Ökosteuern sind nicht machbar. Interview mit Premier- und Finanzminister Jean-Claude Juncker über die Möglichkeiten einer ökologischen Steuerreform

forum: Man hat uns gesagt für ein Interview über ökologische Steuerreform hätten Sie im Augenblick keine Zeit.

Jean-Claude Juncker: Das ist richtig. Ich habe derzeit andere Sorgen als die ökologische Steuerreform. Dieses Dossier ist nicht von der Stelle gekommen und ich habe es vor vier Monaten von meiner Tagesordnung gestrichen. Wenn es um Steuer geht, hat das auch mit Zahlen zu tun – was leider nicht häufig genug geschieht in dieser Debatte – und ich müsste mich während etlichen Stunden in die Materie vertiefen, um mich wieder über die wahren Zahlen kundig zu machen. Das ist im Augenblick nicht möglich.

Das bedeutet: Die Koalition hat dieses Vorhaben nicht verwirklicht. Denn eine derartige Steuerreform war ja im Koalitionsprogramm vorgesehen.

Jean-Claude Juncker: Das steht nicht in dieser globalen Formulierung da, von der ich auch schon im Radio gehört habe. Es hat keine Partei – das Mouvement Ecologique ist quasi keine Partei – einen umfassend ausgearbeiteten Entwurf zur ökologischen Steuerreform. Es ist dies mehr eine Vokabel als ein Konzept, die mehr eine Atmosphäre als einen Inhalt beschreibt. Keine Regierung in Europa hat ein solches Konzept. Man spricht zwar von Ökosteuern in Deutschland, aber mir fällt auf Anhieb kein Element der deutschen Steuergesetzgebung ein, das die Bezeichnung ökologisch verdienen würde oder das ökologischer Natur wäre, das wir nicht auch bei uns haben. Darum plädiere ich für einen behutsamen Umgang mit der Vokabel der ökologischen Steuerreform.

Und wann kommt sie dann?

Jean-Claude Juncker: Sie ist da. Unsere Steuerlandschaft ist so ökologisch wie die rot-grüne Steuerlandschaft in Deutschland, bei der Regierung der ökologischen Erneuerung.

Das ist zwar keine Entschuldigung.

Jean-Claude Juncker: Das ist keine Entschuldigung. Es ist eine Sache, mit der ich mich schon oft beschäftigt habe, auch schon vor fünfzehn Jahren, als der Gedanke noch nicht in Mode war. Wir haben Elemente in unsere Steuergesetzgebung eingeführt, die in Deutschland als große grüne Revolutionen gefeiert wurden. Dazu gehört die Kilometerpauschale, die man bekommt, ob man mit dem Zug fährt, zu Fuß geht oder mit dem Fahrrad kommt und dabei keine Kosten hat. Das ist ein großer Schlager in der deutschen sogenannten ökologischen Steuerreform gewesen. Wir haben auch bei der Betriebsbesteuerung eine ganze Reihe von Maßnahmen, durch die steuerstützend eingegriffen wird für ökologische Investitionen.

Aber wir bekommen einige Sachen einfach nicht auf die Reihe. Würden wir die Reform durchziehen, unter der Hypothese, dass wir wüssten, was im Detail zu tun wäre, ist sie in den Übergängen nicht finanzierbar. Das wäre eine radikaler Bruch mit dem, was hier in allen europäischen Ländern besteht. Um den totalen Switch zu machen, das heißt, um die Veränderung herbeizuführen, ohne dass es zu Finanzengpässen kommt, diesen Knackpunkt gibt es, und den habe ich nie wegsprengen können. Das erklärt, weshalb ich als Finanzminister ganz vorsichtig in dieser Sache bin. Wir nehmen kleine Schritte, die man im Nachhinein etwas selbstgerecht in Zusammenhang mit der ökologischen Dimension der Steuern bringen könnte. Doch wenn ich ehrlich bin, handelt es sich hier um ein ökologisches Sammelsurium, das man nachträglich zum Konzept macht. Wir haben einen Teileinstieg vollzogen in die ökologische Finanzierung der Folgekosten der Arbeitslosigkeit. Wir haben einen höheren Ökosteueranteil auf dem Mineralöl als in Deutschland.

Aber hier geht es ja mehr darum ein Loch zu stopfen, als dass damit...

Jean-Claude Juncker: Und was war es denn in Deutschland? Wenn man über die Abgaben der Bürger in einem Land spricht und die Notwendigkeit der Budgetfinanzierung besteht, muss man den ökologischen Ansatz, so schmal er auch ist, und die notwendige Finanzdeckung in einen Griff bekommen. Ich will ja nicht den Nobelpreis für ökologische Steuervarianten, während das Land zum Teufel geht.

Die Idee der ökologischen Steuerreform besteht doch darin, dass man einerseits die Belastung der Umwelt besteuert, um auf der anderen Seite bei den Steuern zurückzuschrauben, welche die Arbeit belasten.

Jean-Claude Juncker: Genau das haben wir getan bei der Finanzierung des Fonds pour l'emploi, und das bereits in den neunziger Jahren und letztes Jahr erneut.

Hier geht es weniger um den Fonds pour emploi als um das Niveau der Lohnnebenkosten.

Jean-Claude Juncker: Der Fonds pour l'emploi wird in Luxemburg über die Solidaritätssteuer finanziert. Das haben wir gemacht, weil wir gar keine Lohnnebenkosten für die Finanzierung des Beschäftigungsfonds verwenden, weil wir das über eine Steuer sozial gerechter organisieren wollten. Und die Solidaritätssteuer ersetzt faktisch eine Sozialabgabe. Würde man das anders machen, würde es zu einer höheren Belastung der Betriebe und der arbeitenden Menschen kommen: Es war also die gleiche Überlegung, die man in Deutschland angestellt hat, nämlich die Lohnnebenkosten in der Form von Rentenbeiträgen herabsetzen durch den Rückgriff auf die Mineralölsteuer oder Ökosteuer, wie das in Deutschland genannt werden darf, wie das in Luxemburg aber nicht einmal andeutungsweise so bezeichnet werden darf, obwohl es genau dasselbe ist.

Das zweite Element wäre, dass man das langfristig ankündigt und dann auch durchzieht. Das würde dann bedeuten, dass auch Betriebe anders investieren, weil sie wissen, dass der Preis für den Energieverbrauch im Lauf von zehn Jahren weiter ansteigen wird. Geht man aber ruckweise vor, entfällt dieses Planungselement.

