Jean-Claude Juncker: "Ich bin Luxemburger und Europäer"

fonction publique: Herr Premierminister, wie unsicher Wirtschaftsprognosen derzeit sind, hat sich in den letzten zwölf Monaten mehr als einmal deutlich herausgestellt. In ihrer Rede zur Lage der Nation im vergangenen Mai erwähnten Sie eine Wachstumsspanne von 1 bis 1,5 Prozent für 2002. Von was ist diese Vorhersage, beziehungsweise die wirtschaftliche Entwicklung im kommenden Jahr abhängig?

Jean-Claude Juncker: Meine ersten Prognosen über den realen Wirtschaftsverlauf im Jahre 2003 werde ich im Januar 2004 machen, weil ich diesmal auf Nummer Sicher gehen will! Derzeit befindet sich Luxemburg nicht in einer Rezession, im Gegensatz zu unseren beiden großen Nachbarstaaten, Deutschland und Frankreich. Unsere Wirtschaft wächst weiter, wenn auch langsamer als in den letzten Jahren. Der weitere Verlauf hängt wesentlich von der wirtschaftlichen Entwicklung auf internationaler Ebene ab, besonders innerhalb der Eurozone und hier speziell unseren beiden großen Nachbarländern Frankreich und Deutschland, die unsere beiden wichtigsten Exportmärkte sind. Es kommt also vor allem darauf an, ob wir in der Eurozone zu einem guten „policy mix“ finden, einer guten Koordination der Wirtschaftspolitiken, damit der konjunkturelle Aufschwung in Europa eine Chance erhält.

Auf nationaler Ebene haben wir eigentlich alle Vorkehrungen getroffen, die man überhaupt treffen kann: 2001 führten wir eine Steuerreform für Privatpersonen durch, 2002 waren die Unternehmen an der Reihe. Beide Reformen zusammengenommen brachten eine steuerliche Entlastung in Höhe von 3,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts und haben verhindert, dass es zu einem totalen Einbruch der Konsumausgaben in Luxemburg kam. Verbunden mit dem sehr hohen Stand der öffentlichen Investitionsausgaben hat dies bewirkt, dass ein Umkippen der Konjunktur in Luxemburg nicht stattfand. Man muss aber sehen, das wir momentan von den Reserven leben, die dank einer vorsichtigen Haushaltspolitik in den letzten Jahren angelegt wurden, und dass wir – sollte sich bis dahin an der wirtschaftlichen und demnach auch an der budgetären Situation nichts ändern – in zwei Jahren in eine Haushaltssituation geraten werden, die mehr jener unserer Nachbarländer ähnelt als der, die wir in den letzten zehn Jahren kannten.

fonction publique: In Ihrer Erklärung zur Lage der Nation kündigten Sie an, dass im Staatshaushalt für das Wahljahr 2004 kein Platz für „exorbitante Forderungen“ sei. Mit diesen Forderungen muss sich zurzeit und in den kommenden Wochen der Budgetminister befassen. Exorbitant sind da immer die Forderungen der anderen. Was ist Ihre Definition?

Jean-Claude Juncker: Ich habe bloß festgestellt, dass die Minister, und da schließe ich mich selber ein, bisher noch nicht das ganze Ausmaß der Schwierigkeiten erkannt haben. So sind zum Beispiel über 1000 Neueinstellungen für 2004 angefragt worden. Es versteht sich von selbst, dass das nicht in Frage kommt. Ich habe meine Kollegen im Ministerrat und mich selbst denn auch dazu aufgefordert, Personalwünsche stark nach unten zu revidieren. Der Haushalt 2003 wird in einem Fahrwasser segeln, das deutlich weniger tief und weniger breit als in den vergangenen Jahren ist.

fonction publique: Sie sprachen in Ihrer Rede zur Erklärung der Nation auch von „luxuriös Petitessen, déi am Ufank harmlos ausgesinn an eréischt méi spéit deier ginn.“ Dabei kann man an vieles denken, unter anderem an Infrastrukturen aller Art und ihre Folgekosten. Haben wir uns in den letzten Jahren vielleicht übernommen?

