Jean-Claude Juncker: "Die EU ist ein disziplinierendes Korsett". Der luxemburgische Premierminister über die EU-Erweiterung

Frankfurter Rundschau: Das Projekt Europa ist ins Gerede gekommen. Verfassungskrise, hohe Arbeitslosigkeit, das Gerangel um den Stabilitätspakt, Uneinigkeit unter den EU-Mitgliedern und Störfeuer aus den Reihen der Beitrittskandidaten tragen nicht gerade zu einer positiven Grundstimmung bei den Bürgern bei. Mit welchen Argumenten würden Sie vor allem bei jüngeren Menschen für die Vorteile eines vereinten Europas werben?

Jean-Claude Juncker: Mir gefällt einiges nicht, was in Europa passiert. Die Vorteile eines vereinten Europas liegen aber auf der Hand, wenn man sich an die Zeit unserer Väter und Mütter zurückbesinnt. Im Unterschied zu den nachfolgenden Generationen war Frieden für sie nicht selbstverständlich. Sie hatten gerade den Krieg hinter sich und wohnten in zerbombten Städten und Dörfern. Als Konsequenz daraus haben unsere Eltern und Großeltern entschieden, die europäische Integration voranzutreiben. Und davon profitieren wir heute erheblich. Konflikte zwischen Staaten werden geordneter ausgetragen. Die Europäische Union ist ein disziplinierendes Korsett. Gäbe es die Europäische Union mit heute 15, demnächst 25 und künftig einmal 30 Mitgliedern nicht, würde jeder Staat versuchen, auf Kosten des Nachbarn Politik zu machen.

Die Osterweiterung der EU um zunächst zehn Staaten steht im Mai bevor. Die Skepsis gegenüber diesem Projekt wächst. Viele Arbeitnehmer in der heutigen Europäischen Union fürchten die künftige Niedriglohnkonkurrenz aus den Beitrittländern. Was bringt die Erweiterung den Bürgern?

Jean-Claude Juncker: Wenn die Menschen in Ost- und Mitteleuropa nach dem Niedergang des Kommunismus auf Dauer ärmer bleiben würden als jene im Westen, hätte das verheerende Folgen für die Stabilität des gesamten Kontinents. Europa ist auch eine solidarische Veranstaltung. Wir haben die Pflicht, nicht nur für uns selbst zu sorgen, sondern ebenso für die Menschen in Ost- und Mitteleuropa. Viele Ängste, seien es objektive oder geschürte Ängste, halte ich im Übrigen für sachlich unbegründet.

Zum Beispiel?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube nicht, dass nach der Erweiterung die Menschen aus Osteuropa in Scharen auf die westlichen Arbeitsmärkte strömen werden. Bevor ein polnischer Arbeiter, der nur der polnischen Sprache mächtig ist, seine gewohnte Umgebung verlässt, um in Niedersachsen oder im Saarland in einem völlig unbekannten Umfeld eine Stelle anzunehmen, muss viel passieren. Den Massenansturm, den manche prophezeien, wird es nicht geben.

Warum sind Sie sich da so sicher?

Jean-Claude Juncker: Das hat zum Beispiel die Erfahrung in Luxemburg gezeigt. Vor dem Beitritt Portugals zur EU waren in Luxemburg 15 Prozent der gesamten Bevölkerung Portugiesen. Als Portugal 1986 Mitglied der Europäischen Union wurde, fürchteten viele, dass nun zusätzlich zehntausende portugiesische Arbeitnehmer nach Luxemburg strömen würden. Deshalb habe ich damals als Arbeitsminister eine Übergangsfrist von zehn Jahren für die Freizügigkeit von Arbeitnehmern ausgehandelt. Nach fünf Jahren habe ich diese Regelung aufgehoben, da viel weniger Portugiesen nach Luxemburg kamen als vor dem EU-Beitritt des südeuropäischen Landes. Denn mit der EU-Mitgliedschaft keimten neue Hoffnungen, das Land erhielt Transferzahlungen und langsam aber sicher wuchs auch in Portugal der Wohlstand. Das wird in Mittel- und Osteuropa ebenfalls geschehen. Es wird allerdings wesentlich länger dauern.

Mit der Osterweiterung entsteht ein einheitlicher Wirtschafts- und Rechtsraum. Wie kann verhindert werden, dass Unternehmen das soziale Gefälle in der EU dann noch stärker ausnutzen?

Jean-Claude Juncker: Der europäische Binnenmarkt und die Europäische Währungsunion haben eine Schwachstelle. Es wurde bislang viel zu wenig in der Sozialpolitik getan.

Woran hapert es?

Jean-Claude Juncker: Wir brauchen soziale Mindeststandards im Arbeitsrecht, zum Beispiel beim Kündigungsschutz. Diese Normen sollten EU-weit verbindlich gelten und dürften von keiner nationalen Regierung unterlaufen werden. Es geht nicht an, dass Wettbewerbsnachteile einfach durch den Abbau arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen beseitigt werden können.

In vielen Ländern auch mit sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung zeigt der Trend eher in die andere Richtung...

Jean-Claude Juncker: Dass sozialdemokratisch und sozialistisch geführte Regierungen in der Wirtschaftspolitik und im Arbeitsrecht oft das Gegenteil dessen tun, was sie vor den Wahlen angekündigt haben, ist ja nicht unbedingt etwas Neues.

Wie sozial ist Deutschland noch?

Jean-Claude Juncker: Auch in Deutschland muss einiges grundlegend reformiert werden. Die deutsche Politik hat dies auch vor, und es gibt einige ernst zu nehmende Ansätze. Ich kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass einige dabei sind, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ich bezweifele zum Beispiel, dass es richtig ist, den individuellen Kündigungsschutz so stark zu beschneiden, wie es offensichtlich die gesamte deutsche Politik am liebsten tun würde. Das Arbeitsrecht wurde erfunden, um Beschäftigte zu schützen. Wer den Menschen die nötige Sicherheit nimmt, um in Ruhe produktiv arbeiten zu können, kann sich nicht in deren Lage versetzen. Zum Beispiel in die eines Schichtarbeiters, dessen zwei Kinder auf die Universität gehen, und der bei einem zeitlich befristeten Vertrag fürchten muss, eventuell nach sechs Monaten seinen Job zu verlieren.

Die europäische Verfassung ist zunächst gescheitert. Sollte auch in nächster Zeit keine Einigung zu Stande kommen, ist ein Kerneuropa dann die Alternative?

Jean-Claude Juncker: Niemand darf die Verhandlungen über die europäische Verfassung in den nächsten Monaten so führen, dass als Ergebnis nur ein Kerneuropa übrig bleibt. Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten wäre aber die logische Konsequenz, falls die EU-Mitglieder sich in zwei Lager spalten würden: Eines, das die europäische Integration vorantreiben möchte, sowie ein anderes, das ein solidarischeres Europa ablehnt und damit eigentlich weniger Europa will.

Wer müsste denn Ihrer Meinung nach einem Kerneuropa angehören?

Jean-Claude Juncker: Ich kann mir ein Kerneuropa ohne die sechs EU-Gründerstaaten Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg nicht vorstellen. Ich hielte es aber für verheerend, wenn nicht auch neue Mitglieder wie etwa Ungarn, Tschechien oder Slowenien, die am 1. Mai der Europäischen Union beitreten, mit dabei wären. Ein solches Kerneuropa würde die Spaltung bedeuten.

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