Jean-Claude Juncker: Ich hätte gerne, dass neben der notwendigen Orientierung betrieblicher Investitionen, die ja, wenn sie ökologisch begründet sind, bei der Bemessungsgrundlage der Körperschaftssteuer berücksichtigt werden – was allerdings in grünen Kreisen nicht weiter zur Kenntnis genommen wird; das ist auch etwas kompliziert – ein ganzheitlicher Ansatz zum Tragen käme. Daran scheitert es aber bei mir und bei anderen Protagonisten. Ich möchte halt, dass man die Folgen stets mitbedenkt, auch bei ökologischen Reformen, die ich prinzipiell begrüßen würde, da ich spontan alles sympathisch finde, was ökologisch motiviert ist. Auch finde ich den analytischen Ansatz richtig, dass man bezüglich der Besteuerung der Ressourcen so vorgehen muss. Wir führen diese Diskussionen oft im Kreis der europäischen Finanzminister, wo wir im Zusammenhang mit einer auf mehr Nachhaltigkeit abgestellten Wachstumsentwicklung auch viele Konzepte einer ökologischen Steuerreform diskutieren. Aber es kommt keiner voran, auch jene Kollegen nicht, die keine Lohn-Preis-Bindung haben, weil eine ökologische Steuerreform in allen Varianten kurzfristig – ich spreche nicht von der langfristigen Ausführung, die ich mir positiv vorstellen könnte -eine Belastung der sozial Schwachen bedeutet. All jene, die das mit einer großen Geste vom Tisch fegen wollen, müssen es ja nicht da draußen vertreten. Sie müssen nie mit den Konsequenzen leben, haben ihr gutes Gewissen und die Sonne für sich. Das ist der Unterschied zwischen denen, die Entscheidungen treffen und sie erklären müssen, und jenen, die leicht Nachbesserungen fordern können.

Können Sie das ausführen, wie das die sozial Schwachen treffen soll?

Jean-Claude Juncker: Jeder Mensch weiß, dass aus dem Plan, wie er vom Mouvement Ecologique und dem Kölner Doktor entwickelt wurde, nichts werden kann, wenn man den Index (die automatische Lohn-Preis-Bindung) beibehält. Das geht nicht. Man nenne mir eine Luxemburger Gewerkschaft, die für eine ökologische Steuerreform wäre. Keine ist dafür. Sind deswegen die Gewerkschaften unsensibel für den Umweltgedanken? Man bedenkt dort eben die Konsequenzen, die wir nicht im Griff haben. Es sei denn, wir beschließen eine maximale Besteuerung der Ölprodukte, nehmen diese dann aber aus der Preisindexberechnung heraus, wie wir das übrigens beim Steuerzuschlag zugunsten des Fonds pour l'emploi immer gemacht haben.

Dann könnte man so weitermachen.

Jean-Claude Juncker: Bitte keine Beleidigung! Wenn Sie den Benzinpreis um 15 Franken pro Liter steigen lasse, ist das etwas völlig anderes als wenn sie ihn um einen Franken verteuern. Es stellt sich ein globales Finanzierungsproblem, weil wir, wie andere Länder auch, mit unsern Nischen funktionieren müssen. Eine staatliche Einnahme aus dem Tanktourismus ist eigentlich nie systematisch gesucht worden. Die hat sich einfach ergeben durch die Entwicklung der umgebenden Preislandschaft. Doch die objektive Abhängigkeit gibt es.

Wir hängen objektiv nicht nur von der billigen Besteuerung des Benzins ab, wir hängen auch von der billigen Besteuerung der Arbeit ab, was es möglich macht, dass auch zu Zeiten der Wirtschaftskrise in Luxemburg noch Arbeit entsteht. Das bringt man nicht auf einen Nenner: die staatliche Mittelverknappung, die dann eintritt, wenn es diesen Schub in den Besteuerungselementen gibt, und die Mehrbelastung der Einkommensschwachen, die in Luxemburg annähernd die gleichen Lebensgewohnheiten wie die Wohlhabenderen haben. Ich bewundere all jene, die damit kein Problem haben. Ich bekomme das in meinem kleinen Kopf nicht zusammen, wie man das sozial gerecht machen kann und zugleich gewährleisten soll, dass die staatlichen Aufgaben finanziell korrekt bedient werden.

Ich habe mit Herrn Dr. Ewringmann lange Gespräche darüber geführt. Ich habe auch die feste Absicht die fortzusetzen, damit sich vielleicht doch klarere Ansätze zeigen, wie man das verwirklichen kann. Aber das ist keine einfache Sache. Was mich am Ruf nach einer ökologischen Steuerreform stört, ist, dass die sozialen Folgekosten davon nicht genügend beachtet werden. Es reicht nicht aus, wenn man sagt: Hier besteht ein Problem...

Das war auch bei uns die Frage. Wir wollten wissen, ob die Parteien für die Ökosteuer sind und wie sie diese sozial gerecht umsetzen möchten. Das war genau das Anliegen des forum-Dossiers.

Jean-Claude Juncker: Jeder wird sagen, man muss das eine machen und das andere auch. Aber ich weiß nicht, wie man es macht. Ich sage ja nicht, dass es nicht möglich ist. Ich sehe auch das Modell der Rückerstattung, den Ökobonus.

Der würde dann das ausgleichen, was durch Indexaussetzung ausfallen würde..

Jean-Claude Juncker: Wieviel Beamte brauchte man um das zu berechnend Beamte kosten Geld. Ich brauchte nicht fünfhundert, sondern zweitausend Beamte, damit die Besteuerung richtig, konsequent und zeitgerecht durchgeführt werden könnte. Soll ich denen jetzt auch den Ökobonus aufgeben?

Das ist also einfach aus verwaltungstechnischen Gründen nicht möglich?

Jean-Claude Juncker: Das sind nicht nur verwaltungstechnische Gründe. Wenn man den Ökobonus einführt, den ich für ein sehr intelligentes Modell halte – ich bin nicht prinzipiell gegen den Ansatz oder gegen die Umlage, die hier geplant ist – , dann wird aus der Steuerverwaltung eine Verwaltung, die nicht nur Gelder einzieht, sondern eine, die auch Gelder verteilt. Nun kann man sagen, dass jeder Mensch flexibel sein muss und sich umstellen kann, und die Steuerverwaltung würde das schon machen. Aber ich gebe Ihnen das schriftlich, dass die das nicht machen. Sie sollten einmal mit der Steuerverwaltung ein langes Gespräch über Negativsteuern führen, dann würden Sie merken, welche Probleme das dort aufwirft, was das Selbstverständnis der Leute und ihr Arbeitsverhalten anbelangt. Das bekommen sie so nicht hin.

