"Die Regierung ist doch kein Gesangverein". Jean-Claude Juncker fait le bilan de l'année 2005

Lëtzebuerger Journal: Eine ganz aktuelle Frage, Herr Juncker. An diesem Morgen ist im Regierungsrat die Entscheidung gefallen, die Uni Lëtzebuerg nun definitiv auf den Industriebrachen in Esch/Belval anzusiedeln - dies entgegen dem Koalitionsabkommen, in dem sich CSV und LSAP ja noch für zwei Standorte aussprachen. Was ist ein Koalitionsabkommen überhaupt noch wert, wenn man sich sowieso nicht dran hält?

Jean-Claude Juncker: Ein Koalitionsabkommen kann nur von denen gebrochen werden, die es auch verbrochen haben. Wenn zwei Parteien, die sich ein Programm gegeben haben, nach intensiven Beratungen zur Schlussfolgerung gelangen, dass Teile davon überprüft werden müssen, finde ich das als sich in der normalen Kontinuität des Handelns bewegend. Ich denke auch, dass die Entscheidung, die die Regierung heute morgen getroffen hat neben der prinzipiellen Festlegung auf einen einzigen Standort nuancierter ist, da wir ja sagen, dass wir ab 2009 die Fakultät für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an diesen einzigen Standort verlegen wollen. Das ist eine prinzipielle Festlegung, die 2009 einer Nachentscheidung bedarf.

Apropos Koalitionsabkommen, steht die viel diskutierte "Mammerent" jetzt doch zur Disposition Herr Juncker? Rezente Äußerungen Ihres Sozialministers lassen auf jeden Fall darauf schließen.

Ich habe nicht in Erinnerung, dass Minister Di Bartolomeo im Fernsehen oder sonst wo angedeutet hat, die Mammerent würde abgeschafft. Über all diese Fragen wird zur Zeit in der Tripartite diskutiert. Die Gespräche betreffend die Haushaltskonsolidierung sollen zuerst in bilateralen Gesprächen mit den Sozialpartnern und dann in Tripartite-Gesprächen geführt werden, so dass die Regierung im Mai anlässlich der Erklärung zur Lage der Nation verbindlich darlegen wird, welche Aktionen geführt werden müssen. Bis dahin hat es also keinen Zweck, Fragen über Detailaspekte zu stellen, solange der Gesamtumfang der Maßnahmen noch nicht bekannt ist. Würde ich das nämlich tun, und jede Woche ein gesondertes Stück Inhalt abgetrennt vom Gesamtrahmen kommentieren, hätten wir am Ende zwar einen Gesamtrahmen, doch der wäre ziemlich leer.

Mit welchem Gefühl gehen Sie denn in die nächsten Tripartite-Gespräche?

Mein Gefühl ist, dass es langsam jedem einleuchten dürfte, dass man mit einem Wirtschaftswachstum von über vier Prozent nicht ein Staatsdefizit von 1,8 Prozent haben kann, und dass man dafür die Ausweitung der staatlichen Ausgaben in Einklang mit den Möglichkeiten bringen muss, die das Wirtschaftswachstum uns mittelfristig an die Hand gibt. Bis sich dieser Befund bei jedem festgesetzt hat, muss man darüber sprechen, wie man diese Annäherungsnotwendigkeiten konkret gestalten kann.

Wenn wir aber mehr Forschung machen müssen und öffentlich finanzieren, wenn wir in Sachen Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie auch Haushaltsmittel zum Einsatz bringen wollen, um beispielsweise Kinderversorgungsinfrastrukturen auszubauen, wenn wir ein Land bleiben wollen mit hohen Investitionen in die Entwicklungshilfe, dann muss man auch die Kraft haben, sich zielorientiert darüber zu unterhalten, wie man einzelne Aspekte des Haushalts umfinanzieren muss.

Führt man sich die Ereignisse der letzten Wochen noch einmal vor Augen - u.a. den Zwist wischen Wirtschaftsminister Krecké und Umweltminister Lux -, darf doch stark angezweifelt werden, ob diese Regierung überhaupt noch fähig ist, mit einer Stimme zu sprechen...

Die Tatsache, dass man Mitglied einer Regierung ist, heißt nicht unbedingt, dass man sich auch auf einem argumentativen Friedhof befindet. Zum besseren Verständnis für die Lösung politischer Probleme gehört auch, dass man von einer unterschiedlichern Warte aus einen anderen Beleuchtungskegel wirft als ein anderer Regierungskollege. Die Tatsache, dass zwei Minister verschiedene Sensibilitäten in einem Sachzusammenhang artikulieren, heißt doch nicht, dass sie Streit haben. Ich bin überrascht über die Radikalrhetorik, mit der die Diskussion zwischen Lux und Krecké beschrieben wird, und dass diese einfach in der Rubrik Streit gerührt wird. Die Regierung ist doch kein Gesangsverein, wo einer vorsingt und die anderen mitsingen. Ich wollte, es wäre so. Aber es ist nun mal nicht so...

Da Sie ja ein Verfechter der Streitkultur sind Herr Juncker, dürften Ihnen die jüngsten Vorstöße des Fraktionsvorsitzenden der CSV, Michel Wolter, ja prächtig gefallen, oder?

