Premierminister Jean-Claude Juncker über den Verfassungsgipfel von Brüssel

Christine Heuer: Die Europäische Union in der Krise: Nach dem gescheiterten Verfassungsgipfel weiß keiner so recht, wie es im Europa der 25 weitergehen soll. Im Streit über die doppelte Mehrheit bei künftigen Abstimmungen scheinen die Fronten verhärtet. Namentlich Polen beharrt auf dem Vertrag von Nizza, der den kleinen Mitgliedsstaaten fast so viele Stimmen zusichert wie den großen. Vor allem Deutschland und Frankreich wollen dagegen die doppelte Mehrheit, wie sie im Verfassungsentwurf für die EU vorgeschlagen wird. Dadurch würde auch die Bevölkerungsgröße der Mitglieder stark ins Gewicht fallen. Wir sind jetzt verbunden mit dem Premier- und Finanzminister eines ziemlich kleinen Staates, nämlich Luxemburgs, und mit einem ganz großen Europäer. Guten Morgen, Jean-Claude Juncker.

Jean-Claude Juncker: Guten Morgen.

Frankreich und Deutschland reden nach dem Scheitern von Brüssel wieder laut über ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Kommt jetzt Kerneuropa?

Jean-Claude Juncker: Kerneuropa, Europa der zwei Geschwindigkeiten, Europa der variablen Geometrie sind keine Ziele an sich, nichts, was man anstreben sollte, sondern können, wenn es nicht anders geht, Konsequenz sein. Eine Konsequenz, die sich aus dem Weigern einiger ergibt, auf der europäischen Autobahn weiter zu fahren, von der gemeinsam festgelegten Streckenführung abzuweichen. Wenn sich dies herausstellen sollte, dass unsere Ambitionen für das Europa der nächsten 30 Jahre nicht mehr von allen geteilt werden, ja, dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig als uns zu überlegen, wie wir in einer fester zusammengefügten Kerntruppe integrationsweiterführende Schritte unternehmen können.

Wen meinen Sie, wer ist da nicht mehr auf der Autobahn?

Jean-Claude Juncker: Also, ich weiß nicht, wer nicht mehr auf der Autobahn ist, aber ich würde gerne feststellen, ob die, die jetzt in der Europäischen Union sind, am gemeinsamen Ziel, nämlich die europäische Integration so zu vertiefen, dass wir besser zusammen leben und dass wir auf der internationalen Bühne deutlicher zur Kenntnis genommen werden und wahrgenommen werden, ob alle an diesem Ziel festhalten. Man hatte während der Regierungskonferenz manchmal den Eindruck, dass es einige gibt, denen das Weitermachen in Fragen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik schwer fällt, dass es einige gibt, die bei Justiz und inneren Angelegenheiten, dem Kampf gegen das grenzüberschreitende internationale Verbrechen lernen. Man hatte den Eindruck, dass dort, wo es also mehr um ein stärker sozial ausgeprägtes Europa geht, einige Schwierigkeiten haben. Darüber muss man jetzt nachdenken. Europa steckt jetzt in der Krise. Man kann das schön reden, dazu fehlt mir die Zeit und die Lust. Wir sind in einer Krise und wie so oft schon wird es hoffentlich so sein, dass nach der Krise wieder der Erfolg kommt, dass wir wieder besser wissen, wieso wir Europa brauchen und wie wir Europa gestalten sollen. Darüber wird jetzt einige Monate lang nachzudenken sein.

Herr Juncker, angenommen, Kerneuropa kommt, wer sollte dann daran teilhaben?

Jean-Claude Juncker: Also, ich kann mir Kerneuropa schlecht vorstellen ohne die sechs Gründungsmitglieder. Dies wäre ein ungenügendes Zur-Kenntnis-nehmen der geschichtlichen Entwicklung seit dem zweiten Weltkrieg. Und dann denke ich, dass auch einige neue Mitglieder dabei sein müssen, jene nämlich, die am 1. Mai 2004 hinzu stoßen. Auch im Kreise dieser so genannten neuen EU-Mitgliedsstaaten gilt das ohne jeden Zweifel, das zeigen auch meine Gespräche. Jene, die etwas forscher zu Gange und zu Werke gingen und auch die wird man an einer derartigen Kerntruppe beteiligen müssen, von der ich sage, dass es kein Fehler an sich ist. Wir streben das nicht an. Wir müssen nur ab einem bestimmten Moment, an dem festgestellt worden ist, nicht alle wollen das, was wir uns eigentlich unter Europa vorstellten, dann erst wollen wir diese Entscheidung ernsthaft ins Auge fassen. Nicht sofort, zuerst nachdenken, jeder in seiner Hauptstadt, dann gemeinsames Nachdenken und dann Eintreten in ein derartiges Kerneuropa, wenn es dann wirklich nicht anders geht.

