"Wir befinden uns mit der EZB in einem konstruktiven Dialog". Jean-Claude Juncker au sujet de la Banque centrale européenne et de l'OPA Arcelor / Mittal

Christof Roche: Herr Juncker, die EU-Kommission und die Bundesregierung ringen nach wie vor um eine Lösung im deutschen Defizitverfahren. Wie muss diese aussehen, um dem reformierten Stabilitätspakt standzuhalten?

Jean-Claude Juncker: Für jeden Beteiligten der deutschen Finanzpolitik muss klar sein: Es wird erwartet, dass Deutschland spätestens 2007 die Auflagen des Stabilitäts- und Wachstumspakts respektiert. Dass jetzt die deutschen Haushaltszahlen 2005 besser ausgefallen sind wie gedacht, muss in die Gespräche zwischen Währungskommissar Joaquin Almunia und Finanzminister Peer Steinbrück ebenfalls einfließen. Der Stabilitätspakt in seiner reformierten Ausgabe fordert bewusst eine Verständigung im Vorfeld, um eine Eskalation zu vermeiden, wie wir sie im November 2003 wegen unüberwindbarer Positionen zwischen Bundesregierung und Kommission hatten.

Christof Roche: Aber Sie sagen selbst, dass die deutschen Zahlen vermutlich besser ausfallen werden. Müsste Deutschland deshalb nicht schon 2006 den Stabilitätspakt einhalten, da der neue Pakt auch vorsieht, das konjunkturbereinigte Defizit um 0,5% pro Jahr zu senken?

Jean-Claude Juncker: Hätte man vor sechs Monaten diese Frage gestellt, wäre man schlicht für verrückt erklärt worden. Alles deutete damals daraufhin, dass Deutschland einen Fehlbetrag im Haushalt von fast 4% des Bruttoinlandsprodukts ausweisen wird. Jetzt hat sich, sicherlich auch als ein Erfolg des deutschen Reformkurses, die Lage deutlich aufgehellt. Wahr ist, dass die Forderung nach einer Reduzierung des strukturellen Defizits um 0,5% Teil des Pakts ist. Wahr ist aber auch, dass der reformierte Pakt eine ökonomischere Lektüre zwingend gebietet. Man muss sehr genau einschätzen, ob eine theoretische Vorgabe nicht im Endeffekt dazu führt, dass die Konjunktur abgewürgt wird.

Christof Roche: Das heißt aber nicht, dass die mittelfristige Haushaltskonsolidierung der Konjunktur untergeordnet werden soll. Ist ein solches Denkmuster nicht bereits ein erster Schritt, den Pakt zu verbiegen?

Jean-Claude Juncker: Hätte ich im vergangenen Jahr im Gespräch mit der Börsen-Zeitung erklärt, dass der deutsche Haushalt 2007 paktkonform abgeliefert werden muss, dann wäre dies als strenges Wort gelesen worden. Jetzt werde ich fast dazu gezwungen zu sagen, dass eine strikte Paktauslegung im Grunde heißt, Deutschland muss schon 2006 unter 3% kommen. Ich warte auf die Empfehlung der Kommission, die mit der deutschen Regierung im Gespräch ist. Und ich bin überzeugt, dass sich der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück bewusst ist, was das für die Glaubwürdigkeit in der Anwendung des reformierten Pakts bedeutet.

Christof Roche: Wenn sich Berlin und Brüssel auf 2007 als Ziel verständigen, muss dann das Verfahren auf jeden Fall verschärft werden?

Jean-Claude Juncker: Man wird den richtigen Weg finden, wenn man sich darauf verständigt, dass das Ziel mindestens so wichtig ist wie der Weg.

Christof Roche: Sie haben in der Vergangenheit die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank scharf attackiert. Zuletzt ist es ruhig geworden, obwohl die EZB auf die nächste Zinserhöhung zusteuert. Hat die Bank Sie mit ihren Argumenten überzeugt?

