Jean-Claude Juncker: Wer über Nachhaltigkeit redet, stört

woxx: In Ihrer letzten Rede zur Lage der Nation kamen Umwelt und Nachhaltigkeit kaum noch vor. Sind das Themen, die nur auf der Tagesordnung stehen, wenn es dem Land gut geht?

Jean-Claude Juncker: Die grüne Sensibilität in Luxemburg bemängelt jedes Jahr, dass ich über Umweltpolitik nicht, nicht genug oder nicht präzise genug geredet hätte. Ich kann mich nicht entsinnen, dass jemals nach einer öffentlichen Einlassung meinerseits gesagt worden wäre, ich hätte der Umweltproblematik oder nachgeordneten Problematiken genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist ein normaler Reflex jener Leute, die sich einer bestimmten Thematik mehr widmen als andere.

Nach jeder Rede zur Lage der Nation erhalte ich etwa hundert Briefe von Einzelpersonen oder Organisationen, die meinen, ihr Interesse sei mangelhaft beschrieben worden. Ich bin eigentlich strikt unsensibel gegenüber solchen Kritiken, denn ich kann nicht jedes Jahr alles im Detail vortragen. Das geht einfach nicht.

Aber hätte nicht gerade der aktuelle Krisenkontext es erlaubt, das Thema Nachhaltigkeit noch einmal verstärkt in den Vordergrund zu stellen?

Jean-Claude Juncker: Ich verstehe diese Frage kaum. Vor ein paar Jahren habe ich mich intensiv mit der gesamten Problem- und Reflexionszone Nachhaltigkeit beschäftigt. Obschon ich weiß, dass man eine Botschaft, damit sie überhaupt und dauerhaft verstanden wird, ständig wiederholen muss, sollte man in Erklärungen zur Lage der Nation den Rhythmus der Aktualität beachten. Hätte ich mich in diesem Jahr erneut mit der Nachhaltigkeit befasst, wäre mir neben dem Vorwurf, meine eigenen Reden immer wieder zu paraphrasieren, wohl auch übel genommen worden, wenn ich mich nicht mit der wirtschaftlichen Lage und dem finanziellen Engpass auseinandergesetzt hätte. Es ist nicht möglich mit der gebotenen Sorgfalt zwei solch "gewaltige" Themen in ein und derselben Rede zu behandeln. Ich kann im Parlament keine Castro-Reden halten.

Welchen Stellenwert hat denn das Thema Nachhaltigkeit bei Ihnen überhaupt?

Jean-Claude Juncker: Wenn ich in der Regierungserklärung und in einer Rede zur Lage der Nation dieses Thema anging, waren das Belege genug dafür, dass mir die Nachhaltigkeit sehr wichtig ist. Es war mir ein Anliegen, bei früheren Interventionen zu dieser Frage darauf aufmerksam zu machen, dass die Nachhaltigkeit nicht auf ökologische Fragen verkürzt werden darf. Wenn man im Zusammenhang mit der Rentendebatte das Thema Nachhaltigkeit bemüht hat, wurde einem allerdings schnell der Vorwurf des Sozialabbaus gemacht. Ich konnte übrigens auch nicht feststellen, dass jene, die die Nachhaltigkeit auf ihre Fahnen geschrieben haben, sich durch einen besonderen Flankenschutz in dieser Frage bemerkbar gemacht hätten.

Ihrer ersten Rede zur Lage der Nation unter der neuen Koalition meinten Sie, die Luxemburger Politik hätte keine andere Wahl als nachhaltiger zu werden. Wie sieht jetzt - am Ende der Legislaturperiode - die Bilanz aus? Hat die Regierung ihre Ziel erreicht?

Jean-Claude Juncker: Es gibt eine grundsätzliche Schwierigkeit, auf solche Fragen zu antworten. Solange sich der Premier nicht zu Wort meldet, heißt es, er habe eine ressortübergreifende, flächendeckende, horizontale Zuständigkeit. Meldet er sich aber zu Wort, erinnert man ihn daran, dass er zwar Chef der Regierung ist, jeder einzelne Minister aber seine ihm eigenen Kompetenzen hat. Die Resultate einzelner Ministerien - oder wie im Falle Nachhaltigkeit: mehrerer Ressorts - zu bilanzieren, wird dann als schlechter Stil gewertet. Was das Tun und Lassen von Einzelministern betrifft, halte ich mich deshalb lieber zurück.

