Le Premier ministre au sujet de l'avenir sur l'Europe

Gerhard Irmler: Herr Juncker, Sie werden seit einigen Jahren mit Preisen und Auszeichnungen geradezu überschüttet. Im Jahr 2003, wenn ich das richtig nachgelesen habe, waren es allein 4, darunter der Quadrigapreis, Europäer des Jahres, und nun den Karlspreis der Stadt Aachen für Ihre Verdienste um den europäischen Einigungsprozess. Und in der Würdigung heisst es: "Mit Leidenschaft und Beharrlichkeit versucht er, also Jean-Claude Juncker, die Menschen für die europäische Idee zu begeistern. Durch sein Verhandlungsgeschick hat der 51-jährige so manche Einigung auf EU-Ebene zustandegebracht. Das Karlspreisdirektorium würdigt Juncker als eine Persönlichkeit der man zutrauen kann, Europa den Weg aus der jetzigen Krise zu weisen."

Jean-Claude Juncker von Luxemburg als der weise Ritter, als jemand der Europa von den Mächten der Verzagtheit und der Finsternis rettet. Gefällt Ihnen das?

Jean-Claude Juncker: Ach, ich finde das alles ein bisschen übertrieben, und auch als ein bisschen allzu hoch aufgehängt. Aber wäre es unbescheiden sich intensiv dagegen zu wehren? Ich mag eher Beschreibungen, die dem entsprechen was ich gerne hätte, obwohl ich dem nicht immer gerecht werde, und mag eigentlich Beschreibungen, die das Gegenteil dessen über mich aussagen was ich denke zu sein, die mag ich überhaupt nicht.

Gerhard Irmler: Worin besteht denn nun die Krise von der alle schreiben, von der alle reden?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube die Krise ist so, dass die Wenigsten eigentlich wissen worin die Krise besteht. Ich glaube fundamental ist die Krise folgende. In den 60ger, 70ger, auch anfangs der 80ger Jahre hatte man, wenn man in Europa tätig war - ich war das damals nicht, weil ich habe das erst Ende 1982, 1983 angefangen - das Gefühl, man handelt eigentlich im Namen aller. Alle wollten mehr Europa. Grenzen weg, Handelshemmnisse weg. Alles was Nationen, Staaten, Regionen, ergo Menschen trennte, sollte weg.

Heute hat man das Gefühl, dass die öffentliche Meinung in all unseren Ländern, und damit auch die öffentliche Meinung in Europa, obwohl es die europäische öffentliche Meinung überhaupt nicht gibt, sich in zwei Teile aufspaltet. Es gibt 50% der Leute, grosso modo, die denken, wir brauchen mehr Europa, zu denen gehöre ich. Und es gibt etwa einen gleichen Bevölkerungsanteil, auch 50%, so schätze ich das ein, die sagen, wir haben Europa zu viel.

Das heisst, es hat sich etwas Fundamentales geändert. Früher gaben Politiker den Eindruck, sie wären eigentlich langsamer als die Völker es gerne hätten. Und heute geben die, die gerne mehr Europa hätten, den Eindruck, sie wären schneller als mindestens die Hälfte der Bevölkerung, die der Auffassung ist, es reicht jetzt, wir haben genug Europa.

Das ist die europäische Krise, weil die Politik, selbst wenn sie sonst nichts täte als das zu repräsentieren was es in der öffentlichen Meinung als Befindlichkeit gibt, überhaupt nicht mehr weiss wohin sie sich bewegen soll. Europa hat den Kompass verloren, weil die, die den Kompass in den Händen halten, ihn von links nach rechts und dann, nachdem sie von links nach rechts händemässig gewechselt haben, den Kompass in die Tasche stecken und wegwerfen. Wir sind ohne Kompass. Wir sind ohne Kompass, nicht weil die Politik schwach wäre, die ist das auch, sondern weil auch die Menschen etwas zukunftsfaul geworden sind.

Gerhard Irmler: Nun kann man aber auch denjenigen, die sozusagen Europa voran gebracht haben, die vorangingen, also nicht die Langsamsten im Geleitzug waren, zugute halten, dass bestimmte Dinge die gemacht wurden, also Einführung des Euro und andere, es gar nicht gegeben hätte, wenn man sozusagen die Bevölkerungen mitgenommen hätte, befragt hätte, wenn man also nicht eine Vision gehabt hätte.

Jean-Claude Juncker: Das bleibt für mich ein ewiges Problem, und ein demokratisches Dilemma. Ich bin fest der Meinung, wenn Kohl und Waigel, die damals in der währungspolitischen Verantwortung der Bundesrepublik standen, eine Volksbefragung zur Euroeinführung gemacht hätten, dann hätte es den Euro nie gegeben.

