Contribution écrite de Jean-Claude Juncker publiée dans le Spiegel Jahres-Chronik: "Wir waren furchtbar naiv"

Man mag es drehen und wenden, wie man will: Das Jahr 2005 wird für die Europäische Union kein gutes gewesen sein. Seit spätestens Mitte Juni steckt sie erkennbar in einer tiefen Krise. An diesem Befund ändern die wenigen Grundsatzentscheidungen, die in der ersten Jahreshälfte getroffen wurden, kaum etwas.

Positiv ist, dass der Stabilitätspakt nach jahrelangem erbittertem Streit um seine Interpretationsmargen so novelliert wurde, dass er künftig ökonomisch rationaler angewendet werden kann. Der schleppenden Umsetzung der Lissabon-Agenda und der Reformmüdigkeit der EU wurde der Kampf angesagt durch nationale Reformprogramme – damit ist die nationalstaatliche Verantwortung für die zu leistende Strukturreform klargestellt. Die entwicklungspolitischen Ambitionen der EU erhielten neuen Auftrieb durch die alle Mitgliedstaaten verpflichtende Festlegung, ihr Gesamtvolumen bis zum Jahr 2010 auf 0,56 Prozent und bis 2015 auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts anzuheben – ein Plus von mehr als 20 Milliarden Euro pro Jahr. Die Irritationen im Verhältnis zu Amerika wurden ausgeräumt, die Nervosität in den Beziehungen zu Russland hat sich gelegt.

Aber die Fortschritte auf diesen und anderen Feldern reichten nicht aus, um die europäische Krise zu verhindern. Am 29. Mai zeigten die Franzosen der europäischen Verfassung die kalte Schulter, am 1. Juni kehrten die Niederländer ihr den Rücken, und Mitte Juni scheiterte trotz aller Mühen der Versuch, den Finanzrahmen für die Zeit bis 2013 abzustecken.

Eine Einigung im Budgetstreit hätte es uns erlaubt, dem Negativschub, den die Nein-Sager aus Paris und Den Haag ausgelöst haben, seinen destruktiven Schwung zu nehmen. Doch zu dieser Kraftanstrengung waren die Staats- und Regierungschefs nicht fähig.

Selbst wenn sie es gewesen wären, sie hätten die europäische Krise nicht verhindern können. Denn diese sitzt tiefer. Sie lässt sich nicht festmachen an diesem oder jenem gescheiterten Bewegungsversuch, sondern sie findet ihren Ursprung in den Fehlern, die wir in der Vergangenheit gemacht haben.

Eine Krise fällt nicht vom Himmel, politische Krisen sind keine unvorhersehbaren Naturkatastrophen, denen man hilflos gegenübersteht. Sie bauen sich langsam auf, sammeln ihre Sprengkraft Stück für Stück, bevor sie sich nach Jahren der Unachtsamkeit gewitterartig entladen.

Die Staats- und Regierungschefs haben sich arg- und sorglos auf die Krise zubewegt, weil sie die dunklen Wolken, die sich über den europäischen Wegen zusammengezogen hatten, nie zu deuten versuchten.

Wir haben Fehler gemacht. Mindestens vier.

Staatspräsidenten und Regierungschefs haben es sich zur wohlfeilen Angewohnheit gemacht, über die Europäische Union schlecht zu reden. Entscheidet diese richtig, so tut sie das, weil die eigene Regierung sich gegen die Unvernunft der anderen Regierungen durchgesetzt hat. Entscheidet sie falsch, dann tut sie es gegen den Widerstand der eigenen Regierung. Regierungen verbuchen europäische Wohltaten jeweils auf ihr eigenes Konto und erklären eigene Versäumnisse mit dem Hinweis auf Brüsseler Mängel. So entsteht zwangsläufig ein schiefes Bild, und dieses schiefe Europa-Bild hängt an den Wänden von Millionen europäischer Wohnungen. Wer die ganze Woche über mal Europa insgesamt, mal die Europäische Kommission, mal das Europäische Parlament schlecht macht, der kann nicht erwarten, dass die so in ihrem Urteil fehlgeleiteten Bürger am darauf folgenden Sonntag, wenn sie zur Wahl schreiten, in der europäischen Braut ihre Herzdame erkennen. Besonders in Frankreich und in den Niederlanden war die regierungsamtliche Kritik an europäischen Dingen so sehr überzogen, dass die negativen Referenden eigentlich nichts anderes waren als die logische Konsequenz der offiziellen Miesmacherei. Fehler Nummer eins.

Fehler Nummer zwei: die Erweiterung. Besser: das Erklärungsdesaster, das sie begleitet hat. Anfang der neunziger Jahre, kurz nach dem Mauerfall und während des daraufhin einsetzenden kontinentalen Aufatmens, war die Erweiterung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa ein höchst populäres Unterfangen. Länder und Menschen, die die Nachkriegsgeschichte von uns entfernt hatte, waren quasi über Nacht frei geworden. Wir haben darauf vertraut, dass die Wucht der geschichtlichen Veränderungen die öffentliche Meinung auch in den Folgejahren in ihrem Bann halten würde. Dem war nicht so, aber wir haben das nicht gemerkt. Hätten wir es gemerkt, wären wir nicht in Erklärungsfaulheit verfallen und hätten den irgendwann entstehenden Erklärungsnotstand vermieden.