Wenn ich Nachhaltigkeit allerdings als eine wirklich horizontale, strukturübergreifende, politische Auftragskiste verstehe, muss ich die Regierung in ihrer Gesamttätigkeit bewerten - und nicht nur die Regierung sondern auch die Sozialpartner in ihrer Gesamtheit. Dann komme ich zur Ansicht, dass es Ansätze für einen nachhaltigeren Umgang mit der Gegenwart gibt. Allerdings müsste sich dieser Reflex wesentlich breiter und ökumenischer darstellen.

Die Tatsache, dass die Nachhaltigkeit in ihren Spurenelementen nicht immer resümierend zusammengetragen wird, hat auch damit zu tun, dass ein Hinweis auf die Nachhaltigkeit immer stört. Ich will mich nicht auf das Rententhema versteifen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass mein Verweis auf die Nachhaltigkeit in dieser Frage auf starke öffentliche Unterstützung stieß. Als ich mich dann ganz alleine mit der demographischen Evolution und ihren Auswirkungen auf ganze Politikbereiche beschäftigt habe, wurde mir unterstellt, ich würde wie ein Desperado durch die hiesige politische Landschaft reiten und mit den Waffen eines Hasardeurs auf Windmühlen losgehen. In sämtlichen politischen Rubriken des Landes wurde geschrieben, es sei abwegig, sich mit den nächsten 30 bis 40 Jahren zu beschäftigen. Vielmehr sei es wichtiger, sich um die nächsten drei oder vier Jahre zu kümmern. Ich habe wohl das Thema als solches falsch angepackt, auch weil ich davon ausging, dass die Sorge um die Nachhaltigkeit eine allgemeine Sorge geworden sei. Dem ist aber nicht so.

Legal und institutioneil gesehen haben wir jetzt ein neues Stadium erreicht, die Gesetzgebung konkretisiert sich. Ich verspreche mir viel davon, dass wir uns in hochrangig besetzten Gremien dauerhaft mit der Nachhaltigkeit beschäftigen. Langsam aber sicher können so sämtliche Politikbereiche einem Nachhaltigkeitstest unterzogen werden.

Ich habe auch mit Genugtuung die Aussagen der Kölner Universität im Rahmen einer Studie des Mouvement Ecologique zur Ökologisierung der Steuerpolitik zur Kenntnis genommen. Dieser finanzpolitische Ansatz birgt sehr viele Elemente, die es erlauben, Politik nachhaltiger zu betreiben.

Während der Zeit, in der es vor allem darum ging, Zusammenhänge aufzuklären, geschahen weitere Dinge. Nennen wir zum Beispiel die Zunahme des Straßenverkehrs. Was wird schon heute konkret getan, um solchen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube, dass die Regierung den richtigen politischen Ansatz gewählt hat. Allerdings wurde er mangelhaft nach außen hin vorgetragen. Wir sind dabei, im Bereich des öffentlichen Transportes relativ große Schritte zu machen: Stichwort "Rest-BTB", der jetzt umgesetzt wird, sowie Investitionen im Bereich der Eisenbahn.

Es kommt mancherorts zur Feststellung, der angestrebte Modalsplitt 25 zu 75 sei gleichzusetzen mit einem absoluten Stopp im Straßenbau. Das sehe ich nicht so. Gibt es Probleme, müssen diese auch behoben werden. Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Die Diskussion über den Ausbau der Arloner Autobahn auf drei Spuren. Ich habe dazu keine abschließende Meinung. Ein einfacher Ausbau würde zwar sicherlich zu einer Verbesserung des Verkehrsflusses auf dieser Autobahn führen, aber wir würden in 10 oder 15 Jahren erneut mit dem gleichen Problem konfrontiert werden. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es zu einem solchen Ausbau kommt, ohne dass parallel dazu in derselben Region im Bereich des öffentlichen Transportes wesentliche Initiativen unternommen werden. Und ohne, dass sie während bestimmter Stunden am Tag oder saisonbedingt ausschließlich für den öffentlichen Verkehr zur Verfügung gestellt wird.