Jean-Claude Juncker: Ich habe die Geldpolitik der EZB nie scharf angegriffen. Ich habe seinerzeit die EZB angesichts der fragilen Konjunktur vor unüberlegten Zinsschritten gewarnt, aber der erfolgte Schritt war nicht unüberlegt. Insofern gibt es auch keinen Grund nachzulegen.

Wir befinden uns mit der EZB in einem konstruktiven Dialog über die grundsätzliche und über die aktuelle Ausrichtung der Geldpolitik. Ich halte wenig davon, dies öffentlich zu erörtern, besonders unter dem Eindruck, dass die Geldpolitik Teil der Verhandlungsmasse zwischen Notenbank und Büro-Gruppe ist. Das ist dezidiert nicht der Fall, weil die Einschätzung der EZB hier Vorfahrt hat.

Christof Roche: Dennoch nimmt sich die EZB das Recht heraus, ständig die Euro-Staaten wegen fehlender Strukturreformen an den Pranger zu stellen. Umgekehrt dürfen Sie...

Jean-Claude Juncker: Ich wundere mich manchmal über die Redseligkeit der EZB, wenn es um die Reformpolitik und die Führung nationaler Haushalte geht. Mehr Zurückhaltung einzelner Direktoriumsmitglieder der EZB wäre ohne jeden Zweifel angebracht.

Christof Roche: Sie stehen jetzt ein Jahr an der Spitze der Euro-Gruppe. Wenn Sie eine Zwischenbilanz ziehen, was hat sich verbessert, wo besteht noch Handlungsbedarf?

Jean-Claude Juncker: Mein erstes Jahr als Präsident der Euro-Gruppe war in zwei Teilstücke zerlegt. Die ersten sechs Monate litten darunter, dass ich, da ich gleichzeitig den Gesamtvorsitz der Europäischen Union innehatte, mich nicht voll auf die Währungszone konzentrieren konnte. Dennoch haben wir es in dieser Zeit geschafft, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu reformieren. Ich kann nach außen nicht vermitteln, welch interne Stärke der permanente Vorsitz mit sich bringt. Ohne ständigen Vorsitz wäre es nicht möglich gewesen, die Reform hinzubekommen.

Christof Roche: Wie steht es um Ihr Kernanliegen, die Koordinierung der Finanz- und Wirtschaftspolitik unter den Euro-Staaten zu vertiefen?

Jean-Claude Juncker: Wir haben Fortschritte gemacht, obwohl noch viel zu tun bleibt. Es ist aber inzwischen akzeptiert, dass die Euro-Finanzminister, bevor sie sich zu Hause an ihre Haushalte machen, diese in der Euro-Gruppe zur Diskussion stellen. Inhaltlich beschäftigen wir uns im Moment zudem intensiv mit Wachstums- und Inflationsdivergenzen in der Eurozone, die wir systematisch unter die Lupe nehmen. Wir müssen wissen, ob die Unterschiede Gefahrenelemente enthalten oder ob sie einfach dem entsprechen, was in anderen Währungszonen, wie zum Beispiel den USA, der Normalfall ist.

Christof Roche: Wie steht es um die Außenvertretung der Eurozone auf der internationalen Bühne?

Jean-Claude Juncker: Die Überzeugung der Finanzminister ist es, dass es zu einer prononcierteren Visibilität der Eurozone gehört, die Wirtschaftspolitik der Eurozone insgesamt deutlicher herauszustellen. Allerdings ist dies im Zusammenspiel mit EZB und Kommission nicht immer einfach. Ich stelle aber fest, dass sich international, zum Beispiel bei den G 7-Treffen der Finanzminister, inzwischen durchgesetzt hat, dass der Vorsitzende der Euro-Gruppe für die politischen Belange der Währungsunion eintritt und dies auch respektiert wird.

Christof Roche: Das klingt alles sehr positiv...

Jean-Claude Juncker: ...ja, unbestritten haben wir Fortschritte gemacht. Wenn ich mir aber vorstelle, was ich mit Blick auf Arbeitsmethode. Außenwirkung und innere Dynamisierung der Euro-Gruppe für absolut notwendig erachte, sind wir erst im ersten Drittel angekommen.