Wer ist jetzt der bessere Demokrat? Der, der sich in die Hände, also auch in die Fänge, seines Volkes begibt, oder der, der Mut zum Risiko zeigt, indem er es sich zu seiner staatspolitischen Auffassung macht, dass das was auf Dauer gut ist für Europa, auf Dauer auch nur gut sein kann für das eigene Land, in specie für die Bundesrepublik Deutschland?

Dieses Hin und Her zwischen wagen und Risikobereitschaft unter Beweis stellen, und sich an des Volkes Meinung auszurichten, ist ein urdemokratisches Dilemma, habe ich eben gesagt. Aber ich bin fest davon überzeugt, in den 50ger, 60ger und 70ger Jahren hätten die europäischen Völker zu allem Ja und Amen gesagt, was die Politik vorgetragen hätte. Weil die Völker eigentlich der Meinung waren, die Politik geht zu langsam, wir möchten schneller. Und jetzt habe ich den Eindruck, die Politik möchte schneller, aber die Völker Europas möchten langsamer gehen. Ich kriege diesen Konflikt nicht auf eine Reihe.

Gerhard Irmler: Hat das etwas mit Wirtschaftskrise, mit Globalisierung, mit Erweiterung zu tun?

Jean-Claude Juncker: Ich tröste mich auch mit dem Gedanken, dass man dies an objektiven Tatbeständen festmachen könnte. Und wahrscheinlich hat der Tatbestand Erweiterung zu erheblicher Europamüdigkeit in unserem Teil, im westeuropäischen Teil Europas, geführt, weil wir geschichtsträge geworden sind, das eigentlich nicht geniessen. Obwohl es ein unwahrscheinlicher Erfolg europäischer Einigungspolitik und europäischen Einigungswillens ist, dass wir europäische Geschichte und europäische Biographie nach dem osteuropäischen Kollaps von 1989-1990 friedlich wieder zusammengeführt haben. Wir geniessen dies nicht. Das wird von der ganzen Welt bewundert, aber wir sind betriebsblind geworden für derartige interne, und damit auch externe Dimensionen entfaltenden Erfolge.

Ich glaube nicht, dass das mit Wirtschaftskrise sehr viel zu tun hat. Ich glaube das hat damit zu tun, dass wir in einem schleichenden Prozess, den wir kaum zur Kenntnis genommen haben, uns fortbewegt haben von den ursprünglichen Erklärungszwängen europäischer Einigung, die richtigen Lehren aus der Doppelkatastrophe, der doppelten Kriegkatastrophe des 20. Jahrhunderts vollziehen. Jüngeren Menschen ist dies nicht mehr einleuchtend und nachvollziehbar darzustellen. Der Generation meiner Eltern schon, weil die Generation meiner Eltern zeichnet sich dadurch aus, dass Hitler ihnen die Jugend gestohlen hat. Heute weiss die Jugend nicht mehr wie das ist, wenn man ihr die Jugend stiehlt.

Gerhard Irmler: Aber das kann man ihnen doch nicht vorwerfen. Also ich meine von Jacques Delors, dem früheren Kommissionspräsidenten, stammt der Satz: "In einen Binnenmarkt verliebt man sie nicht."Was braucht also Europa jetzt, wenn die Generation heran wächst, derjenigen, die den Krieg nicht mehr erlebt haben, und die eigentlich auch nicht mehr dessen Bewusstsein haben?

Jean-Claude Juncker: Ich mache auch jüngeren Menschen überhaupt nicht den Vorwurf, weil ich auch zur Nachkriegsgeneration - wie ich hoffe immer noch deutlich sichtbar - gehöre, dass sie sich an Kriegsgeschehnisse und an Kriegserklärungen, und an Kriegsfolgen nicht mehr erinnern können. Das kann man jungen Menschen nicht zum Vorwurf machen.

Ich mach allerdings dem Zeitgeist zum Vorwurf, dass er sich von geschichtlicher Betrachtung europäischen Werdens und Wirkens verabschiedet hat, weil es halt bequemer ist, leichtfüssiger ist. Oberflächlichkeit ist immer einfacher zu leben als mürrisches und tiefgründiges Nachsinnen über das, was in Europa war. Macht den Menschen nicht zum Vorwurf, dass sie das nicht selbst erlebt haben. Ich mache dem Zeitgeist zum Vorwurf, dass er die Erinnerung nicht weitertransportiert.