In einem Keisecker-Interview brachen Sie 1996 eine Lanze für den BTB. Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass auch im Jahre 2003 Bus-Tram-Bunn noch immer nicht verwirklicht ist?

Jean-Claude Juncker: Was ich mir 1996 genau unter dem BTB vorgestellt habe, kann ich nicht rekonstruieren. Ich weiß lediglich, dass ich zu jenen Politikern gehörte, die sich am meisten für BTB engagierten. Die Ressortministerin Mady Delvaux und Alex Bodry waren die Protagonisten dieses Verkehrskonzeptes. Dass der BTB als großregionales Projekt nicht wie geplant verwirklicht werden konnte, hat damit zu tun, dass er in den großen politischen Parteien auf Widerstand gestoßen ist - übrigens in allen drei, nicht nur in der DP, wo er vielleicht am deutlichsten war.

Ich nehme mit Zufriedenheit zur Kenntnis, dass der jetzige Transportminister den Ausbau in Richtung Kirchbergplateau vornimmt und nicht die Option ausschließt, dass später einmal mit der Tram durch die Luxemburger Innenstadt gefahren werden kann. Dies würde dem eigentlichen Auftrag der Luxtraffic-Etüde gerecht werden. Das war die eigentliche Vorgabe, die oft gerne vergessen wird: Anbindung der Ober- und der Unterstadt an das Schienennetz. Ich stelle fest, dass dank Herrn Grethen eine vielversprechende Reflexionsphase begonnen hat, die Optionen offen lässt.

BTB war doch ein sehr ausgereiftes Projekt - es hieß ja nicht umsonst BTB 2002. Wie war es möglich, dass es von heute auf morgen gestoppt werden konnte und jetzt Konzepte, die alle schon einmal angedacht waren, wieder von neuem ausgearbeitet werden müssen?

Jean-Claude Juncker: Verkehrsprobleme kann man nicht wegdiskutieren und nicht wegwählen. Es lässt sich zwar vor den Wahlen leicht behaupten, dass man den BTB nicht will. Ich hatte in einer Rede darauf hingewiesen, dass die Alternative zum BTB nicht heißen kann, ihn nicht zu bauen. Das hat sich ja eigentlich als eine treffsichere Prognose herausgestellt: Die Mobilitätskatastrophe ist so groß, dass wir reagieren müssen.

Es ist aber auch nicht möglich, eine Trambahn gegen den Willen des Schöffenrates durch die Stadt Luxemburg zu legen. Dass sich in der Stadt Widerstandselemente breit gemacht haben, ist ein politischer Fakt, den man nicht einfach aus der Welt schaffen kann. Die DP hat die Kommunalwahlen in der Stadt Luxemburg haushoch gewonnen und ist 1999 Regierungspartei geworden. Insofern hat der Wahlkampf auf die inhaltliche Politikausgestaltung abgefärbt.

Ein anderer Bereich, in dem bislang nichts umgesetzt worden ist, ist die Ökologisierung des Steuersystems. Die doppelte Steuerreform hätte dazu Gelegenheit geboten, doch nichts ist passiert. Sind Ökosteuern zu kompliziert?

Jean-Claude Juncker: Unabhängig davon, dass dies eine aufgrund ihrer Technizität sehr schwierige Frage ist, müssen wir erkennen, was das in der praktischen Politik heißt: Wollen wir eine Verlagerung von direkten zu indirekten Steuern hin? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus in einem Land, das zu den wenigen gehört, das über die automatische Indexierung der Löhne verfügt?

Andererseits muss ich seit zehn Jahren die betrübliche Feststellung machen, dass jedes Mal, wenn man ökologische Elemente in die Steuerpolitik einfließen lässt, sie aber nicht als solche benennt, die erklärten Fachleute eines ökologisierten Steuersystems nicht einmal merken, dass es sie gibt. Zum Beispiel die Kilometerpauschale, über die in Deutschland so heftig diskutiert wird. Sie existiert in Luxemburg seit 13 Jahren und wird seit 1992 unabhängig vom Transportmittel gewährt. Es war wahrscheinlich ein Marketingfehler des damaligen Finanzministers, der ich heute noch bin, nicht auf die ökologische Revolution aufmerksam zu machen, die von Luxemburger Ökosteuer-Experten händeringend und bewundernd aufgenommen wurde, als sie in Deutschland mit zwölf Jahren Verspätung auf Luxemburg eingeführt wurde.