Jean-Claude Juncker: Das mag so aussehen, aber ich glaube nicht, dass es wirklich der Fall ist. In Luuxemburg gab es aufgrund einer nicht konsequent durchdachten Politik Defizite in vielen Bereichen. Dies gilt zum Beispiel für Schulneubauten, wo es nicht nur zu einem Mangel gekommen ist, weil wir nicht rechzeitig vorausgeplant haben, sondern auch wegen der oft unendlich langen Planungs- und Bauphasen in Luxemburg, wie sie weltweit kein anderes zivilisiertes Land aufzeigen kann. Allerdings muss bei der Planung von Kultur- und Sporteinrichtungen darauf geachtet werden, dass uns die Folgekosten – die Ausgaben für Verwaltung und Personal etwa – später nicht über den Kopf wachsen.

Davon abgesehen bin ich sowieso allergisch dagegen, im öffentlichen Investitionsbudget größere Kürzungen vorzunehmen. Die öffentlichen Investitionen, deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Luxemburg doppelt so hoch wie in der restlichen EU ist, sind in der erreichten und auch für nächstes Jahr angepeilten Höhe notwendig, um die Betriebe, unter anderem den Bausektor, mit einem genügend großen Auftragsvolumen zu versorgen. Immerhin sind allein im Bausektor rund 12 000 Menschen beschäftigt, und ein Konjunktureinbruch in dieser Branche hat in der Regel verheerende Auswirkungen auf die anderen wirtschaftlichen Aktivitäten. Die vorsichtige Finanzplanung der letzten Jahre und die Tatsache, dass wir Reserven im Hinblick auf anstehende Investitionsausgaben angelegt haben, versetzen uns in die glückliche Situation, zu einem Zeitpunkt, wo es anderen Staaten an Mitteln fehlt, um öffentliche Investitionen zu finanzieren, unsere Investitionsvorhaben kontinuierlich vorantreiben zu können, statt sie zu beschneiden. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass das Wachstum, wenn es im europäischen Raum wieder einsetzt, in unserem Land anhaltend stärker als bei unseren Nachbarn sein wird. Das, was wir als budgetäre Langzeitpolitik angelegt hatten – ich sprach einmal vom „Apel fir den Duuscht“ –, macht sich also jetzt schon bezahlt.

fonction publique: Die Einführung der Quellensteuer ist mittlerweile beschlossene Sache. Sie gehören zu den Optimisten, die darauf hinweisen, dass durch diesen Entschluss endlich klare Verhältnisse geschaffen wurden. Glauben Sie, dass damit die Absicherung unseres Finanzplatzes geregelt ist?

Jean-Claude Juncker: Wir haben uns lange gegen die Einführung einer Quellensteuer gewehrt. Jeder weiss, dass ich nie zu den absoluten Gegnern einer solchen Steuer gehörte. Ich bin nämlich der Meinung, dass auch Kapitalerträge korrekt besteuert werden müssen. Es geht doch nicht, dass zum Beispiel ein Staatsbeamter, der 4000 Euro verdient, bis auf den letzen Franken besteuert wird, während jemand, der 50 000 Euro Zinsen erhält, darauf keinen einzigen Franken an Steuern zahlt. Eine Welt, in der die Arbeit besteuert wird, das Kapital aber nicht, ist nicht gerecht. Deshalb darf Luxemburg kein weißes Loch in Europa sein, in dem das Kapital sich der Besteuerung entziehen kann. Dies mag der Mehrung des Wohlstands unseres Landes dienen, es ist aber keine Politik, die man auf Dauer durchziehen kann. Unsere Verhandlungsposition seit 2002 war es, dass das Bankgeheimnis in Luxemburg nicht abgeschafft wird, wenn ein Gleiches nicht auch auf Finanzplätzen inner- und außerhalb der EU geschieht. Wir haben eine Regelung gefunden, die eine adäquate Kapitalbesteuerung ermöglicht, und die nicht intensiver in Luxemburg zu spüren sein wird als auf anderen europäischen Finanzplätzen. Sie schont den Finanzplatz und schafft Vorhersehbarkeit: Die Banken können die Zukunft planen und die Palette ihrer Finanzprodukte erweitern. Wenn die Regelung so schlecht wäre, hätten die luxemburgischen Banker und andere Beobachter des Finanzplatzes dies deutlich zum Ausdruck gebracht.

fonction publique: Mit der Ankündigung, dass AOL Europe und Amazon einen Teil ihrer Aktivitäten nach Luxemburg verlagern wollen, haben Sie der Kritik der Oppositionsparteien an der Wirtschaftspolitik der Regierung den Wind teilweise aus den Segeln genommen. Doch was ist der tatsächliche Nutzen für den Wirtschaftsstandort Luxemburg, wenn man von den steuerlichen Auswirkungen absieht?

