Premierminister Jean-Claude Juncker über die Entscheidung über die EU-Verfassung

die zeit: Wetten Sie darauf, dass Europa in dieser Woche eine Verfassung bekommt?

Jean-Claude Juncker: Es wird höchste Zeit, die zu Ende zu bringen. Sonst führt unser Streit noch zum Verfassungsverdruss.

zeit: Der ist doch längst da. Die Deutschen ärgern sich über die Spanier, die kleinen Länder wüten gegen die Großen…

Jean-Claude Juncker: Lassen Sie sich von einem Veteranen, der noch in Maastricht die Wirtschafts- und Währungsunion mitverhandelt hat, sagen: Damals ging es viel hemdsärmeliger und brutaler zu als heute. Nur können sich "junge Menschen" wie Gerhard Schröder oder Jacques Chirac daran nicht erinnern. Deshalb gehen die wohl auch etwas aufgeregter an die Verhandlungen heran.

Mich macht das Feldgeschrei nicht nervös. Ich sorge mich nur, dass wir dadurch unsere Ambitionen und Ansprüche zu sehr senken. Selbst wir Premier- und Außenminister – die ja leider nicht zu den Spitzenpädagogen des Kontinents gehören – streiten nur über Institutionelles, über die Stärke der Kommission und die Stimmengewichte im Rat. Das Inhaltliche bleibt auf der Strecke. Niemand redet beispielsweise darüber, wie die Italiener die Gemeinsame Innen- und Justizpolitik abschwächen wollen.

zeit: Und gleichzeitig wächst die Gruppe der Politiker, die immer weniger von der EU und einer weiteren Integration halten. Wie erklären Sie das?

Jean-Claude Juncker: Es ist einfach, Schlagzeilen mit dem polnischen Slogan "für Nizza sterben" zu machen. Es ist schwierig, mit einer Debatte über die Verfassungsartikel zur Europäischen Staatsanwaltschaft oder den Kampf gegen die grenzüberschreitende Kriminalität zu punkten.

Zudem befindet sich Europa in einem postemotionalen Stadium. Bei früheren Vertragsverhandlungen saßen Politiker am Tisch, die den Krieg selbst erlebt hatten oder der Kriegsgeneration verbunden waren. Dazu gehörte beispielsweise Helmut Kohl. Der konnte dieses europäische Erbe gut artikulieren. Heute fällt so etwas aber auf keinen fruchtbaren Boden mehr. Das Bedürfnis nach Einigung schwindet. Deswegen sorge ich mich ja so, dass wir diese Themen der nächsten Generation ungelöst hinterlassen. Die schafft das einfach nicht mehr.

zeit: Müssten Sie und Ihre "jungen" Kollegen nicht einfach bessere und neue Argumente finden, um Europa wieder interessanter zu machen?

Jean-Claude Juncker: Natürlich müssen wir Europa immer wieder neu begründen. Aber ich wehre mich dagegen, dass man die eigentliche Begründung schon fast nicht mehr erwähnen kann, ohne in den Kreis der ewig Romantisierenden eingewiesen zu werden. Die ewige europäische Frage wird immer die von Krieg und Frieden sein – auch wenn wir das heute gern vergessen. Wir könnten das wieder merken, wenn wir jetzt, beim Bau der EU, nicht aufpassen.

zeit: Sie gelten als Europa-Enthusiast. Und Sie fallen als Chef eines kleinen Landes aus dem Schema, denn Sie halten hin und wieder zu den Großen – beispielsweise beim Stabilitätspakt. Warum?

Jean-Claude Juncker: Wir sind schließlich ein Gross-Herzogtum. Im Ernst: Ich finde die Debatte über Groß und Klein unsäglich – in beiden Lagern. In Deutschland muss man der Öffentlichkeit anscheinend immer wieder sagen, dass man doch größer ist als die anderen.

Und bei den Kleinen hat sich die Meinung durchgesetzt, man müsse sich dagegen wehren. Dort führen die Regierungen dem heimischen Publikum gern vor, wie man die Großen abwatscht. Da kommen Deutschland und Frankreich wie gerufen. Mir wollen da zu viele vor der heimlichen Kulisse brillieren.