Auch die Mineralölsteuer wurde im Rahmen der Finanzierung des Beschäftigungsfonds in einem Maße erhöht, der dem entspricht, wie das in Deutschland geschah. Nur scheint das in Luxemburg noch keinem aufgefallen zu sein. In unserer Steuerlandschaft gibt es die gleichen ökologischen Elemente wie in der deutschen. Es ist doch nicht so, dass eine Politik nur deshalb grün und ökologisch wäre, weil sie von Grünen und Sozialisten gemacht wird, und die gleiche Politik von den anderen unökologisch wäre. Ich bitte also darum, unsere Steuerlandschaft mit einem etwas durchdringenderen Blick zu betrachten.

Aber diese Verteuerung des Treibstoffs wurde nicht aufgrund umweltpolitischer Argumente beschlossen.

Jean-Claude Juncker: Ja, aber als wir in der vorherigen Legislaturperiode unter der Regie des damaligen Umweltministers echte Ökotaxen im Wasserbereich einführen wollten, scheiterten wir mit diesem Anliegen - vielleicht, weil wir den Eindruck hinterließen, es handle sich hier um einen Trick, die Staatskassen etwas aufzustocken. Das war natürlich nicht der Fall. Es ging vielmehr darum, Kläranlagen zu finanzieren. Sogar der Hinweis auf eine solche Zweckbestimmung half damals wenig.

Generell bin ich der Meinung, dass man den Ausdruck "ökologische Steuerreform" nicht gebrauchen sollte. Ich ziehe den Begriff "nachhaltige Finanzpolitik" von Professor Ewringmann vor, dem Autor der Studie des Mouvement ecologique. Die Luxemburger Finanzpolitik ist in vielen Sparten tatsächlich nachhaltig. Wir haben entsprechend dem Nachhaltigkeitsprinzip Reserven gebildet.

Übrigens schreibt auch Professor Ewringmann, mit dem ich eine Unterredung hatte, Positives über Luxemburg. Bei den Machern, die hierzulande den Ton angeben, steht die Ökofiskalität oft im Odium, eine Spielerei von wirklichkeitsfremden Weltverbesserern zu sein. Doch in dieser Studie haben wir einen finanzwissenschaftlichen Ansatz, der das Ökologische umfasst, aber mehr in Betracht zieht als nur das. Solche Initiativen sind nicht nur aus umweltpolitischer Sicht wichtig. Es geht darum, die gesamte Steuerund Finanzstruktur in Augenschein zu nehmen.

Die nächsten Monate müssen wir nutzen, um anhand der Mouvement-Studie über nachhaltige Finanzpolitik zu diskutieren. Ich würde mir wünschen, dass darüber in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wird, ehe man den Finanzspezialisten das Feld überlässt. Und die politischen Parteien sollten in ihren Wahlprogrammen zumindest andeuten, in welche Richtung sie in dieser Frage tendieren. Die nächste Regierung kann dann die nötigen Schritte einleiten, die sich hinsichtlich einer nachhaltigeren Steuerpolitik aufdrängen.

Dabei muss man allerdings wissen, dass wenn man den Raum der theoretischen Erörterungen verlässt und auf die praktischen Fragen stößt, es einem gehen kann wie bei den Renten. Der durchschnittliche Luxemburger Wasserverbrauch ist hoch, der Benzinverbrauch ebenfalls. Das Niveau der indirekten Steuern ist niedrig, und eine Okologisierung findet nun einmal über den Weg solcher Taxen statt. Da läuft man leicht Gefahr, dass kurzfristige Sichtweisen stärker sind als die nachhaltige Dimension, die ansonsten so gern eingeklagt wird. Diese Befürchtung kann mich aber nicht davon abhalten, im späten Herbst dieses Jahres Initiativen hinsichtlich nachhaltiger Finanzpolitik zu ergreifen.

Ist nicht der günstige Moment, als genügend Spielraum vorhanden war um umzuschichten, verpasst worden?