Christof Roche: Wäre ein eigenes Treffen der Staats- und Regierungschefs der Euro-Staaten sinnvoll, um der Währungszone noch mehr Dynamik zu verleihen?

Jean-Claude Juncker: Man muss nüchtern erkennen, dass die Euro-Gruppe kein Gesangsverein ist, wo der Vorsitzende nur ansetzen muss und dann alle mit einstimmen. Ich wünschte, dies wäre so. Auf der anderen Seite ist der besondere Reiz der Gruppe, das wir offen miteinander reden. In keiner anderen politischen Formation in Europa gibt es eine solche Dichte, auch was die individuellen nationalen Politikgestaltungsprobleme angeht. Dieser Prozess der Verständigung braucht aber Zeit. Wenn ich die Gewissheit hätte, dass die Staats- und Regierungschefs der Euro-Gruppe dadurch zusätzliche Dynamik erzielen könnten, dann würde ich dies sofort tun. Aber dies kann ich nicht erkennen.

Christof Roche: Vorausgesetzt, es geht mit der EU-Verfassung in Europa nicht weiter. Ist die Währungszone der viel beschworene Kern, der ein beschleunigtes Integrationstempo aufnehmen wird?

Jean-Claude Juncker: Ich halte die Fraktionierung der Europäischen Union nicht für ein erstrebenswertes Ziel, und auch nicht für ein Ziel an sich. Wenn sich aber herausstellen sollte, dass wir als Gemeinschaft der 25 nicht von der Stelle kommen, hielte ich eine stärkere Konzentrierung auf die eigentlichen Kräfte des Euroraums für eine Möglichkeit. Wer das aber jetzt tut – oder auch nur anmahnt -, der tut so, als habe er den Versuch schon unternommen, alle 25 zu bewegen. Das ist aber nicht passiert. Hinzu kommt, dass der Währungszone eine Kohäsion angedichtet wird, die sie nicht hat. Zur Euro-Gruppe gehören auch der französische und der niederländische Finanzminister, die beide mit einer negativen Volksabstimmung zum europäischen Verfassungsvertrag am Tisch sitzen. Die Währungszone wirft, wenn man über Kerneuropa nachdenkt, kritische Fragen auf.

Christof Roche: Mit der finanziellen Vorausschau ging die EU zuletzt bis an ihre Grenzen...

Jean-Claude Juncker: Ich gehöre zu denen, die seit vielen Jahren, spätestens seit der Agenda 2000, denken, dass wir mit der Finanzierungssystematik von heute nicht mehr weiterkommen. Europa braucht eine eigenständige Einnahmequelle. Ich will dies nicht Europasteuer nennen, weil dieser Begriff negativ belastet ist und viele auf die Barrikaden bringt. Aber die Querelen um den EU-Haushalt 2007 bis 2013 haben gezeigt, dass die EU-Finanzierung auf ein neues Fundament gestellt werden muss. Ich plädiere dafür, diese Gespräche sofort zu beginnen.

Christof Roche: Eine eigene Einnahmequelle der EU wird mit Sicherheit das Europäische Parlament auf den Plan rufen, in der Budgetpolitik stärkere Mitsprache einzufordern...

Jean-Claude Juncker: Das würde mich nicht stören.

Christof Roche: Ein anderes Thema. Sie sind gegen die Übernahme von Arcelor durch die Mittal-Gruppe. Ist das neue luxemburgische Übernahmerecht ein Anti-Mittal-Gesetz?

