Jean-Claude Juncker: Es gibt keine absolute Norm.

Kurier: Herr Premierminister, Sie gelten als Favorit für den Job. Was für ein Job ist das?

Jean-Claude Juncker: Ich nehme zur Kenntnis, dass diejenigen, die Personalvorschläge machen, anscheinend nicht an meiner Person vorbei können. Die Aufgabe ist, die Sitzung des Euro-Rates mit der Kommission und den Mitgliedstaaten vorzubereiten und zu leiten und sich auch stärker einzubringen in die Koordinierung der nationalen Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Ich bin gegen die Bezeichnung Mister Euro. Das erweckt den Eindruck, der Euro-Rat-Vorsitzende ist so etwas wie der Chef der Europäischen Zentralbank, was er nicht ist.

Der Stabilitätspakt trägt Ihre Handschrift. Was sagen Sie zu den Reform-Vorschlägen der EU-Kommission?

Ich bin sehr dafür, dass die Reform jetzt kommt, weil die Defizitsünder Deutschland und Frankreich sich jetzt auf dem richtigen Weg befinden. Die Reform besteht nicht darin, den beiden das Leben zu erleichtern. Was die Kommission vorschlägt, passt mir sehr gut, weil wir dadurch aus dieser konjunktur-neutralen, mechanischen Anwendung des Stabilitäts-Paktes zu einer Konjunktur-adäquaten Anwendung kommen.

Wird Brüssel ein Defizit-Verfahren gegen Deutschland und Frankreich einleiten?

Angesichts der Lage wird sich die neue EU-Kommission überlegen müssen, ob sie einen neuen Vorschlag macht oder nicht. Es sollte alles unterlassen werden, Frankreich und Deutschland den Eindruck zu geben, sie bräuchten keine Anstrengungen zu machen, um ihre Haushalte zu stabilisieren.

Das Kriterium Drei-Prozent-Neuverschuldung ist kein Dogma mehr.

Die Antwort kann nicht sein, unter drei Prozent zu kommen, egal wie. Je nach Land müssen Maßnahmen zugeschnitten werden. Es gibt keine absolute Norm, die sich ohne Berücksichtigung der Gesamtumstände einfach anwenden ließe. Es gibt Raum für politische Entscheidungen.

Wie macht sich der neue Kommissions-Chef?

Barroso hat bis jetzt einen fehlerlosen Parcours hingelegt.  Ich kenne ihn als kenntnisreichen, Brücken bauenden Strategen, der das Gesamte im Blick hat. Ich habe mich ohne Mühe für ihn entschieden, und ich bedaure das auch nicht.

Luxemburg übernimmt 2005 den EU-Vorsitz. Was sind die Schwerpunkte?

Die Reform des Stabilitätspaktes beschließen. Die Fortführung der Beitrittsprozesse und das Thema Finanzperspektiven. Wir werden auch die Kosovo-Frage auf die Agenda setzen. Man muss sich mit der Status-Frage beschäftigen, damit kein weiteres Irak passiert. Zentral ist die Überprüfung der Lissabon-Strategie, die zielorientierter sein muss.

Sechs Nettozahler, darunter Österreich, fordern in einem Brief, das EU-Budget bei einem Prozent des Bruttonationaleinkommens einzufrieren.

Man hat mir den Brief vorgelegt, ich habe nicht unterschrieben. Angesichts der Probleme auf unserem Kontinent halte ich es für verfänglich, die europäische Ambition auf ein Prozent zu beschränken. Ich nehme die Nettozahler ernst, ihr Anliegen hat eine innenpolitische Relevanz. Ich nehme auch die Pläne der Kommission ernst. Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass die Einteilung in Nettozahler und Nettoempfänger dem europäischen Geist und dem Gebot der Solidarität zuwider läuft.

Die EU-Kommission will das Budget deutlich erhöhen. Man wird festlegen müssen, welche Aufgaben die EU wahrzunehmen hat. Dann wird man über die Finanzierung reden.

Man wird nicht dort landen, wo die Kommission ihren Ansatz festgemacht hat, aber auch nicht dort bleiben können, wo die Nettozahler ihre Latte gelegt haben. Man wird eine Lösung finden.

Sie waren 1997 als Ratspräsident äußerst skeptisch gegenüber einem Kandidaten-Status der Türkei. Rechnen Sie mit Verhandlungen 2005?

Ich habe meine Meinung geändert, weil sich die Türkei geändert hat. Der Europäische Rat wird im Dezember befinden, ob die Türkei die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt und Verhandlungen eröffnet werden können. Wir müssen uns bewußt sein, dass die Verhandlungen ein ergebnisoffener Prozess sind. Sollte die Türkei alle Bedingungen erfüllen, wird die EU der Welt ein Beispiel sein, wie kulturell und religiös unterschiedliche Länder sich zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammentun.

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