Außerdem: den Umschwung, den man mit dem Ökobonus machen könnte, also einziehen und wieder zurückgeben, hätte man früher als eine unnötige Verkomplizierung des Lebens beschrieben. Da stellen sich dann auch große Probleme bei der distributiven Gerechtigkeit in der Umverteilung. Das führt in eine endlose Diskussion über Berechnungsmaxima. Das erleben wir ja heute schon beim RMG, bei den Wohnungsbeihilfen usw. In Luxemburg ist es nicht so, dass die Menschen sich mit einem System abfinden, das einmal da ist. Die nationale Stärke des Luxemburgers ist der Vergleich, was zu kollektiver Schwäche führt. Da vergleicht einer mit dem anderen: Ich erlebe das jetzt zum Beispiel bei der Mütterrente.

Kommen wir vielleicht zu einem anderen Thema. Ein Bereich, in dem die Regierung in meinen bescheidenen Augen große Verdienste hat, ist die Entwicklungspolitik. Und jetzt stellt man hinsichtlich der Umsetzung der Kyoto-Beschlüsse fest, dass die Entwicklungsländer vielleicht uns helfen müssen mit ihren CO2-Reserven, weil wir die CO2-Reduzierung nicht hinbekommen.

Jean-Claude Juncker: Ich finde die Feststellung richtig, dass die Initiative der Regierung im Bereich der Entwicklungspolitik konstant und zielorientiert ist. Bevor ich Budgetminister wurde, hatten wir 0,18 Prozent, inzwischen haben wir 0,84%. Ich halte das noch nicht für ausreichend. Ein Prozent sollte das Ziel sein, das wir ansteuern. Aber trotz Wirtschaftskrisen ist dieser Einsatz nie reduziert worden, obwohl die einzelnen Fachminister manchmal Zweifel hatten. Es war mein Bestreben hier mehr auszugeben, ein eher atypisches Verhalten für einen Finanzminister.

Zweitens: Die Kyoto-Problematik gehört zu meinen Enttäuschungen. Ich halte unsere Unfähigkeit, gesetzte Ziele einzuhalten, für ein kollektive Fehlleistung. Das beginnt schon bei der Festsetzung der Ziele, die geschah ohne über unsere Zukunftsentwicklung nachzudenken. Wenn man von einem 700 000 Einwohner-Staat spricht, wird man gesteinigt, statt dass die Leute ins Nachdenken kommen. Dabei ist die Unerreichbarkeit des Kyoto-Ziels auf ein Unterschätzen der Bevölkerungsexplosion und des demographischen Faktors mit allen Konsequenzen zurückzuführen. In Luxemburg beschäftigen wir uns nicht gerne mit Entwicklungen, die im Gang sind. Wir erdulden sie lieber, weil sich die Konsequenzen der Entwicklungen, die wir selbst lostreten, erst für die bilden, die nach uns kommen. So funktionieren die Europäer ganz oft.

Ansonsten: Niemand hat einen Weg aufgewiesen, wie man die CO2-Reduzierung von 28 Prozent im nationalen Alleingang hätte verwirklichen können, zumindest keinen, der nicht andere negative Auswirkungen gehabt hätte. Die Instrumente, die sowohl im Kyoto-Protokoll wie auch im europäischen Regelwerk stehen, habe ich auch ursprünglich als ein relativ unmoralisches Vorgehen angesehen. Ich habe mich überzeugen lassen, dass sie einen allgemein in Europa akzeptierten moralischen Ansatz zum Klimaschutz darstellen, indem nämlich in einer solidarischen Anstrengung zwischen dem weniger entwickelten Teil der Welt und unserem Teil der Welt beide Teile dazu beitragen, das globale Problem zu lösen. Ich hatte ganz lange meine Schwierigkeiten mit diesem Ansatz, denke aber inzwischen, dass er ein autorisiertes Mittel ist, um zu den Zielsetzungen zu kommen. Weil der Klimaschutz eine globale Aufgabe ist, ist es auch nicht abwegig zu versuchen, sich diese Aufgaben zu teilen. Ich habe immer gedacht, es sei kein Problem auf die 28 Prozent zu kommen. Ich war Staatsminister einer Regierung, die dabei kein Problem gesehen hat.

Es hat ja auch so ausgesehen.

Jean-Claude Juncker: Ich finde die nachträgliche Erklärung zum Teil rührend.

Kritiker haben von Anfang an gesagt, wenn nichts gemacht wird, können wir es nicht einhalten.

Jean-Claude Juncker: Ich höre immer auf meine Umweltminister. Es war nur leider so, dass wenn sie es fünf Jahre nicht mehr sind, dass sie dann zu besseren Einsichten kommen.

Es wird gesagt, es sei an der Machbarkeit gescheitert. In der Tripartite ist es nicht an der Machbarkeit gescheitert, sondern am Preis. Es kostet uns mehr, wenn man den Benzinpreis erhöht als wenn...

Jean-Claude Juncker: Warum darf nicht nach der Machbarkeit gefragt werden?

Nein, nein. Die Argumentationslinie in der Tripartite war nicht, dass es nicht machbar sei, sondern dass es zu teuer wird.

Jean-Claude Juncker: Es ist nicht machbar, weil es zu teuer ist! Benzin und alles, was damit zusammenhängt, das sind 40 Milliarden Luxemburger Franken. Da kann ich auch mit tränenerstickter Stimme sagen: Kyoto, Kyoto, Kyoto. Aber die 40 Milliarden sind weg. Ich sage nicht, alles muss auf alle Zeit so bleiben. Aber wir müssen Veränderungen nach und nach machen. Dann kommt man aber nicht im vorgeschriebenen Zeitraum zum Ziel. Und darum ist die Frage von der Machbarkeit und der Finanzierbarkeit ein und dieselbe.

Von diesem Nach-und-Nach ist allerdings noch nichts zu sehen.

Wir haben doch den Benzinpreis in den letzten zwei Jahren erhöht. Er liegt heute wesentlich höher als die europäischen Mindestsätze, die wir 1992 akzeptiert haben.

Die Abhängigkeit hat aber weiter zugenommen.