Jean-Claude Juncker: Natürlich hat AOL zuerst auf Luxemburg und seine Steuerlandschaft aufmerksam gemacht werden müssen. Es gibt andere Länder in Europa, die ähnliche Vorteile bieten. Man muss also hart verhandeln, und das haben wir getan. Ich persönlich habe mich sehr stark in diese Verhandlungen eingebracht. Unser Ziel ist es, Luxemburg als ein Zentrum der Internet-Wirtschaft in Europa zu etablieren, eine feste Adresse für jeden, der im „e-business“ und in der Internetbranche tätig ist. Dafür braucht man die großen „Player“ der Szene, und AOL ist nun einmal der Größte unter ihnen. Es war also unabdingbar, dass wir diese Firma nach Luxemburg holten. Amazon ist der größte Internet-Buchhandel der Welt. Wenn beide sich in Luxemburg niederlassen, wird das Interesse vieler anderer Unternehmen dieser Branche geweckt, sowohl in den USA als anderenorts. Daraus kann nach und nach eine Nische entstehen, eine Diversifizierungsmöglichkeit, die nicht im Bereich der klassischen Industrie liegt, aber Mehrwert schafft.

Vor zwei, drei Jahren gab es in der Abgeordnetenkammer und in der Öffentlichkeit heftige Debatten über das angeblich zu hohe Wirtschaftswachstum in Luxemburg und eine „überexpansionistische“ Entwicklung unseres Arbeitsmarktes. Es gab damals einen Konsens in unserer Gesellschaft, dass wir versuchen müssten, Betriebe nach Luxemburg zu holen, die einen besteuerbaren Mehrwert schaffen würden, ohne einen erhöhten Landverbrauch und einen überentwickelten Arbeitsmarkt nach sich zu ziehen. In diese Kategorie fallen AOL Europe und Amazon. Beide Unternehmen bringen uns Milliarden Luxemburger Franken an Steuereinnahmen, mit denen wiederum andere Diversifizierungsanstrengungen finanziert werden können. Denn auch wenn es zurzeit ein reales Arbeitsmarktproblem in Luxemburg gibt, sind wir weit von einer Massenarbeitslosigkeit entfernt, wie sie in Deutschland, Frankreich oder Belgien besteht. Wir müssen also keine Politik betreiben, die auf ein massives Wachstum des Arbeitsmarktpotentials abzielt.

fonction publique: Im Koalitionsabkommen von August 1999 hatten sich die Koalitionsparteien dazu verpflichtet, nicht nur die Bedingungen, unter denen öffentliche Einrichtungen geschaffen werden können, festzulegen, sondern auch deren Organisationsaufbau und das Personalstatut, das öffentlich-rechtlicher Art sein sollte. Das letzte Besoldungsabkommen sieht ebenfalls eine solche Regelung vor. Bis jetzt hat sich in dieser Frage aber wenig getan. Fehlt es am politischen Willen?

Jean-Claude Juncker: Selbstverständlich ist die Regierung gut beraten – und ich ermahne meine Kollegen ständig dazu –, wenn sie sich eine Richtschnur für die Schaffung von öffentlichen Einrichtungen gibt, damit ein Wildwuchs in diesem Bereich vermieden wird und nicht eine Art paralleler öffentlicher Dienst entsteht. Staatssekretär Jos. Schaack arbeitet diese Regeln zurzeit aus und wird sie dem Ministerrat in den nächsten Monaten vorlegen. Die Politik der Schaffung öffentlicher Einrichtungen soll transparenter, nachvollziehbarer werden.

