Jean-Claude Juncker: Trümpfe ausspielen

REVUE: Herr Staatsminister, Sie haben zu Beginn Ihrer Ansprache zur Lage der Nation gesagt, es sei keine One-Man-Show und kein Egotrip, sondern das Ergebnis einer Konzertierung. Wie entsteht sie?

Jean-Claude Juncker: Etwa einen Monat vor dem Termin konzertiert sich die Regierung mit den Fraktionschefs der Mehrheitsparteien auf Schloss Senningen. Sie zieht Bilanz des vergangenen Jahres und analysiert die wirtschaftliche und politische Lage des Landes. Ich lege bereits Prioritäten fest, sage, was in meinen Augen vorrangig ist, und darüber wird dann diskutiert.

REVUE: Wer bestimmt letztendlich, welche Themen zur Sprache kommen werden und wie die Hierarchie ist?

Jean-Claude Juncker: Diese Konzertierung gibt es, seit ich 1995 die Regierungsgeschäfte übernommen habe. Nach unserem Gespräch in Senningen bitte ich jeden Minister um eine Notiz über das, was in seinem Tätigkeitsbereich von Bedeutung ist. Dabei können auch Elemente einfließen, die bei unseren Diskussionen nicht oder nur kaum zur Sprache kamen. Aus diesen beiden Informationsquellen bereite ich dann meine Rede vor. Das ist natürlich mein Text, in meinem Stil. Aber es sind, im Gegensatz zu vielen Vorstellungen, nicht die alleinigen Ideen des Regierungschefs, sondern ein im Regierungsverbund abgesprochener Text.

REVUE: Wer bestimmt die Prioritäten?

Jean-Claude Juncker: Die Auswahl der behandelten Themen ist abhängig von den Schwerpunkten der vergangenen Jahre, von dem, was uns als Regierung wichtig erscheint. Uns liegt am Herzen, die Fragen zu beantworten, die sich die Wähler seit längerem stellen oder auf die sie jetzt und heute eine Antwort erwarten. Das ist dann die Handschrift des Regierungschefs.

REVUE: Sie haben fast zwei Stunden lang gesprochen und dabei Bilanzen und Pläne vorgelegt. Wurden Sie von der politischen Klasse und den Körperschaften richtig verstanden?

Jean-Claude Juncker: Die großen Gewerkschaften und das Patronat sprachen übereinstimmend von einer realistischen Zustandsbeschreibung. Sie sind größtenteils mit den Mitteln und Wegen einverstanden, die ich aufgezeichnet habe, um so unbeschadet wie möglich aus der gegenwärtigen Konjunkturschwäche herauszukommen. Damit unterscheiden sie sich deutlich von der sozialistischen Opposition, für die meine Erklärung eine Wahlrede war.

REVUE: War diese Einschätzung richtig?

Jean-Claude Juncker: Ganz bestimmt nicht. Das war nicht meine Absicht. Wenn diese Auslegungen in ihren Augen schon Wahlkampfcharakter haben, dann müssen sie sich beim Auftakt der Wahlen fest anschnallen.

REVUE: Nachdem sie OGB-L-Präsident John Castegnaro in seiner Haltung im Arcelor-Konflikt so konsequent bestätigten, hat dieser Ihrer Erklärung viel Positives abgewonnen. Das kommt schon fast einer Koalitionsaussage gleich.

Jean-Claude Juncker: John Castegnaro und ich haben ein sehr freundschaftliches Verhältnis. Es gibt kaum einen Menschen, mit dem ich so viel und so erbittert streite wie mit ihm. Davon wird in der Öffentlichkeit gesprochen. Wir sind aber öftmals der gleichen Meinung. Im präzisen Arcelor-Fall kann ich der Haltung der beiden Gewerkschaftspräsidenten nur zustimmen. Dem Arbeitnehmer ist nicht gedient, wenn die Leute, die ihn vertreten, öffentlich außer Gefecht gesetzt werden.

REVUE: Sie haben, ohne ausdrücklich darauf einzugehen, das gute Einverständnis der Regierungsmannschaft betont. War das notwendig? Ist das schon eine Koalitionsaussage?