Jean-Claude Juncker: Was wollen Sie mir damit sagen? Der Luxemburger Staat, auch wenn ein grüner Finanzminister da wäre, der kann nicht von heute auf morgen auf 40 Milliarden verzichten. Er kann auf lange Sicht darauf verzichten, wenn er genügend Ersatz an Einkommensquellen hat, die das kompensieren können. Dann haben Sie allerdings höchstens der nationalen Selbstbefriedigung geholfen, aber das Problem nicht gelöst, denn das Benzin wird selbstverständlich trotzdem verbraucht. Es war ein abenteuerliches Vorgehen, das die Regierungen hatten, einen Preis zu bezahlen, ohne ein Problem zu lösen. Je mehr ich darüber nachdenke, um so gespenstischer kommt es mir vor. Der Benzinverbrauch ist konstant, egal wie hoch der Preis ist. Wenn hier nicht getankt wird, wird in Frankreich oder Belgien getankt und die Umweltbelastung ist genau dieselbe.

Das heißt die Preisgestaltung hat keinen erzieherischen Wert?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube, dass das insofern einen nationalen erzieherischen Wert hat, dass vielleicht Leute, die unnötig Sprit verbrauchen, ihr Konsumverhalten etwas einschränken. Im Ausland, wo die Preise erheblich höher sind, ist es zu keinem bleibenden Rückgang im Benzinverbrauch gekommen. Warum sollte das Verhalten der Autofahrer sich ausgerechnet in dem Land der Großregion ändern, wo die Gehälter am höchsten sind? Das ist aber kein Grund, das nicht zu machen. Auf allen Wahlveranstaltungen, die ich derzeit mache, kündige ich den Menschen steuerlich bedingte Benzinpreiserhöhungen an. Ich bin einfach der Meinung, dass die Umwelt als Ressource von uns durch die Steuerpolitik geschützt werden muss. Das ist bei uns noch nicht ausreichend der Fall. Ich mache mir nur keine Illusionen über die Wirkungen. Wenn wir eines Tages den selben Preis haben wie unsere Nachbarn, dann fahren die Luxemburger nach Trier tanken. Und dann wünsche ich mir, dass die Theoretiker der einfachen Dinge sich mit der Frage beschäftigen, wie es in einem europäischen Binnenmarkt möglich ist, dass die Anlieferung von Ölprodukten nach Luxemburg im Schnitt zwei Franken pro Liter teurer ist als nach Frankreich, Deutschland und Belgien. Die Tankstelle in Arlon wird für zwei Franken pro Liter billiger beliefert als die Tankstelle in Luxemburg. Das ist die Rotterdam-Diktatur, auf die wir keinen Einfluss haben.

Der Effekt kann aber doch nicht gleich null sein. Ich bin kein Anhänger vom Markt überall, aber der Markt spielt eine Rolle. Der Kraftfahrer weiß, dass er in Luxemburg billig tanken kann. Wenn Luxemburg als Tankoase weg wäre, müsste er anders kalkulieren.

Jean-Claude Juncker: Ob sie in Holland Diesel tanken oder in Luxemburg, ist der Umwelt ganz egal.

Aber der Straßentransport wird weniger wettbewerbsfähig in der Konkurrenz zur Schiene.

Jean-Claude Juncker: Das ist richtig. Man muss nur wissen, dass sich ganz andere Verteilungsstrukturen in Europa ausbreiten, dergestalt dass die großen Ölfirmen die LKW-Fahrer in Holland mittlerweile zum selben Preis beliefern, wie das in Luxemburg der Fall ist. Ich möchte nur sagen: Den Schlachtruf von der ökologischen Steuerreform mache ich mir, der ich mich mit den Details beschäftigt habe, vielleicht weniger zu eigen als diejenigen, die das Thema einfach so galoppieren lassen, als gäbe es keine Hürden. Die Hürden sind groß. Ich bleibe aber ein Anhänger des Ansatzes einer ökologischen Steuerreform. Das ist keine Frage. Ich möchte nur an ein paar Beispielen zeigen, dass das komplizierter ist. Wir können nicht großartig eine ökologische Steuerreform betreiben und nachher fehlen uns Milliarden. Dass das Thema in der Diskussion bleibt, geht völlig in Ordnung. Es wäre ja schlimm, wenn man wegen des sozialpolitischen Einwandes, den man momentan objektiv formulieren kann, das Thema ,ökologische Steuerreform' aus den Augen verlöre. Immer wenn man eine große Reform macht, hat man zuerst einmal die Gründe aufzuzeigen und dann zu überwinden, die dagegen sprechen. Ich sage ja nicht, dass wir in absehbarer Zeit nicht eine stärkere ökologische Dimension in unser kollektives Steuergebaren bekommen müssen. Ich will nur, dass jeder weiß, welche Probleme dabei zu lösen sind. In der nächsten Legislaturperiode wird eine Wasserabgabe eingeführt, die sicherstellt, dass in Luxemburg Wasser zum Gestehungspreis verkauft wird. Ich bin gespannt auf diese Debatte...

Ich möchte eine philosophischere Frage stellen. Sie haben gesagt: Kyoto ist nicht machbar, weil es zu teuer ist.

Jean-Claude Juncker: Nein. Der Preis, den wir zahlen müssen, um dieses Ziel zu erreichen, ist insofern zu hoch, weil er gar nicht zweckgebunden ist. Wir haben die Kyoto-Problematik nicht gelöst, wenn wir das machen.

Hier ist der Verbrauch pro Kopf höher als überall sonst auf der Welt. Wie soll das CO2 denn überhäuft reduziert werden, wenn die, die es im Durchschnitt am meisten ausstoßen, es schon nicht fertig bringen?

Jean-Claude Juncker:  Wo produzieren wir denn mehr als die anderen?

Beim Wohnen, beim Fahren ...

Jean-Claude Juncker: Das Fahren haben wir ausgeschieden.

Aber wir haben sehr viel mehr Autos pro Kopf.

Jean-Claude Juncker: Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Fahren Sie fort ... Hat das mit dem Fahren etwas zu tun oder mit der Tatsache, dass wir pro Kopf mehr Autos haben als die anderen?

Aber das ist ein Symptom dafür, dass mehr gefahren wird.

Jean-Claude Juncker: Der Kyoto-Verbrauch ist die Konsequenz eines Wohlstandsniveau, das die anderen nicht haben.

Aber wenn die Reichsten es nicht schaffen, den CO2-Verbrauch zu senken, wie soll es denn weltweit gehen?