Ich stelle allerdings auch fest, dass die öffentliche Verwaltung in vielen Bereichen noch so funktioniert wie vor 150 Jahren. Das mag die Schuld der Regierenden sein, denn Regierungsparteien zeigen oft nicht viel Mut, wenn es darum geht, eingefahrene Funktionsweisen im öffentlichen Dienst zu verändern. Ich habe nachweislich eine hohe Auffassung vom öffentlichen Dienst und vom Berufsbeamtentum, stelle aber fest, dass in Luxemburg viele öffentliche Bedienstete das Beamtenstatut besitzen, die sich im Ausland nicht im Beamtenstatut befinden würden. Zwar hat Luxemburg keinen künstlich aufgeblähten Beamtenapparat wie viele andere Länder, doch das Beamtenstatut bekommt praktisch jeder, der im öffentlichen Dienst arbeitet. Darüber muss man nachdenken können, auch wenn das nicht bedeutet, am sozialen Status der Leute zu knabbern. Diese Überprüfung muss im Rahmen der Gesamterörterung des Themas „établissements publics“ geschehen.

Wohl verstehe ich die Aufregung der CGFP; sie wäre allerdings noch glaubwürdiger, wenn die CGFP sich intensiver in ein Gespräch über einen lockereren Umgang mit dem Beamtenstatut in bestimmten Bereichen einbringen würde. Ich meine damit nicht die hoheitsrechtlichen Aufgaben: Diese müssen selbstverständlich mit einem Statut verbunden sein, das ein lebenslanges Dienstverhältnis und die politische Unabhängigkeit garantiert. Es gibt aber viele andere Bereiche, die man zumindest der Fragestellung unterziehen könnte. Ich habe nämlich den Eindruck, dass die Ressortminister immer wieder versuchen, öffentliche Einrichtungen zu schaffen, weil sie der Starrheit des Beamtenstatuts entkommen wollen. Dann muss man bereit sein, darüber nachzudenken.

fonction publique: Wenn von Starrheit und mangelnder Flexibilität der staatlichen Verwaltung die Rede ist, ist der Gedanke an Privatisierungen nicht allzu fern. Ist das auch Ihre Wunschvorstellung?

Jean-Claude Juncker: Ich bin relativ allergisch gegen eine exzessive Liberalisierung. Sie entspricht nicht meiner Einschätzung des Berufsbeamtentums und auch nicht meinem Staatsverständnis. Ich bin der Auffassung, dass der Staat bestimmte Dienstleistungen garantieren und selber anbieten muss. Die neoliberal-sozialistische Deregulierungswelle, die in den letzten 15 Jahren über Europa geschwappt ist, hat nie meine Zustimmung oder jene der Regierungen gefunden, denen ich angehörte. In Europa wird privatisiert, was geschäftsträchtig ist, während das, was von der Aufgabenstellung und vom Arbeitsaufwand mühselig ist, im öffentlichen Bereich bleibt. Mit dieser Methode ist es leicht, Geld zu verdienen. Der Staat, der viele soziale Aufgaben erfüllt, die gar nicht berechenbar sind, muss auch Dienstleistungen anbieten können, bei denen er nicht noch Geld drauflegen muss, damit er Mittel genug hat, seine Pflichten wahrzunehmen.

fonction publique: Sie haben sich in den vergangenen Wochen sehr enttäuscht über die Resultate des EU-Konvents und sehr kritisch über die Arbeitsmethode insbesondere seines Präsidiums geäußert. Gedenkt Luxemburg, einige der Ergebnisse in Frage zu stellen, wenn sich im Herbst eine Regierungskonferenz mit den Vorschlägen des Konvents befassen wird?

Jean-Claude Juncker: Dass die Arbeit des Konvents zu einem Resultat geführt hat, ist an sich bereits eine gute Nachricht. Wenn die Vertreter von 25 Staaten zu einem Konsens finden, so konfus dieser auch sein mag, ist das für unseren Kontinent ein Vorgang, dessen Wert es richtig einzuschätzen gilt. Es ist richtig, dass die Europäische Union sich eine Verfassung gibt – was vor zwei Jahren noch nicht möglich schien. Es ist auch richtig, dass sie sich in Bereichen wie der Einwanderungs- und Asylpolitik auf das Prinzip der Mehrheitsentscheidungen einigt. Es ist ebenfalls gut, dass die EU die Rechtspersönlichkeit erhält, und dass die Grundrechte in die europäische Verfassung Eingang finden. Es ist gut, dass Europa sich einen Außenminister gibt. Unter den Ergebnissen des Konvents ist demnach vieles, was unsere ungeteilte Zustimmung findet.