Jean-Claude Juncker: Der Spielraum bleibt erhalten. Eine Steuerreform, wie wir sie 2001 gemacht haben, ist ja nicht darauf ausgelegt, die Finanzkapazität des Staates mittelfristig in Gefahr zu bringen. Also scheitert die Einführung eines ökologischen Elements auch nicht an den Volumina des Gesamtsteueraufkommens.

Doch ich wage die Wette, dass bis ins Herz der grünen politischen Sensibilität hinein die Begeisterung für ökologische und nachhaltige Steuerpolitik brutal einbrechen wird, wenn die Sachen, die im Räume stehen, aneinanderstoßen und es um politische Entscheidungen geht.

Natürlich weiß ich um die Wichtigkeit von Kompensationsmaßnahmen, und habe das auch seinerzeit im Rahmen der Steuerreform bedacht. Wenn wir eine ökologische Steuerreform in der Form betreiben, dass es zu einer stärkeren Belastung im indirekten Steuerbereich kommt, dann hätte sogar vor der letzten Steuerreform zu wenig Volumen bestanden. Steuersenkungen allein hätten nicht gereicht, um den Menschen in den unteren und mittleren Einkommensklassen einen Ausgleich zu verschaffen für ihre Mehrausgaben aufgrund neuer Ökosteuern. Dafür hatten meine Partei und ich uns im Wahlkampf 1999 eher für ein Ökobonus-System aasgesprochen - ein Modell, das heutzutage nicht stark favorisiert wird, auch nicht von jenen, die es einmal in die Welt gesetzt haben. Für mich bleibt es aber eine wertvolle Idee.

War aber die Botschaft, die mit der Steuerreform verbunden war, aus der Sicht der Nachhaltigkeit nicht eine falsche? Man hat den Menschen auf den Cent genau vorgerechnet, wie viel Geld ihnen am Jahresende mehr zur Verfügung stünde. Doch jetzt hören wir, dass nicht genug Geld da ist, um das Wasserwirtschaftsamt mit Personal zu bestücken, und die Mobilitätszentrale, zumindest am Anfang, wohl nur aus einem Anrufbeantworter bestehen wird.

Jean-Claude Juncker: Sie müssen sich von dieser Bauchladenmentalität befreien. Der Staat ist doch etwas mehr als nur eine Mobilitätszentrale oder ein Wasseramt. Insgesamt hatten sämtliche Ministerien einen Zuwachs von 23 Prozent der Kredite beantragt, die auf rund zwei Prozent zurückgeführt werden mussten, mithin könnte ich Ihnen mindestens 300 weitere Beispiele sinnvoller Projekte, die ebenfalls zurückgestellt werden mussten, aufzählen.

Die Regierung hat zwar entschieden, dass die von Ihnen erwähnten Dienststellen nicht im Haushaltsentwurf selbst ausgestattet werden, nicht aber, dass es grundsätzlich unmöglich sei, sie ordentlich zu besetzen. Wir haben 40 neue Posten budgetisiert, die je nach unseren Prioritäten im Laufe des Jahres eingesetzt werden können.

Das Finanzaufkommen des Staates ergibt sich aus seiner Gesamtpolitik. Die Vorgabe der Steuerreform war eine Absenkung der direkten Einkommens- und Betriebssteuern. Letztere machen sich haushaltstechnisch kaum bemerkbar - in dem Sinne, dass die Steuereinkünfte genau so stark zurückgegangen wären wie ohne Steuerreform: Ob ich 40 Prozent oder 20 Prozent von Null erhebe, macht nun einmal keinen Unterschied. Allerdings wird sich die Senkung der Betriebsbesteuerung als richtig erweisen, wenn es wieder zu einer Belebung der Konjunktur kommt. Dann nämlich, wenn die Unternehmer sich daran erinnern, dass das steuerliche Umfeld in Luxemburg im europäischen Vergleich besonders günstig ist.

Daneben hatte die Lohnsteuerreform einen Impakt auf das Konsumverhalten: Im Gegensatz zu unseren direkten Nachbarn ist der Konsum hierzulande nicht zurückgegangen. Ohne Steuerreform wäre das der Fall gewesen. Der Konsumschub hat seinerseits dem Staat mehr Einnahmen beschert, als dies ohne Steuerreform der Fall gewesen wäre.