Jean-Claude Juncker: Weltweit ist es schwierig, weil die ändern nicht so reich sind wie wir. Unsere Industrie hat große Anstrengungen unternommen. Wir haben uns der Illusion hingegeben, dass die Umstellung auf Elektrostahlwerke das Problem auf dem Selbstbereinigungsweg lösen werde. Trotzdem haben auch andere Industriezweige ernsthafte Anstrengungen unternommen. Im Bereich des Wohnungsbaus bauen wir nicht fundamental anders als die anderen Länder.

Aber größer ...

Jean-Claude Juncker: In Luxemburg bekommt man in dem Bereich alles durch, was zu 140 Prozent subventioniert wird. Im Ausland, wo die Leute weniger Einkommen haben, werden weniger Zuschüsse verteilt als in Luxemburg. Ich würde mich mal mehr mit diesen Themen beschäftigen. Wir sind eine Gesellschaft, die relativ reich ist, auch wenn es noch arme Leute gibt. Warum muss in einer solchen Gesellschaft der Staat dauernd mit Subventionsmechanismen eingreifen, um das durchzusetzen, was jeder will und forderte Ich verstehe das nicht. Ich habe nie verstanden, warum Leute Tonnen aufstellen, um Regenwasser zu sammeln, wenn sie Geld dafür bekommen. Und wenn sie kein Geld bekommen, dann machen sie das nicht mehr. Und in der nächste Umfrage sagen 95 Prozent der Menschen, die Umwelt sei eine wichtige Sache. Wieso benimmt man sich als Individuum ganz anderes als man es vom Kollektiv verlangte

Da kann man noch weiter philosophieren. Wenn man in der Logik denkt, dass alles seinen Preis hat, dann denkt man auch, all diese Dinge müssten auf diese Weise geregelt werden. Für mich ist das eine Frage der Werteerziehung.

Jean-Claude Juncker: Ja, aber Werteerziehung muss in Luxemburg staatlich unterstützt werden, damit sie wirkt. Ich bin schon der Meinung, dass schlummernde Werte hin und wieder eine Anschubfinanzierung brauchen, um ihnen Beine zu machen. Trotzdem ist es anormal, wenn das Einsammeln von Regenwasser aufhört, wenn die staatlichen Subventionen wegfallen. Es regnet doch noch immer.

Der Staat kann ja auch regulierend einwirken, indem er Dinge vorschreibt...

Jean-Claude Juncker: Das war immer mein Ansatz gewesen. In allen Regierungen, in denen ich war, hieß es: Das hätten die Leute gern, so soll es sein, also müssen wir das verlangen. So funktionieren wir hier im Land aber nicht. Die Leute hätten es gern, so soll es sein, also bezahlen wir es.

Zum Beispiel beim 3-Liter-Auto, für das die Subvention bald gestrichen wurde, gäbe es ja auch die Möglichkeit vorzuschreiben, welche Bedingungen ein Auto überhaupt erfüllen muss.

Jean-Claude Juncker: Aber nicht auf luxemburgischem Territorium. Wir können nicht vorschreiben, dass man auf der Drei-Kanton-Straße nur mit Drei-Liter-Autos fahren darf und ringsherum fahren sie, wie sie wollen.

Sie könnten aber die Besteuerung ändern.

Jean-Claude Juncker: Ja. Ich kann nicht ausschließen, dass es, was die Besteuerung über den Hubraum betrifft, in der nächsten Legislaturperiode zu Änderungen kommt. Wenn man über ökologische Steuerreform spricht, ist es ganz klar, dass es einer stärker abgestuften Kfz-Steuer bedarf. Die ist in Luxemburg ganz niedrig, und es verlangt auch keiner, dass sie verzwölffacht wird.

Wir sind gerade in der Diskussion finanzielle Mittel versus ordnungspolitische Maßnahmen. In dieser Hinsicht wird die nächste Regierung bei IVL gefordert sein. So wie der Text vorliegt, bestellt er nur aus Empfehlungen. Aber wie will man die auch durchziehen?

Jean-Claude Juncker: IVL enthält Stoff, mit dem in den nächsten Jahren eine starke Politik gemacht werden muss. Um das zu schaffen, brauchen wir eine breite nationale Debatte, an der sich nicht nur die Leute beteiligen, die institutioneil damit zu tun haben. Denn das IVL wird die Probe aufs Exempel, ob wir es schaffen, mit uns selbst in einem Maß zurecht zu kommen, dass die, die nach uns kommen, auch noch die Chance haben, mit sich zurecht zu kommen. Darum halte ich das für das zentrale Thema der Luxemburger Politik in den nächsten fünf bis zehn Jahren. Aber meine Angst diesbezüglich ist zweifach: Wenn man eine mutige Regierung hat – dies ist eine reine Arbeitshypothese -, kann man zu schnellen Entscheidungen kommen. Doch dann besteht ohne eine nationale Debatte die Gefahr, dass der Eindruck entsteht, die Regierung wolle das Land mit dem Schreckgespenst IVL überrumpeln.

Kommt es aber zu der breiten Debatte mit Interventionen von Gewerkschaften, Arbeitgebern, ONGs, Gemeinden, dann kommt man schwer von der Stelle. Man muss dann mit allen Beteiligten sprechen, über die ökonomische, soziale und kulturelle Organisation unseres Territoriums. So eine Debatte dauert lang. Wenn man sofort tut, was zu tun wäre, hätte man die Menschen nicht auf seiner Seite. Sucht man die breite Debatte, kommt es zu Verzögerungen bei der Umsetzungsgeschwindigkeit, so dass die nächste Regierung nicht über die Anfänge der Umsetzungsmodalitäten hinauskommen wird. Das ist ein regelrechtes Gestaltungsdilemma, dass man hier Methode und Rhythmus nicht zusammen bekommt.

Sind deswegen auch Schulreformen so problematisch in Luxemburg?

Jean-Claude Juncker: Ich habe mir eigentlich angewöhnt, über Schulreformen nicht viel zu reden, weil ja der Partei, aus der ich komme, systematisch zugute gehalten wird, dass sie davon nichts versteht.

In den Umfragen ist es eher umgekehrt...

Jean-Claude Juncker: Das interessiert mich nicht einmal am Rande. Ich stelle fest, dass CSV-Erziehungsminister, die wichtige und große Reformen gemacht haben, in einem Trommelfeuer der Kritik standen und dass jetzt andere sich damit plagen sollen. Das müssen auch die wissen, die die Musik in der Schule machen. Die, die wussten, wie man die Reform macht, die sollen sie machen.