Diese Vorstellung, diese - ja ich sage das mal so grob - idiotische Vorstellung, das Thema Krieg und Frieden in Europa wäre endgültig vom Tisch, ist eine völlige Verkennung der unwahrscheinlich dramatischen Kompliziertheit dieses Kontinentes.

Ende der 80ger, Anfang der 90ger Jahre sind nahezu in Europa und an der direkten Peripherie der Europäischen Union, 30 neue Staaten entstanden. Wer denkt denn, wenn man dies nicht in Ordnung bringt, wenn man diese Prozesse der Staatswerdung nicht kanalisiert, wenn man einfach hinnimmt, dass Staaten sich auch immer - das ist das Staatswerden - auf Kosten anderer entwickeln, wenn wir dies sich alles hätten ohne ordnenden Zugriff entwickeln lassen, dann hätten wir in Europa nicht die Stabilität die wir heute hätten. Und dass die Politik, die Publizistik im übrigen auch, es nicht mehr schafft, den Menschen derartige Prozesse und die Bewältigung dieser Prozesse plastisch vor Augen zu führen, ist ein Hinweis auf das total fehlende pädagogische Geschick der politisch Erklärenden.

Gerhard Irmler: Ein Argument, das Sie genannt haben für die Eurosklerose nannte man das ja wohl früher, für die Morosität, für dieses Gefühl der Krise, ist ja die Erweiterung. Und die Frage in diesem Zusammenhang, sicherlich ist die Erweiterung eine wirtschaftliche Erfolgsstory, aber sie kam bei den Menschen nicht an. Und Ihr Nachfolger im Amt des EU-Ratspräsidenten, der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, brachte dies neulich auf die Formel: "Wir verstehen viel von Makroökonomie, aber wir haben uns in der Vergangenheit zu wenig um die Sorgen und Nöten der Menschen gekümmert." Ist es das?

Jean-Claude Juncker: Ja, das mag zum grossen Teil stimmen. Ich sehe das ähnlich. Wenn man sich die Erweiterungserfolgsgeschichte nur unter makroökonomischem oder auch mikroökonomischem Vorzeichen ansieht, ist die Erweiterung ohne jeden Zweifel ein Riesenerfolg.

Ich nehme einmal das Beispiel meines Landes, das kenne ich besser. Wir haben in den Jahren seit 1992 über 600% mehr Aussenhandel mit ost- und mitteleuropäischen Staaten „erobert“ zwischen Gänsefüsschen, als dies vorher der Fall war. Wir haben unseren Aussenhandel also mit Ost- und Mitteleuropa 6 mal vergrössert. Unser Anteil am Welthandel ist 2,5 mal gewachsen. Das heisst, wir sind die Nutzniesser der Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa. Und die Ost- und Mitteleuropäer im übrigen auch, weil deren Lebensstandards, dies wurde kürzlich öffentlich gemacht, haben sich ja wesentlich nach oben verbessert.

Nun wehre ich mich dagegen, dass diejenigen die sagen, das europäische Projekt kommt deshalb bei den Menschen nicht mehr an, weil wir es nur noch ökonomisch präsentieren, dass man jetzt versucht Erweiterung nur noch ökonomisch zu motivieren. Ökonomisch geht die Sache in Ordnung, obwohl viele Menschen das gegenteilige Gefühl eigentlich haben, weil sie von Betriebsverlagerungen mehr hören als von denen sich in unseren westeuropäischen Ländern ergebenen Potentialsteigerungen durch die Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa herbeigeführt.

Aber es geht auch um die Menschen, das ist für mich das Wichtigere. Dass wir es in Europa geschafft haben dieses Nachkriegsdekret das wollte, dass Europa auf immer in zwei Teile geteilt wäre, diejenigen die in der Sonne der Freiheit - ich werde jetzt ein bisschen pathetisch - aufwuchsen, und diejenigen die doch in einer bürgerrechtlichen Dunkelkammer aufwachsen mussten. Dass dieses Nachkriegsdekret gebrochen wurde, und dass wir seit 1989-1990 erleben, und das geniessen wir überhaupt nicht, dass nicht mehr mit den Menschen Geschichte gemacht wird, sondern dass die Menschen wieder selbst Geschichte gemacht haben, und sich in Richtung Freiheit - das ist immer der schwierigere Weg - auf den Weg gemacht haben. Das ist mir doch wichtiger als der kurzfristige, wahrscheinlich auch sich mittelfristig verfestigende wirtschaftliche Vorteil, dies wir aus der Europäischen Union gezogen haben. Wissen Sie, das ist keine Anekdote, sondern eine wahrheitsgetreue Schilderung, die ich Ihnen anvertrauen möchte und denen auch, die so freundlich sind uns zuzuhören.