Ich bin nach wie vor von der Richtigkeit dieser Reform überzeugt. Nicht zuletzt wurde sie seinerzeit von allen Seiten gefordert. Der Regierung wurde 2001 vorgeworfen, sie würde im Geld schwimmen. Wenn die Situation heute nicht so verdrießlich wäre, könnte man sich darüber kaputt lachen. Die gleichen Leute die damals geschrieben haben, Juncker schwimmt in unserem Geld, jammern jetzt, dass kein Geld mehr da ist.

Wie steht es um die Nachhaltigkeit in der Wohnungsbaupolitik? Es gibt Steuerhilfen, Zinsvergünstigungen zwecks Anschaffung von Eigentum. Die Zersiedlung wird dadurch vorangetrieben.

Jean-Claude Juncker: Im Juli 2002 haben wir ein umfassendes Steuer- und Unterstützungsprogramm für den Wohnungsbau verabschiedet. Damals haben wir betont, dass - sollte dieses massive Eingreifen des Staates in Sachen Wohnungsbau nicht fruchten - wir mit steuerlichen Maßnahmen im Jahre 2005 nachziehen würden, um den Spekulationselementen, die im Bereich Wohnungsbau bestehen, entgegenzuwirken.

Allerdings stößt man in diesem Bereich auf sehr viele Zielkonflikte. Ich sehe eine Reihe von lokalen Plänen um in diesem Bereich voranzukommen, die auf den Widerstand des Innen- und Landesplanungsministers stoßen. Auch mir gegenüber beklagt man sich, dass die Landesplanung scheinbar wichtiger sei als der Wohnungsbau. Ich teile aber die Sicht des Ministers für Landesplanung, der sich gegen unüberlegte Pläne im Wohnungsbau und gegen die Zersiedlung stellt.

Ein wichtiges Element nachhaltiger Entwicklung ist die partizipative Demokratie. Die Betroffenen sollen in ihre Zukunftsgestaltung mitein bezogen werden. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Menschen werden recht spät informiert, wichtige Ausschreibungen finden immer noch im Hochsommer statt. Straßenprojekte, die sich als nationale Großprojekte entpuppen, werden den Betroffenen nur häppchenweise vorgestellt. Wie viel Demokratie verträgt diese Regierung?

Jean-Claude Juncker: Ich kann nicht erkennen, dass es eine düstere, diabolische Absicht geben soll, wie von Ihnen skizziert, um die extrem weit entwickelte legale Partizipationsform, die in Luxemburg besteht, außer Kraft zu setzen. Ich weiß auch nicht, welche Prozeduren im Sommer ablaufen ...

... die Findel-Erweiterung zum Beispiel.

Jean-Claude Juncker: In dem Falle handelt es sich nun wirklich kaum um ein brandneues Dossier, das im August aufgetaucht wäre. Auch kenne ich kaum Luxemburger, die den ganzen August Ferien machen. Es haben ja auch gut besuchte Bürgerversammlungen stattgefunden. Ich habe das Gefühl, dass wir die legale Partizipation so weit vorangetrieben haben, dass es kaum möglich ist, hier noch weiter zu gehen.

Es mag manchmal der Eindruck entstehen, dass im Hauruck-Verfahren Entscheidungen getroffen werden. Neben dem legalen Aspekt wird die Erläuterungsphase vielleicht zu sehr vernachlässigt. Aber beide Seiten haben zu lernen. Die Regierung hat nicht aus Prinzip Recht, aber auch Bürgerinitiativen haben das nicht.

In Ihrer Rede aus dem Jahre 2000 meinten Sie, Luxemburg solle nicht weiter arbeitsintensive Betriebe ansiedeln, sondern besser Betriebe, die viel Mehrwert schaffen. Sie haben damals eine Art Utopie entwickelt, wie mit Hilfe einer Technologie-Offensive Kompetenznischen geschaffen werden könnten. Wie steht es um diese Offensive?