Der Impakt der Schulpolitik ist aber doch extrem. Der Impakt auf die Integration der hier lebenden Allsländer, der Impakt auf die Arbeitslosigkeit, die Lücke, die klafft zwischen der Qualifikation und den neu geschaffenen Arbeitsplätzen ... Das sind Bereiche, bei denen Sie ausbaden müssen, was im Schulressort nicht geschieht.

Jean-Claude Juncker: Das ist die typisch segmentierte Annäherung an politische Verantwortung in Luxemburg. Es wird immer behauptet, die Schule sei Schuld an der Lage auf dem Arbeitsmarkt. Da müsste man überprüfen, ob das auch so stimmt. Der Diskurs Schule-Arbeitsmarkt ist immer ein radikaler. Es wird nicht gefragt, was kann der Arbeitsmarkt machen, um auf die Schule zu reagieren. Es wird nur gefragt, wie muss die Schule reagieren, dass sie zum Arbeitsmarkt passt. Ich wehre mich gegen diesen Diskurs, an dem viel Wahres ist, weil ich immer der Meinung war, die ich auch beibehalte: Die Schule ist nicht dazu da, um Arbeitsmarktathleten auszubilden. Wer glaubt, die Schule sei nichts weiter als ein Zulieferer für den Arbeitsmarkt, der hat einen engen Begriff von Schule, den ich mir nicht zu eigen machen kann. Darum bin ich trotz aller Notwendigkeit adäquater Berufsausbildung wirklich nicht der Meinung, dass die Schule sich einseitig auf den Arbeitsmarkt orientieren soll. Sie soll am Menschen orientiert bleiben, und der Arbeitsmarkt gehört nun einmal den Menschen. Wir dürfen nicht nur messen, was die Schule dem Arbeitsmarkt bringt, und dabei vergessen, was alles sonst sie dem Land bringt: Kritikfähigkeit, die Fähigkeit zum differenzierten Blick, Wissen, das über die Verwendung am Arbeitsplatz hinausgeht. Das wird nicht gemessen, weil es etwas Immaterielles ist.

Was Sie kritisieren, ist der Diskurs vieler Politiker, die genau das sagen: Die Schule ist für den Arbeitsmarkt da. Im Schulmilieu wehrt man sich eher gegen diese Sichtweise.

Jean-Claude Juncker: Ich sage, die Schule ist auch für den Arbeitsmarkt da. Doch die ausschließliche Orientierung auf den Arbeitsmarkt reduziert die von der Schule den Menschen fürs Leben angebotenen Möglichkeiten. Darum wehre ich mich dagegen, wenn wir über Schule in Luxemburg sprechen und nur über den Arbeitsmarkt reden. Sehen Sie sich den Diskurs um die PISA-Studie an. Da wird Erstaunliches geboten. Da hört man, die PISA-Studie zeige, warum wir nicht wettbewerbsfähig sind, und dann nennt man Beispiele wie Finnland. Doch wer weiß, was in Finnland los ist?

Die Luxemburger Schulpolitiker sind ja zwischenzeitlich Spezialisten für Finnisches geworden. Aber Finnland hatte 14,2 Prozent Arbeitslose zu der Zeit, als die PISA-Studie gemacht wurde. Es hat jetzt 9 Prozent, was auch mit der Öffnung der russischen Märkte zu tun hat. Die Schlussfolgerung, unsere Schule müsse nach PISA so werden wie in Finnland, damit es unsenn Arbeitsmarkt auch besser gehe, ... Das ist doch ein Konglomerat von widersprüchlichen Elementen, die hier vorgetragen werden, das mich immer wieder in Staunen und Schrecken versetzt.

Die letzten Schulreformen sind aber vom Ziel einer allgemeinen Kulturvermittlung abgerückt...

Jean-Claude Juncker: Ich kann das gar nicht abstreiten, weil die Schulpolitiker sich nicht von dem allgemeinen Denkmodell abkoppeln können, dass der Erfolg einer Schulpolitik an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes gemessen wird. Dazu kommt, dass bei uns logischerweise überproporzional viele Ausländer arbeitslos sind. Von den Portugiesen, die hier im Land arbeitslos sind, sind 80 Prozent nicht durch das Luxemburger Schulsystem gegangen. Der Großteil der Arbeitslosen, die wegen ihrer Unterqualifikation keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, hat die Qualifikationskanäle der Luxemburger Schulen nie durchlaufen. Sie kamen nicht ins Land, weil sie eine gute Qualifikation hatten, sondern weil ihre Qualifikation für einen ganz präzisen Arbeitsplatz genügte, und sie sich nicht umstellen können, wenn sie diesen verlieren. Es ist also unredlich, das Problem der Arbeitslosigkeit der Unqualifizierten auf etwaige Unzulänglichkeiten des Luxemburger Schulsystems zurückzuführen. Das stimmt in der radikalen Form, wie man das zu hören bekommt, einfach nicht. Trotzdem sage ich nicht, dass nicht auch in der Schule auf den Arbeitsplatz ausgerichteter Reformbedarf besteht. Aber man sollte zuerst die Probleme auseinander schrauben, um ihre Vielfältigkeit zu entdecken, bevor man einfach eine globale Anforderung an die Schule stellt. Ich weiß auch, wenn man La Peste oder Zadig studiert, dass man damit nicht leichter eine Arbeit findet als mit etwas anderem. Aber soll das ein Grund sein, das nicht mehr zu tun? Man braucht keine Gedichte zu schreiben und Lyrik zu mögen, um eine Arbeit zu finden. Aber braucht ein Land nicht auch anderes als nur den Schraubenzieher? Der ideale Mensch mag wie ich Rilke gerne lesen und kann etwas mit seinen beiden Händen anfangen. Ich kann nichts mit meinen beiden Händen anfangen.

Auch der neuen Universität wurde aufgetragen, ökonomisch nützlich zu sein.

Jean-Claude Juncker: Das halte ich für den richtigen Ansatz und will es auch begründen. Man kann die Universität nicht mit den allgemeinen Schulen vergleichen. In der Großregion gibt es 78 Hochschulen. Es soll m. E. in Luxemburg keine Hochschule geben, die es anderswo schon gibt. Es ist nicht nötig, hier das Geschlechtsleben von Tsetse-Mücken oder mittelalterliche Lyrik aus Südfrankreich zu studieren. Das wird an anderen Plätzen schon gemacht. Weil wir einen enormen Nachholbedarf auf dem Gebiet der Forschung haben, weil bei uns weder Wirtschaft noch Politik von der Forschung bedient werden, weil ich gerade die Politik für in einem besonderen Forschungsdefizit befindlich halte, war ich immer der Meinung, eine Luxemburger Universität müsse auch stark nach unseren Bedürfnissen ausgerichtet sein. Individuelle intellektuelle Bedürfnisse können wir wahrscheinlich besser an schon bestehenden Universitäten befriedigen als an einer eigenen Universität. Deshalb halte ich eine Ausrichtung der Universität auf die Bedürfnisse der Wirtschaft, aber auch der Politik für ein ,must'. Das können wir uns nämlich nicht aus dem Ausland holen.

