Jean-Claude Juncker: Ich bin mit vielen Feststellungen des Konvents nicht happy

DIE WELT: Der Konvent hat seinen Verfassungsentwurf vorgelegt. Ist das der große Wurf für Europa?

Jean-Claude Juncker: Der Konvent hat ohne jeden Zweifel Fortschritte gezeitigt. Immerhin haben sich die Parlamentarier und Regierungsvertreter aus 28 Ländern zu einem wenn auch manchmal diffusen, so doch beeindruckenden Konsens verstanden. Die Grundrechtecharta ist Bestandteil der Verfassung, die EU hat Rechtspersönlichkeit, es gibt die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen in einigen Bereichen, wie etwa der Innen- und Justizpolitik. Das sind Dinge, von denen ich nicht weiß, ob sie eine Regierungskonferenz hätte leisten können.

DIE WELT: Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis des Konvents?

Jean-Claude Juncker: Wenn die EU-Regierungen allein einen solchen Vertrag geschlossen hätten, dann wären die Regierungen beschuldigt worden, ihre Aufgaben nicht erfüllt zu haben. Weil es der Konvent war, bekommen jetzt alle feuchte Augen vor Freude über das Ergebnis.

DIE WELT: Was bemängeln Sie?

Jean-Claude Juncker: Ich bin mit vielen Festlegungen des Konvents weder happy noch zufrieden. Die Idee eines vom Europäischen Rat gewählten, hauptamtlichen Präsidenten ist eine europäische Innovation, deren Effizienz steigernde Wirkung ich beim besten Willen nicht erkennen kann. Die bisherige alle sechs Monate wechselnde Ratspräsidentschaft hat ohne jeden Zweifel ihre Mängel und Schwächen. Aber die vorgeschlagene Lösung ist auch mangelhaft.

DIE WELT: Aber warum haben die kleinen Länder dem zugestimmt?

Jean-Claude Juncker: Weil es uns gelungen ist, dem Präsidenten die Flügel zu stutzen. Er wird keinen eigenen Apparat zur Verfügung haben, er ist nicht weisungsberechtigt. Ich bin dagegen, dass dieser Präsident so etwas wird wie der Vorstandsvorsitzende der Europa AG. Es macht aber auch keinen Sinn, daraus eine Art Ehrenvorsitzenden zu machen. Jetzt haben wir einen Zwitter. Nicht der Ratspräsident, sondern der Kommissionspräsident wird die Nummer eins sein.

DIE WELT: Neben den beiden Präsidenten wird es auch einen Außenminister geben. Macht das Europa verständlicher?

Jean-Claude Juncker: Angesagt war ja mehr Klarheit und mehr Transparenz. Was den institutionellen Aufbau betrifft, ist der 'Konventsentwurf wahrlich keine Klarsichthülle. Im Sinne der einheitlichen Darstellung Europas werden wir also künftig drei externe Vertreter präsentieren – die beiden Präsidenten und den Außenminister. Die ursprüngliche Idee war doch, ähnlich wie der amerikanische Präsident der EU eine Stimme und ein Gesicht zu geben. Jetzt wird es so sein, dass US-Präsident Bush über den Laufsteg kommt, den Applaus der Menge genießt, während die Europäer den Applaus durch drei teilen müssen. Jeder hat also weniger davon – und Europa nicht einen Deut mehr.

DIE WELT: Wie hätte man das vermeiden können?

Jean-Claude Juncker: Die Spannungen sind nur dann zu vermeiden, wenn sich der Ratspräsident bescheidet und dem Kommissionspräsidenten die Vorfahrt lässt. Immerhin lässt der Verfassungsentwurf es ausdrücklich zu, dass irgendwann der Kommissionspräsident auch Vorsitzender des Europäischen Rates werden kann. Dies wäre die optimale Lösung, denn sie würde die Gefahr von Konflikten und Reibungsverlusten bannen.

DIE WELT: Wo liegen sonstige Schwachstellen in der Arbeit des Konvents?

Jean-Claude Juncker: Eine klassische Regierungskonferenz hätte beispielsweise im institutionellen Bereich zielstrebiger arbeiten können. Es ist schon erstaunlich, welche Inkongruenz der Konvent dort fabriziert hat. Im gleichen Text steht, dass der Europäische Rat Gesetze erlassen kann, und dann heißt es, der Rat könne nicht gesetzgeberisch tätig werden. Es ist wohl noch keinem nationalen Fachminister aufgegangen, dass er in Zukunft zwar diskutieren darf, dass aber nur der allgemeine Rat der Außenminister legislativ tätig wird. Wissen alle Agrarminister, dass die Zeiten vorbei sind, in denen sie selbst abstimmen können? Und wissen alle Außenminister, dass sie sich in Zukunft über alle Feinheiten der Agrarpolitik kundig machen müssen? An solchen Fragen wird man sich künftig die Zähne ausbeißen.

DIE WELT: Was kann die Regierungskonferenz am vorliegenden Text des Verfassungsentwurfs noch ändern?

Jean-Claude Juncker: Wir werden uns darum bemühen, dass der künftige EURatspräsident auch ein nationales Regierungsamt bekleiden darf. Wir werden aber nicht den ganzen Verfassungsentwurf aufschnüren und neu verhandeln.

DIE WELT: Wo besteht Handlungsbedarf?

Jean-Claude Juncker: Am schlimmsten ist, dass wir uns in Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik auf Dauer mit dem Prinzip der Einstimmigkeit abfinden sollen. Konventspräsident Giscard erklärt fröhlich, dass dieser Verfassungsentwurf für die nächsten 50 Jahre gelten soll. Also versuchen wir allen Ernstes im nächsten halben Jahrhundert, Europa internationalen Einfluss zu verschaffen, indem wir beim Vetorecht eines einzelnen Landes bleiben. Da hätte ich mir doch gewünscht, dass man zumindest den Einstieg in die Mehrheitsentscheidungen eröffnet. Die Vorschläge zur Außenpolitik werden den Ansprüchen der Welt an Europa nicht gerecht.

DIE WELT: Haben Giscard und der Konvent zu viel Rücksicht auf einzelne große Länder genommen?

Jean-Claude Juncker: Die kleinen Länder haben jedenfalls auf eine ihrer Hauptforderungen verzichtet. Sie haben akzeptiert, dass die Kommission reduziert wird und nicht mehr jedes Land einen gleichberechtigten Kommissar stellt. Wir haben dem EU-Ratspräsidenten zugestimmt, weil einige große Länder ihn unbedingt wollten. Wir haben uns bewegt, aber Giscard hat die großen Staaten zu keinen Konzessionen bewegen können.

DIE WELT: Wenn es immer offenkundiger wird, dass der gemeinsame Nenner in Europa zu großen Reformen nicht ausreicht, liegt dann in der verstärkten Zusammenarbeit einiger weniger Staaten die Zukunft der EU?

Jean-Claude Juncker: Ich halte dies nicht für die ideale Lösung. Aber es darf auch nicht von vomeherein ausgeschlossen werden, dass die Staaten, die von größeren europäischen Ambitionen getragen werden, von anderen daran gehindert werden. Es hat der Kohäsion Europas nicht geschadet, dass wir die Währungsunion de facto auf dem Wege der verstärkten Zusammenarbeit verwirklicht haben.

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