Jean-Claude Juncker: Die Überführung der europäischen Übernahmedirektive in luxemburgisches Recht hätte auch erfolgen müssen, wenn Mittal kein Angebot vorgelegt hätte. Alle EU-Staaten stehen in der Pflicht, die Übernahmerichtlinie bis 22. Mai national umzusetzen. Die öffentliche Meinung, dies sei eine reine Abwehrmaßnahme gegen Mittal, ist einfach falsch. Wir haben bei unserem Übernahmegesetz sehr darauf geachtet, dass wir genau kein Anti-Mittal-Recht schaffen, weil dies unredlich wäre und weil es mir darauf ankommt, dass Luxemburg ein offenes Land bleibt und sich nicht in seine Provinzen zurückzieht.

Christof Roche: Warum dennoch dieser hartnäckige Widerstand?

Jean-Claude Juncker: Weil das Mittal-Angebot nicht überzeugt. Als Arcelor damals aus Arbed, Usinor und Aceralia gegründet wurde, habe ich das industrielle Konzept anfangs ebenfalls abgelehnt. Ich habe mich anschließend aber überzeugen lassen, dass die Verschmelzung der einzige Weg war, um die europäische Stahlindustrie wieder zurück auf die Stahlweltkarte zu bringen. Dies wurde dann auch gemacht, und zwar im Einvernehmen mit den Aktionären, mit den Regierungen und mit den Gewerkschaften. Heute bin ich mit einer feindlichen Übernahme konfrontiert, bei der ich vorher nicht ins Bild gesetzt wurde, bei der nicht mit der notwendigen Sorgfalt mit Arcelor geredet wurde und wo ich kein Zukunftskonzept sehen kann. Größte Bedenken habe für die Governance der neuen Stahlgesellschaft, sollte sie zustande kommen. Wir haben Arcelor, zum Beispiel für die Arbeitnehmervertretung in den Führungsstrukturen, politische Auflagen gemacht, die Arcelor akzeptiert hat. Ich sehe nicht, wie dies mit der Unternehmensphilosophie der Mittal-Gruppe in Einklang gebracht werden kann.

Christof Roche: Sie sind als luxemburgische Regierung auch Anteilseigner bei Arcelor. Kann Mittal Sie als Aktionär nicht überzeugen?

Jean-Claude Juncker: Alle Studien zeigen uns, dass wir als Aktionär eine höhere Rendite zu erwarten hätten, wenn wir in einer Gesellschaft bleiben, die Arcelor heißt.

Christof Roche: Führen Sie Gespräche mit anderen Aktionären, um eine Abwehrfront zu organisieren?

Jean-Claude Juncker: Ich führe alle möglichen Gespräche, werde aber keine Einzelheiten nennen.

Christof Roche: Wie sieht es auf der politischen Ebene aus? Suchen Sie in der EU Verbündete, um den Druck auf Mittal zu erhöhen?

Jean-Claude Juncker: Es geht mir nicht darum, politischen Druck oder eine Drohkulisse aufzubauen. Es geht mir darum, dass die Staaten, die den heutigen europäischen Champion Arcelor auf die Beine gestellt haben, dieselbe Analyse teilen. Luxemburg wie auch Frankreich, Spanien und Belgien haben für die Restrukturierung ihrer Stahlindustrien tief in die Tasche gegriffen. Wenn ich die Euro-Milliarden addiere und diese mit dem Angebot von Herrn Mittal vergleiche, müsste ich eigentlich fast sofort zurücktreten. Es geht nicht, dass der Steuerzahler restrukturiert und der Kapitalist absahnt. Der luxemburgische Staat ist als Aktionär ein strategischer Partner von Arcelor. Das hat nichts, und darauf lege ich großen Wert, mit der indischen Nationalität und der indischen Provenienz von Herrn Mittal zu tun, den ich hoch schätze.

Christof Roche: Mittal offeriert ein Mischangebot für Arcelor. 25% in Cash, 75% über Aktientausch. Was machen Sie, wenn die Übernahme mit dem Votum der anderen Aktionäre dennoch zustande kommt?

Jean-Claude Juncker: Ich habe im Parlament erklärt, Luxemburg wird bei Arcelor Aktionär bleiben. Wenn es aber zu dem Zusammenschluss kommt, müssen wir uns die Frage stellen, ob diese Position weiter gilt oder nicht.

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