Im Bereich der Ceisteswissenschaften gibt es auch viel Forschungshedarf, wenn man ihn denn zu erkennen bereit ist, für den niemand uns die Arbeit im Ausland abnimmt. Ich denke an Fragenkomplexe, die um nationale Identität, Integration, Geschichte, Sprache usw. drehen.

Jean-Claude Juncker: Das stimmt und hat sogar etwas mit Wirtschaft zu tun.

Warum muss man denn jede Forschung an ihrer wirtschaftlichen Nutzbarkeit aufhängen?

Jean-Claude Juncker: Man muss sie zuerst daran aufhängen und dann erst hat Universität auch einen eigenständigen Wert, einen atmosphärischen Wert. Wir unterstützen auch mit viel Geld Filmproduktionen im Land, von denen wir unter dem Strich nichts haben, es ist defizitär ... Trotzdem ist eine Stadt, in der Filme gedreht werden eine andere als eine Stadt, in der keine Filme gedreht werden. Also kann man das nicht immer in der Bilanz aufrechnen. Deswegen muss es in der Universität neben den Wirtschaftshäusern auch Appartements geben für Luxemburgensia, die wir zu kennen meinen, weil wir sie nie erforscht haben. Es muss ein Forschungssog entstehen zur Erforschung der Komplexität der Gesellschaft usw. Dagegen würde ich mich nie wehren. Wir sollten an der Universität Luxemburg lehren und forschen, aber mehr forschen als lehren über die Luxemburger Eigentümlichkeiten im etymologischen Sinn des Wortes. Dass wir in Luxemburg besser ausgestattet sind, um etwa über Immigrationsgeschichte zu forschen als andernorts, ist für mich eine ausgemachte Sache und soll auch geschehen. Wir haben ja für das Kulturjahr 2007 das Thema Immigration auf die Agenda gesetzt.

Ein weiteres Element in der Regierungspolitik, das wir ansprechen wollen, ist die Flüchtlingspolitik. In den vergangenen fünf Jahren ist das diesbezügliche Image der CSV durch die Aktionen von Minister Frieden das einer Hardliner-Partei geworden.

Jean-Claude Juncker: Das ist falsch. Es stimmt, dass die Beschreibung der Regierungsaktivität auf diesem Gebiet von einer traurig stimmenden Einseitigkeit ist. In Bereichen, die eigentlich Gefühl und Verstand gleichermaßen ansprechen müssten, die aber das Gefühl stärker ansprechen als den Verstand, ist man machtlos in der Erklärung dessen, was man machen muss. Das muss ich zur Kenntnis nehmen. Unsere Politik in diesem Bereich ist wie in allen vielschichtigen Fragen nicht einfach zu erklären. Was die Luxemburger darüber denken, ist noch nicht erforscht. Was viele Luxemburger darüber denken, erfahre ich jeden Tag. Das ist weit weg von der Politik des Herrn Frieden. Ich muss Sie vor Illusionen in dieser Hinsicht unbedingt warnen. Die audiovisuelle Berichterstattung hat     nicht Herrn Frieden, sondern den Flüchtlingen sehr geschadet, weil das Fernsehen dauernd Bilder zeigt, die mit dem Empfinden einer Großzahl von Luxemburgern nichts zu tun haben.

Die Flüchtlingspolitik dieser Regierung ist nahtlos dieselbe wie jene der vorigen. Ich kenne auch keine Alternativen oppositioneller Parteien zur Regierungspolitik. Alle sind sich einig, dass die Asylprozeduren gekürzt werden und dass, wenn ein Flüchtling kein Asylrecht bekommt, er nicht im Land bleiben darf. Vergleichen Sie doch mal die Luxemburger Flüchtlingspolitik mit derjenigen anderer europäischer Staaten. Warum nimmt bei uns die Zahl der Flüchtlinge 2003 um 223% zu und im Ausland um über 50% ab? Das hängt damit zusammen, dass in Belgien eine blau-rotgrüne Regierung beschlossen hat, Flüchtlingen keine Finanzmittel mehr zur Verfügung zu stellen, sondern nur noch Essen und Getränke. Das kommt daher, dass ein roter deutscher Innenminister die Mittel für die Flüchtlingspolitik gekürzt hat. Wir leben halt nicht auf einem Stern. Bis 2001 habe ich verlangt, dass man Flüchtlingen das Recht auf Arbeit zuerkennen muss als elementares Mittel zur Integration und zur Vermeidung betrüblicherer Aspekte ihrer Präsenz in Luxemburg. Doch ich musste mich überzeugen lassen, dass diese Politik nicht machbar ist. Auch in Deutschland dürfen sie nicht arbeiten und Deutschland blockiert auf EU-Ebene alle entsprechende Vorschläge. Die französische Regierung hat 1991 ein allgemeines Arbeitsverbot für Flüchtlinge dekretiert. Es ist also normal, dass Flüchtlinge lieber nach Luxemburg kommen als dorthin, wo für sie Arbeitsverbot besteht. Sie wenden sich natürlich dorthin, wo der am stärksten expandierende Arbeitsmarkt besteht und die besten Gehälter bezahlt werden. Dass damit dem einzelnen Flüchtling, auch wenn er Wirtschaftsflüchtling ist, nicht geholfen ist, weiß ich und stört mich. Das muss ich nicht erneut darlegen. Das Drama des einzelnen Flüchtlings ist die große Zahl der Flüchtlinge. Solange man keine Flüchtlingspolitik braucht, kann man den einzelnen Flüchtling wahrnehmen und aufnehmen. Aber sobald eine Flüchtlingspolitik notwendig wird, wird der einzelne Flüchtling zerrieben. Ich habe während 15 Jahren als Arbeitsminister Arbeitsgenehmigungen erteilt, wenn möglich nach den bestehenden Regeln, und wenn das nicht möglich war ,pour des raisons humanitaires'. Das ist heute nicht mehr möglich. Die Gerichte haben mich belehrt, dass das kein rechtliches Argument ist. Und wenn sie dann eine Arbeitsgenehmigung hatten, haben sie auch eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Ich gebe aber zu, in Jahren, in denen das eine kleine Zahl war und man noch mit vielen Leuten selber reden oder mit ihnen reden lassen konnte, konnte man sich ein Bild machen. Von einer Gruppe Menschen kann ich mir kein Bild machen. Das Gruppenbild ist unscharf. Was mich am traurigsten macht in der Politik, aber auch am wütendsten, ist, dass man den Leuten, die das machen müssen, unterstellt, sie würden es herzlos tun. Ich habe unseren Justizminister oft hier sitzen. Er kann das nicht gut zeigen, das gebe ich zu. Aber einfach zu sagen, es würde ihm quasi Freude machen, wird diesem Menschen mit seinen Ansprüchen an sich selber nicht gerecht.