Welche Beitrittsstaaten erleben Sie selbst denn als besonders forsch?

Jean-Claude Juncker: Also, ich erlebe Ungarn, ich erlebe die tschechische Republik, ich erlebe Slowenien doch als neue EU-Mitgliedsstaaten, die an diesen weiterführenden europäischen Ambitionen, Träumen, Vorstellungen, Ideen, Visionen manchmal teilnehmen müssen. Ich hatte intensive Gespräche mit Ungarn und mit dem tschechischen Premierminister, auch mit anderen und die haben mir gezeigt, was ich aber vorher schon wusste, dass hier Interesse an einer gemeinsamen Streckenführung besteht.

Wie könnte den Kerneuropa praktisch überhaupt funktionieren? Machen die einen dann nur bei der Wirtschaft mit und die anderen entwickeln auch eine gemeinsame Politik nach innen wie nach außen?

Jean-Claude Juncker: Also, man kann das so theoretisch nicht festlegen. Und dass viele jetzt reden über Kerneuropa, ergibt ja auch den Eindruck, als ob wir sonst nichts im Kopf hätten als unbedingt Kerneuropa zu wollen. Ich sage noch einmal, das ist nicht das Ziel. Nur dass die Konsequenz des Abweichens anderer und dann wird man, falls es dazu käme, soweit sind wir noch nicht, sich gemeinsam überlegen müssen, welche politischen Schritte in welchen Bereichen unternommen werden müssen. Ich hielte das für völlig verfehlt, jetzt im Vorfeld der Erörterung einer halbfertige, von niemandem ernsthaft als Zielsetzung angestrebten Idee schon die Detailmöblierung dieses Gedankens zu einem öffentlichen Thema zu machen.

Gut, wenn das Ziel nach wie vor heißt eine gemeinsame Verfassung für die Europäische Union, wann muss sich die Europäische Union dann darauf geeinigt haben, schon 2004 oder erst später? Die Polen zum Beispiel halten es ja auch für einen denkbaren Weg, sich erst bis 2009 geeinigt zu haben.

Jean-Claude Juncker: Also, ich bin der Meinung, dass wir jetzt eine Denkpause brauchen, das tut uns allen gut. Wir sind jetzt mit dem Kopf gegen die Wand gerannt, liegen ein bisschen betäubt am Boden und jetzt müssen wir uns aufrappeln und uns wieder die Hand geben, um zu versuchen, gemeinsam über die Mauer zu kommen. Da wird Polen ohne jeden Zweifel einen großen Beitrag zu leisten haben, aber weil die Konferenz ja nicht nur an dem Thema gescheitert ist, Stimmengewichtung im Rat, sondern an vielen Detailfragen. Weil alte und neue und untern den alten, sehr alt und weniger alt, nicht einer Meinung waren, wird man die Gesamtmaterie wieder besuchen müssen, um heraus zu finden, wo denn die Knackpunkt sind und wie wir diese Knackpunkte überwinden können. Nun denkt ja jeder ein bisschen anders schnell als der andere. Die einen denken schnell, die anderen denken langsamer. Wenn wir alle uns mit dem Scheitern des Gipfels noch einmal abwägend beschäftigt haben, dann sind wir, denke ich, in der Jahrephase 2004 angelangt und dann wird es wohl auf Grund irischer Vorarbeiten, der irischen Präsidentschaftssache, der niederländischen Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2004 sein, die Verfassungsdebatte so zu führen, dass wir vor Ende 2004 abgeschlossen haben, aber in Terminen möchte ich mich nicht einsperren lassen, das ist der frühestmögliche Zeitpunkt.

Luxemburg, Herr Junker, übernimmt die Ratspräsidentschaft 2005, da könnten Sie durchaus noch eine entscheidende Rolle spielen.

Jean-Claude Juncker: Ich kann das nicht ausschließen, aber auch dies ist kein absolut erstrebenswertes Ziel.

Jean-Claude Junker, der luxemburgische Premier- und Finanzminister, danke Ihnen für das Gespräch, Herr Junker.

Jean-Claude Juncker: Danke.

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