Kerneuropa darf nie ein Ziel sein. Der Premierminister über die Zukunft der europäischen Verfassung

Saarbrücker Zeitung: Vor dem gescheiterten Verfassungs-Gipfel hieß es: Europa funktioniert nur mit einer neuen Verfassung. Bedeutet das, dass Europa jetzt in einer ernsten Krise steckt?

Jean-Claude Juncker: Nein, aber wir erleben eine kritische Situation. Wir werden jetzt einen zweiten Anlauf nehmen, um doch noch eine neue Verfassung zu verabschieden. Und jeder sollte wissen: Ein zweites Scheitern können wir uns nicht erlauben.

Saarbrücker Zeitung: Alle Hoffnungen ruhen dabei auf der irischen Ratspräsidentschaft. Was machen die Iren besser als die Italiener, von denen sie die Präsidentschaft übernommen haben?

Jean-Claude Juncker: Die Iren sind sehr bodenständige Menschen, die nicht nur durch große Ankündigungen glänzen. Wie alle kleinen Länder hat auch Irland größere Ohren als die großen Länder: Sie hören zu, wägen ab und verhandeln – das ist ein guter Weg.

Saarbrücker Zeitung: Aber ist die Lage nicht wesentlich ernster, als Sie es jetzt darstellen? Tatsache ist doch, dass es neben den besonders strittigen Abstimmungsregeln im Ministerrat viele weitere ungelöste Fragen gibt.

Jean-Claude Juncker: Das stimmt. Wer das Gegenteil behauptet, täuscht die Öffentlichkeit. Es gibt noch eine Reihe ungelöster Fragen, sollen wir zum Beispiel in puncto Finanzvorschau einstimmig oder mit Mehrheit entscheiden? Vieles ist auch beim Kampf gegen das grenzüberschreitende Verbrechen, bei der Außenpolitik und der Zuwanderung völlig unklar.

Saarbrücker Zeitung: Aber Sie und Ihre Kollegen hatten und haben doch ausreichend Gelegenheiten, diese Probleme zu lösen?

Jean-Claude Juncker: Diese Fragen standen im Kreis der Staats- und Regierungschefs noch nie auf der Tagesordnung...

Saarbrücker Zeitung: ... was eine schnelle Verabschiedung der Verfassung nicht gerade wahrscheinlicher macht.

Jean-Claude Juncker: Ja, das stimmt. Nur wenn sich wirklich alle bewegen, werden wir das Ziel der Verfassung schaffen.

Saarbrücker Zeitung: Sonst wird Europa in alte Allianzen zerfallen, in ein Kerneuropa mit dem Rest drumherum?

Jean-Claude Juncker: Kerneuropa darf nie ein Ziel, könnte aber eine logische Konsequenz sein. Was ich mir wünsche, ist ein Kerneuropa der 25 Staaten. Meine Sorge ist, dass es andernfalls verschiedene Kerne geben könnte. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Denn die Großen in Europa sind gar nicht so groß, wie sie denken. Und die Kleinen sollten nicht so tun, als seien sie größer als die Großen. Sie sollten souveräner sein und nicht jedes bi- oder trilaterale Gespräche mit soviel Argwohn betrachten. Ich habe großes Verständnis dafür, dass es unter Briten, Franzosen und Deutschen bei der geplanten europäischen Verteidigungspolitik einen erhöhten Abstimmungsbedarf gibt. Mir ist es jedenfalls sehr recht, dass sich die Herren Blair, Chirac und Schröder vor den Gipfeltreffen einigen und uns allen damit sehr viel Zeit ersparen: Das machen die eigentlich nur aus Rücksicht auf uns kleine Staaten.

Saarbrücker Zeitung: In diesem Jahr fällt die Entscheidung, ob die EU Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnimmt. Sind Sie dafür?

Jean-Claude Juncker: Wenn die Türkei die EU-Kriterien erfüllt, gibt es aufgrund der Vorgespräche, die seit 1963 laufen, keinen Grund, die Aufnahme von Gesprächen zu verweigern. Ich schließe aber nicht aus, dass man nach möglichen Verhandlungen zu dem Schluss kommt, dass der Beitritt nicht möglich ist. Dann müsste man über ein besonders intimes Verhältnis der EU zur Türkei nachdenken. Es handelt sich also um einen ergebnisoffenen Prozess.

Saarbrücker Zeitung: Die EU als ein "West-Club" erweitert sich um zehn mittel- und osteuropäische Staaten. Wird sich das innereuropäische Klima dadurch verändern?

Jean-Claude Juncker: Ohne jeden Zweifel. Mein vorläufiger Eindruck ist, dass fast alle Neuen in der EU einen vornehmlich ökonomischen Club sehen. Sie haben sich noch nicht ausreichend klar gemacht, dass das europäische Projekt mehr bedeutet – in der Außen-, in der Verteidigungs- und Sozialpolitik. Sie glauben: Für die Sicherheit ist die Nato, für die Wirtschaft die EU zuständig. Das ist aus ihrer historischen Erfahrung zwar verständlich, aber es ist zu kurz gegriffen.

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