Es sind letzte Woche 153 Flüchtlinge gekommen. Das kann man leicht berechnen 52 mal 153, wieviele das im Jahr wird. Ich lese, wenn eine Rückführung veranstaltet wird, was nichts Schönes ist, es sei jetzt das Dorf Kautenbach von der Landkarte verschwunden. Ich lese nie, wie viele Städte in den letzten Jahren hinzugekommen sind. Es ist der schwierigste Teil der Politik, weil es hier nämlich keine richtige Politik gibt. Es gibt keine richtige Flüchtlingspolitik. Das ist das Drama. Man kann versuchen es richtig zu machen, aber die richtige Handlung gibt es nicht. Es ist menschlich immer falsch. Und wenn man es nicht tut aus Rücksicht auf die Gefühle, die man diesen Menschen gegenüber hat, schafft man nach und nach ein Problem, das zu großen Schwierigkeiten führt.

Ich habe mir diesbezüglich, was Luxemburg angeht, nie Illusionen gemacht. Es leben hier im Land 15 Prozent Portugiesen, und wir leben relativ gut mit diesen Menschen zusammen. Ich mache mir keine Illusionen, was hier im Land geschähe, wenn es 15% Türken wären. Im Unterschied zu dem, wie wir uns gerne aufspielen, sind wir nämlich nicht besser wie die anderen. Ich denke, dass der Fremdenhass in Luxemburg nicht ausgeprägt ist, weil wir viele Ausländer haben, und wenn man viele hat, fürchtet man sie nicht.

In einem Land, wo es nur fünf Prozent Ausländer gibt, kann man leichter fürchten, dass es einmal 30 Prozent werden. Wo es schon 37 Prozent gibt, kann mai damit keine Angst mehr machen. Trotzdem hat es wesentlich mit der Provenienz der Leute zu tun, die bei uns wohnen. Das kann man schlecht finden, aber so ist es. Es hat etwas damit zu tun.

Auf die peinliche Frage, ob Sie Kommissionspräsident werden wollen, haben Sie stets geantwortet, dass falls Sie die Wahlen gewinnen, würden Sie Premierminister bleiben wollen. Wenn Sie die Wahlen verlieren, würden Sie also Kommissionspräsident werden.

Jean-Claude Juncker: Nein. Dann bin ich ein freier Mann.

Also: "Dann stehe ich zur Verfügung". Wieso dann eine Kandidatur für das Europa-Parlament?

Jean-Claude Juncker: Aus Notwendigkeit. Wir haben den anderen Parteien vorgeschlagen für fünf Jahre nicht parallel auf Listen zu kandidieren, wenn zwei Wahlen am selben Tag sind, weil man nur in einem Parlament sitzen kann. Weil alle anderen Parteien das abgelehnt haben, hat die CSV auch Kandidaten auf den beiden Listen. Ich bin dafür, gesetzlich zu verbieten, dass man am selben Tag für zwei verschiedene Parlamente zur Wahl stehen kann.

Kann man nicht per Gesetz verbieten, dass die Wahlen am selben Tag sindl?

Jean-Claude Juncker: Ich würde wohl eine Regierungskrise provozieren, wenn ich einer Regierung, der ich angehöre, diesen Vorschlag unterbreiten würde.

Damit sind wir bei den nächsten Koalitionsverhandlungen. Bei den Wahlen von 1999 haben Sie erklärt, zuerst mit dem Wahlgewinner verhandeln zu wollen. Bei den zur Zeit kursierenden Umfragen sieht es nach einem Wahlerfolg von CSV und den Grünen aus. Werden Sie als erstes mit den Grünen verhandeln?

Jean-Claude Juncker: Wir haben 1999 nicht mit dem Wahlsieger verhandelt, denn DP und LSAP hatten beide 22% der Stimmen, aber die DP hatte drei Sitze gewonnen und die LSAP einen verloren wegen unseres Wahlsystems. Seit 1999 lesen die Bürger das Wahlresultat von 1999 falsch und wundern sich jetzt über die Umfrageergebnisse. Zum zweiten: Koalitionen müssen nicht unbedingt die zwei stärksten Parteien begreifen, auch die erste und die drittstärkste Partei können eine Regierung bilden. Zum dritten: Ich wünsche, dass meine Partei die stärkste wird. Meine ganze Aufregung über die Wahlumfragen kommt daher, dass alle Welt glaubt, die CSV habe die Wahlen schon gewonnen und es gehe nur noch um die Frage, wer als zweites in die Regierung kommt. Bei diesem Volkssport könnte die CSV ganz schnell den dritten Preis bekommen, wenn die Leute nur noch wählen, wen sie als zweiten oder dritten haben möchten. Viertens: Ich habe keine prinzipielle Schwierigkeit, mit den Grünen eine Koalition zu bilden. Meine Partei hat schon in Sassenheim eine derartige Koalition gebildet.

Doch die Grünen, auch wenn es eine kleine Partei ist, ist multiform. Sie gibt sich aufgeschlossen und zugleich – für meinen Geschmack – streckenweise zu stark kleinbürgerlich und verschweigt in weitergehenden Gesellschaftsfragen ihre Botschaft stärker als in Wirtschaftsfragen. Es fällt mir auf, dass bestimmte Themen eher auf kleiner Flamme gekocht werden. Muck Huss, der nicht so viel Verständnis für die Interessen des Landes hat wie sein Parteikollege Francois Bausch, sagt immer, die CSV müsse sich noch stark ändern, bevor sie mit den Grünen eine Koalition eingehen könne. Mein Eindruck ist, dass die Grünen sich noch viel ändern müssen, bevor sie für eine Koalition mit der CSV in Frage kommen: mehr Bausch und weniger Huss.

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