Richtig ist es aber auch, dass man sich zu Wort meldet, wenn im europäischen Korb Sachen landen, die nicht allein deshalb gut sind, weil sie einen europäischen Anstrich haben. Ein faules Ei, das mit blauer Farbe und zwölf europäischen Sternen bemalt ist, bleibt ein faules Ei. Als jemand, der bereits etliche Europa dienliche Vorschläge gemacht hat, beanspruche ich für mich das Recht, auf die bestehenden Defizite aufmerksam zu machen. Das institutionelle Gefüge, das der Konvent vorschlägt, ist mangelhaft. Es ist zum Beispiel nicht daraus ersichtlich, was der gewählte Präsident des Europäischen Rates eigentlich tun soll. Er ist nicht Vorstandsprecher der Europa AG und auch nicht Ehrenpräsident der Europäischen Union, sondern ein Zwittergeschöpf aus intergouvernementalen und gemeinschaftlichen Ansprüchen. Zu bemängeln ist auch, dass es im zentralen Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoltik beim Prinzip der Einstimmigkeit bleiben soll. Wenn Herr Giscard d’Estaing theatralisch unter dem Beifall seiner Konventsbrüder verkündet, der von ihm vorgelegte Vertragsentwurf sei ein Text, der auf fünfzig Jahre Bestand haben werde, sage ich genauso laut und deutlich, dass in einem Europa, das morgen 25 und in zehn Jahren mit Sicherheit 32 Staaten umfassen wird, nach und nach zur Gemeinschaftsmethode – das heißt dem Prinzip der Mehrheitsentscheidungen auch in der Außenpolitik – gefunden werden muss, wenn man der europäischen Stimme in der Welt zu mehr Gewicht verhelfen will. Hierfür hätte der Konvent Perspektiven aufzeigen müssen, denn sein Auftrag, der zum Teil ja auch erfüllt wurde, lautete, die Europäische Union zukunftsfähig zu machen.

fonction publique: Auch die Aufgabenverteilung zwischen den EU-Organen, so wie der Konvent sie vorschlägt, findet nicht ihre Zustimmung?

Jean-Claude Juncker: Ich bin nicht der Meinung, dass Europa, was das Zusammenspiel der Institutionen angeht, durch die Vorschläge des Konvents transparenter wird. Heute wissen wir, dass Luxemburg im ersten Halbjahr 2005 den Vorsitz in der Europäischen Union führen wird. Ab 2006 soll ein extern zu bestimmender europäischer Präsident seines Amtes walten, wir wissen aber noch nicht einmal, wer dann die Sitzungen der Finanzminister oder der Justizminister präsidieren wird, da das Rotationsprinzip ja dann abgeschafft werden soll. Wir überlassen es dem Europäischen Rat, einstimmig festzulegen, welches Land den Vorsitz in welchem Rat führen soll. Warum soll das effizienter sein? Es ist doch nicht unbedingt das effizient, was dem französischen Regierungssystem ähnelt! Wir sind mit dem bisherigen System gut gefahren. Die luxemburgischen EU-Präsidentschaften der Vergangenheit waren der allgemeinen Einschätzung nach große Erfolge, was man von der Präsidentschaft größerer Länder nicht immer sagen kann. Solche Einwände muss man vorbringen können, denn man ist ja nicht deshalb uneuropäisch, weil man Kritik an bestimmten europäischen Vorlagen äußert. Dies müssen wir in der Regierungskonferenz im kommenden Herbst tun, um die Sache in eine Richtung zu bewegen, die unseren Ansichten eher entspricht.

fonction publique: Was ist für Sie denn der Endpunkt dieser europäischen Entwicklung? Ein Bundesstaat Europa?