Die Aktivität der CSV-Fraktion müsste Ihnen doch missfallen, denn sie schreiben ja stets, die Majoritätsabgeordneten wären Kopfnicker. Die Art und Weise, wie die CSV-Fraktion arbeitet, ist eine Art und Weise, die mich nicht stört. Ich war immer der Meinung, dass politische Verantwortung sich zwischen Regierung und Parlament teilen muss, dass Majoritätsfraktionen selbstverständlich zur Befruchtung der Regierungsarbeit eigenständige Einstellungen haben können. Ziel ist nur, dass man am Ende nach Offenlegung sämtlicher Argumente zu einer einheitlichen Beschlussfassung kommt. In Sachen Budgetgestaltung kann ich beim besten Willen nicht feststellen, dass Michel Wolter irgend etwas sagte, was ich nicht schon in der Erklärung von Oktober 2005 zum Ausdruck gebracht hätte. Deshalb habe ich mich durch die Aussagen der CSV-Fraktion überhaupt nicht geniert gespürt; hätte ich mich geniert gespürt, würden Sie mich heute nicht zu fragen brauchen, dann wüssten Sie es schon.

Bleiben wir bei der CSV-Fraktion. Wird diese in letzter Zeit nicht zu sehr von einer einzigen Person, nämlich Fraktionssekretär Frank Engel, beherrscht? Dieser scheint es regelrecht darauf anzulegen, jeden gegen jeden auszuspielen, um sich eines Tages dann selbst als Retter aufzuschwingen.

Sie sprechen hier mit dem Staatsminister und nicht mit dem politischen Konkurrenten von Herrn Engel. Ich glaube, Sie schenken Herrn Engel eine zu große Aufmerksamkeit. Im Übrigen habe ich ein gutes Verhältnis zu ihm. Ich sitze aber nachts nicht schweißgebadet im Bett, weil ich mir vorstelle, dass Herr Engel mich beerben will.

Kommen wir zu einem ganz anderem Thema, der Bommeleeër-Affäre, in die Sie Herr Staatsminister, ja selbst eingriffen, indem Sie vor kurzem einen Zeugen zu sich riefen. Wie zufrieden sind Sie über den Stand der Ermittlungen?

Ich bin weder Untersuchungsrichter, noch Staatsanwalt noch Ermittler, demnach kann ich Ihnen nicht sagen, wie weit das Dossier bislang fortgeschritten ist.

... und die gehackte E-Mail?

Würde ich diesen Vorgang kommentieren, wären Sie der erste, der schreiben würde, dass ich mich um Dinge kümmern würde, die mich nichts angehen. Was mich aber nicht davon abhält, zu sagen, dass ich diesen Vorgang jedoch, wie Sie auch, erstaunlich finde.

Kommen wir zur Europapolitik. Wie sieht die Marschroute für die kommenden Monate aus, nachdem sich die EU Staats- und Regierungschefs jetzt auf den Haushaltsrahmen 2007-2013 geeinigt haben?

Politisch gewinnbringend wäre es, wenn diese sich jetzt z.B. mit dem Richtlinienvorschlag zur Arbeitszeit in Europa befassen würden, nachdem die europäische Gesamtdebatte seit Juli keine nennenswerten Fortschritte mehr zu verzeichnen hatte, weil die ungelöste Haushaltsfrage ihren Schatten darauf warf. Deshalb meine ich, dass nun die Zeit dafür gekommen ist, die europapolitische Debatte überall zu rühren, auch in den Ländern, in denen die EU-Verfassung bereits ratifiziert wurde, und sich europäischen Sachthemen zu zu wenden. Die Stunde der politischen Inhalte hat geschlagen.

Bleiben wir bei der Europapolitik. Wie frustrierend ist es eigentlich, wenn jetzt auf einmal die neue Bundeskanzlerin Merkel wegen ihrer Vermittlerrolle im Finanzstreit als Retterin Europa dargestellt wird, nachdem Sie diese Rolle während Jahren auf dem europäischen Parkett quasi allein inne hatten?

Ich finde es gut, dass die neue Bundeskanzlerin beweist, dass Deutschland sich auf einem soliden europapolitischen Kurs befindet. Das Gegenteil wäre schlimm. Dass Frau Merkel mit Geschick Deutschland ins Kompromisslager eingebracht hat, liegt in der Tradition der deutschen Europapolitik. Es dürfte aber nicht ohne Informationsgehalt sein, dass Frau Merkel auf ihrer Pressekonferenz überdeutlich gesagt hat, dass sie in sämtlichen Gesprächen, ob mit dem französischen Staatspräsidenten, dem polnischen Ministerpräsidenten oder dem britischen Ratsvorsitzenden, immer vom Luxemburger Premier begleitet wurde. Auch Herr Blair hat die Rolle Luxemburgs ausdrücklich gewürdigt.

Und wie steht es um die EU-Verfassung Herr Juncker?

2009 ist immer noch der Zeithorizont, den ich als realistisch einschätze, was ihre Inkrafttretung anbelangt. Nicht realistisch wäre es zu meinen, die Verfassung könnte in allen Ländern 2006 und 2007 abschließend ratifiziert werden. Ich sage damit exakt das gleiche wie der Kommissionspräsident, der nicht behauptete, der Verfassungsvertrag sei tot, sondern nur, dass er nicht vor Ende 2007 ratifiziert werden könnte.

Was ist der schönste Preis für Sie, nachdem Sie in letzter Zeit ja regelrecht mit internationalen Preisen bombardiert wurden?

Der Karlspreis macht mir Freude.

Eine Standardfrage zum Abschluss: Was waren im Jahre 2005 die traurigsten, welches waren die schönsten Momente für Sie?

Abgesehen davon, dass zu viele lieb gewonnene Menschen gestorben sind, habe ich den Tsunami und seine Folgen besonders schlimm in Erinnerung. Die schönsten Momente finden immer außerhalb der Politik statt und entziehen sich dem öffentlichen Interesse.

Herr Staatsminister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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