Jean-Claude Juncker: Das geht ja nicht nach Datum und Termin. Als ich das damals verkündete, gab es ja recht viel Applaus. Das stand in Zusammenhang mit der Demagogie, die um meine Überlegungen zum 700.000-Einwohnerstaat betrieben wurde, und die zu einer Verdunklung dieses Reflexionsprozesses geführt hat. Jedenfalls fand man, es sei sinnvoll, Unternehmen ins Land zu holen, die weder personalintensiv seien, noch viel Fläche verbrauchen würden, dafür aber die öffentlichen Finanzen stärken könnten. Dieses Prinzip gilt für mich auch weiterhin.

Nun habe ich zwei solche Projekte eingebracht: AOL und Amazon. Die passen genau in die Rubrik dessen, was damals als erstrebenswert beschrieben wurde. Und was war die Hauptreaktion: Das sei ja alles schön und gut, doch entstünden dabei keine Arbeitsplätze.

Je renvois les gens à leur discours! Ich habe es bereits gesagt: Wir Luxemburger - und ich nehme mich dabei nicht aus - wollen das eine und das andere. Und zwar ohne die jeweiligen Nachteile auf der einen oder anderen Seite.

Damals hatte man sich doch mehr vorgestellt, als nur zwei Firmen an Land zu ziehen.

Jean-Claude Juncker: Ich kenne 15 andere Länder, die mit uns im Wettbewerb standen, um diese beiden Firmen zu sich zu bekommen. Die sagen bestimmt nicht, dass es sich "nur" um eine Weltfirma wie AOL oder den weltweit größten Buchvertrieb Amazon handelt. Und daran werden sich ja auch noch andere Aktivitäten aus derselben Sparte anschließen.

Sie hatten den Akzent auf die Standort-Politik gelegt. Allerdings war das vor der Pisa-Studie und den schlechten Noten für E-Letzebuerg. Sind Sie heute noch immer so optimistisch?

Jean-Claude Juncker: Von mir gibt es nicht viel Optimistisches. Was E-Letzebuerg anbelangt, haben wir erhebliche Fortschritte gemacht. Die Bewertungen der Europäischen Kommission, die hier als Bruttomaterial genutzt werden, werden nicht hinterfragt - ob die Kriterien, die dabei zur Anwendung kommen, überhaupt auf Luxemburg übertragbar sind. Ich bin mit den Fortschritten bei "ELetzebuerg" weder extrem zufrieden, noch bin ich unzufrieden. Es wurden Forschritte gemacht und auch nicht unerhebliche Geldmengen zur Verfügung gestellt.

Pisa ist ein Thema für sich. Als Nicht-Bildungspolitiker bin ich Pisa-aufgeschreckt, aber nicht Pisa-traumatisiert. Ich will die Ergebnisse der Studie nicht kleinreden, aber wenn in den gleichen Ländern mit 16 Jahren ein Sprachtest in drei Sprachen absolviert würde, wäre Luxemburg haushoch überlegen. So stelle ich fest, dass ich der einzige Regierungschef in Europa bin, der ohne Dolmetscher umherreist. So ergeht es jedem Luxemburger Touristen und jedem Luxemburger Geschäftsmann, so ergeht es den hiesigen Hoteliers und den Reiseunternehmen, die von hier aus Europa bedienen: Das sind auch Kompetenzen. Die Anforderungen in diesem Bereich werden angesichts eines europäischen Binnenmarktes, der keine Grenzen mehr kennt, noch steigen.

Schauen wir über den nationalen Rahmen hinaus. Im globalen Kontext fällt auf, dass der Wasser- und Energieverbrauch in Luxemburg sehr hoch ist, und unser CO2-pro-Kopf-Ausstoß weltrekordverdächtig. Wie lässt sich in einem solchen Kontext überhaupt über nachhaltige Politik diskutieren?

Jean-Claude Juncker: Wir haben uns zur Gewohnheit gemacht, unsere Probleme losgelöst von der globalen Problemlage zu betrachten. Das gehört zum Luxemburger Sonderweg. Das gilt auch für mich: Unsere Betrachtungsweise richtet sich am eigenen Nabel aus.

