfeld von Verhandlungen schon besteht. Die Türkei muss so behandelt werden wie die anderen Kandidaten auch. Sie ist ein Land, das wirtschaftlich rückständiger ist als alle anderen Beitrittskandidaten, die es jemals gab. Derartige Ver-Handlungen können lange dauern.

LW: Wenn die Türkei, deren Gebiet nur zu einem Bruchteil in Europa liegt dazu gehören soll, muss man dann mit gleicher Konsequenz nicht auch andere Europaratsmitglieder wie Ukraine, Georgien, Moldawien, Aserbaidschan, ja Russland aufnehmen falls sie die politischen Kriterien erfüllen? Die Frage besteht darin, ob mit dem Beitritt die Integrationsfähigkeit Europas vergrößert oder vermindert wird.

Jean-Claude Juncker: Als ich 1997 Europäischer Ratspräsident war, habe ich verschiedene Male die Debatte über die geographischen Grenzen der EU angemahnt. Sie ist nie geführt worden. Ich halte das für einen Fehler. Die eigentliche Frage besteht darin, ob mit dem Beitritt eines Landes die Integrationsfähigkeit Europas vergrößert oder vermindert wird. Die Frage ist, ob wir uns mit jedem Beitritt eher in Richtung gehobene Freihandelszone bewegen oder ob wir dieses Momentum beibehalten nämlich die Vernetzung zwischen den europäischen Nationen und die Vertiefung noch immer ermöglicht wird. Mein Kriterium ist kein geographisches sondern ein qualitativintegratives.

LW: Diejenigen, die jetzt die Aufnahme der Türkei betreiben, haben wohl eine gehobene Freihandelszone als Ziel?

Jean-Claude Juncker: Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die vehementesten Befürworter eines EU-Beitritts 'der Türkei eher der Fakultät der die Freihandelszone befürwortenden angehören als der Blutgruppe der besorgten Integrationsförderer.

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