Wir haben es sträflichst unterlassen, den Menschen im Westen Europas klar zu machen, was im Rest Europas im Werden war: In Mitteleuropa, in Osteuropa, auf dem Balkan und an der europäischen Peripherie sind seit 1989 über 20 neue Staaten entstanden. Die Frage war: Lassen wir diese Neugeborenen ziellos herumtreiben, oder bieten wir ihnen die EU als Stabilitätsanker an? In anderen Worten: Man kann die EU-Erweiterung nur verstehen, wenn man sich Europa ohne seine Wiedervereinigung vorstellt. Zu diesen anderen Worten haben wir aber nie gefunden, weil wir, mit kaum zu überbietender Naivität, beharrlich dachten, die Menschen bei uns hätten in vollem Umfang verstanden, was die Menschen dort umtrieb. Anstatt von Stabilitätssicherung in Europa zu reden, haben wir uns eine Debatte aufzwingen lassen, die wir verlieren mussten.

Die ursprüngliche Zustimmung zur Erweiterung wich einer Debatte, in deren Mittelpunkt die Angst vor der Bedrohungswalze stand, die via Erweiterung auf unseren Wohlstand zurollen würde. Statt uns mit den vermeintlichen negativen Sozialfolgen der Erweiterung auseinander zu setzen, hätten wir einen Stabilitätsdiskurs halten müssen, der den Menschen vermittelt hätte, dass zusammenwachsen musste, was ohnehin zusammengehörte. Die Erweiterung als Pflicht und Chance für alle hätte unser Erklärungsmuster sein müssen. Stattdessen haben wir sie thematisch negativ besetzt. Dieser gravierende Fehler hat eine Abkehr der Menschen vom europäischen Projekt gefördert, umso mehr, als wir auf die Frage nach den Endgrenzen der Europäischen Union nie eine schlüssige Antwort formulieren konnten.

Ein weiterer unverzeihlicher Fehler ist uns unterlaufen. Irgendwann – de facto nach den miserablen Verhandlungsergebnissen des Vertrags von Nizza im Jahr 2000 – haben wir uns in den Kopf gesetzt, den alles regeln sollenden neuen europäischen Grundvertrag mussten wir als europäische "Verfassung" ausgeben. Wir haben dabei übersehen, dass das Konzept der Verfassung für die Menschen nur dann einen Sinn ergibt, wenn es im Zusammenhang mit der einzigen Größe verwandt wird, die sie kennen und verinnerlicht haben: mit dem jeweiligen Nationalstaat. Europa-Verfassung? Für viele Menschen klang diese Absicht wie eine Kriegserklärung an den noblen Teil des Nationalstaats, so als ob die ins Auge gefasste europäische Verfassung die nationalen Grundgesetze definitiv ins Abseits stoßen würde.

Was hatten wir und was haben wir gemacht? Wir haben die uns gemeinsamen Grundrechte aufgeschrieben – ein Fortschritt an sich. Wir haben die Institutionen und die Entwicklungsmechanismen der Europäischen Union auf das größer gewordene Europa adjustiert – eine Notwendigkeit per se. Wir haben die bisherigen sehr disparaten europäischen Verträge in einem besser lesbaren europäischen Gesamtvertrag zusammengefasst – eine überfällige Textflurbereinigung. Anstatt diesen Vertrag zum "Europa-Vertrag" zu erklären, haben wir ihn "Verfassung" genannt. Und sind somit über die Köpfe und die Herzen der Menschen hinweggegangen. Wir wollten den Rest der Welt beeindrucken und haben die Bürger Europas verschreckt. So sind wir. So dürfen wir nicht bleiben.

Alles in allem: Wir reden zu oft schlecht über Europa. Wir haben die Erweiterung der EU nach Mittel- und Osteuropa nur fragmentarisch erklärt. Wir haben etwas leichtfertig einen europäischen Gesamtvertrag "Verfassung" genannt und damit die Menschen in ihrem Vorstellungsvermögen überfordert.

Wir haben nicht nur diese Fehler gemacht. Wir haben beispielsweise den Eindruck erweckt, Europa sei eine reine Geldangelegenheit. Die einen sind überzeugt, zu viel für Europa zu zahlen, die anderen sind überzeugt, von der Europäischen Union nicht genug Unterstützung zu beziehen. Die "Reichen" sind unzufrieden, die "Armen" auch.

Der Weg aus der Krise führt über das Eingeständnis der eigenen Fehler. Wenn wir diese – und andere – Fehler in Zukunft vermeiden, dann überwinden wir die Krise. Wenn nicht, vertiefen wir sie weiter.

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