Es gibt allerdings den Versuch, dies in einem länger andauernden Prozess zu beheben, nämlich durch die Entwicklungshilfe. Als ich 1984 Budget-und 1989 Finanzminister wurde, hat mich gestört, dass ein Land, das ein solches Wohlstandsniveau erreicht hatte, so wenig Entwicklungshilfe leistete. In einem relativ kontinuierlichen Prozess wurde diese Hilfe auf 0,82 Prozent des Bruttosozialproduktes angehoben. Sie steigt, nebenbei bemerkt, von 2003 auf 2004 um 7,2 Prozent-dies bei einer Budget-Steigerungsrate von zwei Prozent. Währenddessen ist in allen Nachbarländern die Entwicklungshilfe zurückgedrängt worden. Wir gehören zu den fünf "G 0,7"-Ländern, die das UNO-Ziel von 0,7 Prozent einhalten, im Gegensatz zu den sieben G -Ländern, von denen keines diesen Satz erreicht. Diese Politik wird auch in breitem Maße von den Luxemburgern gutgeheißen. Der Härtetest für diese Politik käme allerdings dann, wenn eine totale Verknappung der Geldmittel stattfinden würde.

Die Entwicklungspolitik ist sicherlich ein positiver Beitrag dieser Regierung. Allerdings hatten Sie 2000 auch eingeklagt, das Armeebudget müsse "nachhaltig" wachsen, auf über ein Prozent des Bruttosozialprodukts.

Jean-Claude Juncker: Ich sehe nicht, dass man, wie Sie es tun, den Aktivposten Entwicklungspolitik in einen Gegensatz zur Verteidigungspolitik stellen kann. Wir sind nicht mehr im Kalten Krieg. Nach dem währungspolitischen Zusammenschluss braucht die EU eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.

Das ist in meinen Augen keine auf Aufrüstung ausgerichtete Militärpolitik. Die EU darf nicht zu einem militärischen Muskelprotz werden, der es mit anderen sich so gebärdenden Staaten in der Welt aufnimmt. Vielmehr muss die EU den Schwerpunkt auf zivile Konfliktlösungsstrategien legen.

Ich erinnere mich noch genau daran, dass meine ersten Gedanken nach dem 11. September sich eben gerade mit der Entwicklungshilfe und der Bekämpfung der Armut in der Welt befassten. In diesem Sinne ist die Entwicklungshilfe ein Stück Sicherheits- und Stabilisierungspolitik in der Welt.

Unsere Rolle im Bereich der Nato und der europäischen Verteidigungspolitik sehen wir auch und vor allem im Bereitstellen von Transportkapazitäten. Daher unser Engagement im Programm des A4OO-M-Transportflugzeuges. Dieses Flugzeug wird zwar im Rahmen eines Nato-Programms angeschafft, kann aber auch für humanitäre Zwecke eingesetzt werden. Auch die gemeinsamen Überlegungen mit der belgischen Regierung bezüglich eines Transportschiffes, wurden ja nie nur aus rein militärischen Gesichtspunkten heraus geführt.

Dazu fühle ich mich vollkommen außerstande.

Im supranationalen Kontext betrachtet ist auch das Nischenprinzip, das Luxemburg so gerne nutzt, alles andere als nachhaltig. Eine Senkung der Betriebssteuern zum Beispiel trägt dazu bei, die internationalen Steuerstandards nach unten zu ziehen.

Jean-Claude Juncker: Das ist keine Nischenlogik, das ist vernünftige ökonomische Politik. Wenn andere Länder, die unendlich mehr Handlungsspielraum haben als kleine Länder, ein Steuerdumping betreiben, dann muss man eine Politik betreiben, die es erlaubt, hier mitzumachen.

Aus Nischen können auch manchmal Prinzipien entstehen: RTL und SES zum Beispiel. Heute will jeder auf unseren Satelliten, und alle haben ihre Rundfunklandschaft liberalisiert.

Aber, um Missverständnissen vorzubeugen: Ich beteilige mich nicht an Plädoyers gegen das Prinzip der Erhebung von Steuern. Ich halte sehr viel von distributiver Gerechtigkeit, wenn die Steuern einmal erhoben sind, und ich halte sehr viel von kontributiver Gerechtigkeit in dem Moment wo sie erhoben werden. Bislang bin ich nicht durch einen neoliberalen Diskurs in dieser Frage aufgefallen. "Eigentum verpflichtet" heißt es in der katholischen Soziallehre.

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