Jean-Claude Juncker: Ich bin gegen ein föderales Europa, das nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika aufgebaut wäre. Die Nationen sind keine provisorische Erfindung der Geschichte. Nationen schreiben sich in die Dauer ein. Menschen brauchen ein Gefühl der erlebbaren Nähe, und dieses darf man ihnen nicht wegnehmen. Ich bin ein begeisterter, wenn auch kritischer Europäer. Ich bin aber auch Luxemburger, und mein Luxemburger-Sein lasse ich mir nicht dadurch wegnehmen, dass Luxemburg sich in einem Gebilde auflöst, zu dem ich historisch und traditionell keine Beziehungen habe. Ich würde nie akzeptieren, dass die Nationen in ihrer Bedeutung geschmälert würden. Nationen können Souveränität teilen, sie sind aber nicht dazu geschaffen, sich selbst aufzugeben. Der moderne Patriotismus hat zwei Seiten: eine europäische und eine nationale. Dieser nationale Patriotismus in Europa ist heute nicht mehr gefährlich, weil er sich nicht gegen die Nachbarn wendet. Wer einen europäischen Schmelztiegel will, legt den Samen für die zukünftige Spaltung unseres Kontinents. Nur wenn man das Eigene, das spezifisch Nationale in vollem Umfang respektiert – unter der Bedingung, dass es andere nicht verletzt – und Souveränitätsrechte so bündelt, dass man sich als Staat und als Kontinent besser durchsetzt, hält man den europäischen Geist am Leben.

fonction publique: A propos Zukunft. Um den „700 000-Einwohner-Staat“ ist es seit einem Jahr erstaunlich still geworden. Das Thema scheint angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung nicht mehr die gleiche Aktualität zu besitzen, obwohl es doch letzten Endes um die Planung der Zukunft unseres Landes geht. Wäre das nicht doch eine breitere öffentliche Diskussion wert – besonders angesichts der Parlamentswahlen im nächsten Jahr?

Jean-Claude Juncker: Also, an mir ist die Diskussion über den so genannten „700 000-Einwohner-Staat“ mit Sicherheit nicht gescheitert, da ich das Thema immer wieder in die öffentliche Debatte eingebracht habe. Ich stelle fest, dass unser Land demographisch nach wie vor weiter wächst, wenn auch etwas langsamer. Ich stelle auch fest, dass niemand auf mich hört, wenn ich sage, dass die zukünftige Absicherung unserer Altersversorgung, sowohl im öffentlichen Dienst als auch im Privatsektor, unabdingbar mit dem Wirtschaftswachstum verknüpft ist und dieses notgedrungen zu einem demographischen Wachstum führt. Dass die Wirtschaft jetzt langsamer dreht, bedeutet nicht, dass sich die Frage des 700 000-Einwohner-Staates nicht mehr stellt.

fonction publique: Wird die Regierung, werden Sie selbst dennoch versuchen, diese Diskussion wieder in Gang zu bringen?

Jean-Claude Juncker: Für mich ist klar, dass diese Zusammenhänge bestehen, aber ebenso klar, dass niemand sie zur Kenntnis nehmen will. Obschon das wahltaktisch nicht sehr geschickt sein mag, wehre ich mich gegen eine Politik, die darin besteht, die Probleme von heute mit dem Geld der Menschen zu lösen, die noch nicht geboren sind, das heißt, die zukünftigen Generationen mit finanziellen Anforderungen zu überfrachten, die unser derzeitiges Renten- und Pensionssystem mit sich bringt. Ich gehe auch davon aus, dass es dabei bleibt, was am „Rentendësch“ beschlossen wurde, nämlich dass 2006 das zu dem Zeitpunkt vorliegende Zahlenmaterial kritisch begutachtet wird und man gegebenenfalls sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor die Anpassungen vornimmt, die nötig sind, um unsere Renten- und Pensionsansprüche mit den realen wirtschaftlichen Möglichkeiten in Einklang zu bringen. Dies betrifft nicht die kleinen Renten und Pensionen, es kann aber durchaus zu einer Überprüfung unserer weit in die Zukunft reichenden Verpflichtungen in diesem Bereich führen.

fonction publique: Herr Premierminister, wie danken Ihnen für dieses Gespräch.

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