Jean-Claude Juncker: Eine Koalition ist immer eine Bindung auf Zeit. Spätestens nach einem Jahr muss die Regierungsmannschaft ihren Kurs eingeschlagen und den Inhalt ihrer Reformen für eine zukunftsorientierte Politik angekündigt haben. Ich hatte angesichts der Bilanz der vergangenen Monate und der anstehenden Projekte keinen Grund, Regierung und Mehrheit nicht zu bestätigen. Bei allen Mängeln, die ich nicht verschweigen möchte, wurde in den letzten zwölf Monaten gute Arbeit geleistet.

REVUE: Ist eine Initiative wie das Recht auf die Ausrichtung eines Referendums fundamental bedeutungsvoll oder ist es ein Vorstoß gegen den Vorwurf von mangelndem Demokratieverständnis?

Jean-Claude Juncker: Dieser Vorschlag erfüllt ein Wahlversprechen meiner Partei und ist ein Teil des Regierungsprogramms. Es ist ein schwieriges Gesetzgebungsverfahren, für das man sich im Ausland ausgiebig informieren und in der Koalition einig werden muss.

REVUE: Stimmt es, dass der Sozialpolitiker Juncker in einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld dem Patronat und dem Mittelstand gut zuredet?

Jean-Claude Juncker: Soziale Marktwirtschaft braucht zwei unterschiedliche Komponenten: Die wirtschaftliche Effizienz und die soziale Solidarität. Das harmonische Zusammenspiel dieser beiden Elemente ist in Hochkonjunktur genauso wichtig wie in konjunkturschwachen Zeiten. Einem Land wie unserem ist nicht geholfen, wenn wir den Krieg zwischen Patronat und Gewerkschaften schüren. Besonders in einem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld ist es wichtiger, an einem Strang zu ziehen.

REVUE: Die sozialistische Opposition hat Ihnen vorgeworfen, bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht genügend Akzente gesetzt zu haben. Was halten Sie dem entgegen?

Jean-Claude Juncker: Regierung und Staat sind nicht allein für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zuständig. Hier sind auch die Sozialpartner gefordert. Das neue PAN-Gesetz gibt ihnen die entsprechenden Instrumente. Außerdem bestätigt die Tripartite unsere Einigungsfähigkeit. Das sind solide Grundlagen, um in der aktuellen Wirtschaftslage einvernehmlich zu handeln.

REVUE: Wir haben trotz der jüngsten Verschlechterung der Lage noch immer eine relativ bescheidene Arbeitslosigkeit. Andererseits haben wir finanzielle Reserven für staatlich gestützte Maßnahmen.Wie lange noch?

Jean-Claude Juncker: Den einzelnen Arbeitslosen schert es wenig, ob er ein Einzelfall ist oder Teil einer größeren Masse. Er will eine neue Arbeit. Unsere Arbeitsmarktpolitik will ihm den Wiedereinstieg so einfach wie möglich machen.

REVUE: Ist der Vorwurf berechtigt, dass die von der Regierung für Luxemburg gewonnenen Unternehmen wie AOL und Amazon nur eine steuerliche Nische nutzen?

Jean-Claude Juncker: Dass wir AOL und Amazon nach Luxemburg bringen konnten, beweist, dass wir Expansionsmöglichkeiten haben, wenn wir infrastrukturelle und steuerliche Vorteile bieten können. Wir haben keine steuerliche Nische angelegt. Wir haben den Vorteil eines geringen Mehrwertsteuersatzes und wir haben die notwendigen Datenautobahnen. Darüber hinaus entsprechen die beiden Unternehmen unseren Wunschvorstellungen. Sie sind umweltschonend, benutzen wenig Landoberfläche und bringen einen eindeutigen Mehrwert. Man kann dem Finanzminister in den gegenwärtig schwierigen Zeiten doch wohl nicht vorwerfen, neue Finanzmittel zum Zweck politischer Gestaltung nach Luxemburg zu bringen.

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