Beim Stabilitätspakt habe ich aus ökonomischen Gründen mit Deutschland und Frankreich gestimmt. Sanktionen wären zum jetzigen Zeitpunkt falsch gewesen. Mein zweiter Gedanke war aber, das absurde Schattenboxen der Kleinen gegen die Großen zu durchkreuzen.

zeit: In der Verfassungsdebatte stehen die Großen bei der Frage, wer künftig wie viele Stimmen bekommen soll, ziemlich allein da.

Jean-Claude Juncker: Logik ist leider keine politische Kategorie. Natürlich nützt die Lösung des Konvents Deutschland. Aber die doppelte Mehrheit, die der Konvent in seinem Verfassungsentwurf verlangt, ist auch für kleine Länder gut. Jedes Land soll bei einer Abstimmung zunächst eine Stimme haben. Dann wird im zweiten Schritt demografisch gewichtet – immer noch mit Rücksicht auf die Kleinen. Ich finde das sehr gut.

zeit: Die Polen und die Spanier aber nicht.

Jean-Claude Juncker: Die Spanier litten lange darunter, nicht zu den vier großen Ländern aufschließen zu können. In Nizza haben sie es dann fast geschafft. Seither denken sie, sie würden als große Macht wahrgenommen. Die polnische Regierung hat dieses Argument sogar zum zentralen Argument in ihrem Referendum über den Beitritt gemacht. Für sie ist es schwierig, wenn sie jetzt plötzlich erklären muss, warum ihr der Konvent das wieder wegnehmen will. Ich kann das verstehen. Das bedeutet aber nicht, dass ich die polnische Position gutheiße.

zeit: Sehen Sie für den polnischen Premier Miller noch einen Ausweg, oder wird die Verfassung an seinem Veto scheitern?

Jean-Claude Juncker: Als Altgedienter rate ich, sich bei substaniellen europäischen Fragen nie so auf Einzelheiten fest zu legen, wie Miller das getan hat. Natürlich passt auch mir im Konventstext einiges nicht. Aber es geht dabei doch um eine Verfassung, und die besteht aus so vielen Artikeln, Ambitionen und Träumen, dass man sie als Gesamtkunstwerk würdigen muss. Dabei darf man nie nur nationale Gesichtspunkte gelten lassen.

Außerdem steckt hinter der ganzen Debatte ein unsägliches Denkschema. Alle fragen immer nur: Was brauche ich, um in Europa etwas zu blockieren? Mich interessiert vielmehr: Was brauchen wir, um zu entscheiden?

zeit: Wie kommen Miller und seine Kollegen aus den anderen EU-Mitgliedsländern denn nun am Wochenende aus der Klemme?

Jean-Claude Juncker: Wir werden wahrscheinlich einen Kompromiss auf der Zeitachse finden. Beispielsweise könnten die neuen Stimmgewichte erst ab 2014 gelten. Ich bin jedenfalls entschieden dagegen, die Entscheidung darüber auf das Jahr 2009 zu verschieben – wie die Briten es jetzt vorschlagen. Wir können doch dem Bürger nicht erklären, dass er bald eine Verfassung bekommt, dann aber die entscheidende Frage vertagen. Also müssen wir die Regeln für später jetzt schon festlegen.

zeit: Wenn alles scheitert, bekommen wir dann eine Neugründung, ein Kerneuropa – beispielsweise aus Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Belgien?

Jean-Claude Juncker: Ich schließe das nicht aus. Vielleicht steckt der Karren irgendwann so fest, dass ein paar von uns allein weitermachen müssen. Wer aber schon heute mit einer solchen Drohung in die Verhandlungen geht, hilft nur denjenigen, die die EU sowieso zu gerne nur als großes Benefizkonzert sähen.

Es gibt nun mal sechs Gründungsmitglieder, die einst das ganze Risiko eingegangen sind und die wissen, worum es bei der kontinentalen Sache geht. Alle anderen haben erst später mitgemacht, als sie sahen, wie gut das Ganze funktioniert – wobei ich das explizit nicht als Vorwurf an die Neumitglieder meine. Wer aber wie die Briten und Spanier schon länger dabei ist und bislang wenig für Europa getan hat, sollte diese Neuhinzugekommenen nicht dauernd mit seinem halbfertigen Wissen belasten.

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