Ich habe 1997, als damals noch junger Premierminister, den Erweiterungsgipfel der Europäischen Union hier in Luxemburg geleitet. Wir haben im Dezember 1997 die Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa beschlossen, und hatten dann auch eine Sitzung mit den dann neuen Kandidatenkollegen aus den ost- und mitteleuropäischen Staaten. Und über Tisch habe ich gefragt in die Runde der Ost- und Mitteleuropäer, nicht der Zyprioten und nicht der Malten, nur der Ost- und Mitteleuropäer hinein: "Was habt ihr heute auf den Tag genau vor 10 Jahren gemacht, ihr Premierminister und Staatspräsidenten die hier sitzt?" Und sechs von diesen acht ost- und mitteleuropäischen Staaten, die jetzt am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten sind, sassen an dem Tag noch im Gefängnis.

Wir sind kleinmütig geworden.

Gerhard Irmler: War es ein Fehler über die Verfassung abstimmen zu lassen in Form von Referenden? Es gibt von Bertolt Brecht ja diesen Satz, sie sollen sich ein anderes Volk wählen. Sie haben ja Folgendes angesprochen, dass die Politik, also die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union und ihre Aussenminister, den Menschen sozusagen viel zu weit voraus gelaufen sind, und sie nicht mehr mitgenommen haben.

Jean-Claude Juncker: Nicht alle aber viele, und es gibt auch einige Leisetreter in der Runde der Staats- und Regierungschefs und der Aussenminister. Nein, ich finde nicht dass das ein Fehler war. Ich bin mit dem Ergebnis der Referenden in Frankreich und den Niederlanden selbstverständlich nicht zufrieden, bin nicht happy darüber. Aber wenn es um wichtige Weichenstellungen geht, wenn es um Zukunftsfragen geht die mehrere Generationen, je nach Antwort, binden werden, und auf Dauer binden werden, halte ich es nicht für abwegig via Volksbefragung zu ergründen, was die Völker Europas über derartige Schritte denken. Wir haben auch in Luxemburg ein Referendum, eine Volksbefragung gehabt, in äusserst schwierigen Umständen, weil kurz, wenige Wochen nach [unterbrochen]

Gerhard Irmler: Sie haben die Notbremse sogar ziehen müssen, damit die Luxemburger richtig wählen.

Jean-Claude Juncker: Ja, ja.

Gerhard Irmler: Erinnern Sie sich?

Jean-Claude Juncker: Ja, ich habe da eine relativ lebhafte Erinnerung daran, dass ich den Luxemburgern sagte, das haben viele Luxemburger auch im übrigen als Erpressungsversuch verstanden, dass wenn die Luxemburger diesen Vertrag ablehnen, dass ich dann nicht mehr Premierminister in Luxemburg bleiben möchte. Aber dies ist eine persönliche Angelegenheit fast, zwischen dem luxemburgischen Volk und mir.

Wer einen Vertrag unterschreibt, wer dafür kämpft - obwohl ich gegen diesen Vertrag viele Einwände vorzubringen habe, und dieser Vertrag überhaupt nicht dem entspricht was ich, wäre ich allein zuständig für die Geschicke des europäischen Kontinentes, in diesen Vertrag geschrieben hätte, aber das ist nun halt Demokratie, dass man sich auch auf andere zubewegen muss. Wer einen Vertrag unterschreibt, wer dafür wirbt, wer sich dafür einsetzt, der muss auch die demokratische Konsequenz aus einem negativen Votum seines Volkes zu ziehen bereit sein. Ich gebe ganz gerne zu, dass dies schwierigste Fragen sind die man dem Volk souverän vorlegt, technische Fragen, politische Fragen, institutionelle Fragen, weltweit diplomatisch zu organisierende Fragenkomplexe. Aber Volk ist Volk. Wir leben in einer Demokratie. Wer sagt, man darf das Volk nicht fragen, der ist sehr nahe bei Brecht.

Gerhard Irmler: Um mal auf dieses Referendum in Frankreich und den Niederlanden zurückzukommen, das spiegelt ja auch die Stimmung in anderen Staaten wider. Man kann ja für nichts sein was man nicht vermisst. Die Menschen haben ja nicht auf die europäische Verfassung gewartet, sie leben in Rechtsstaaten, sind alles Demokratien. Also wozu eigentlich überhaupt eine Verfassung?

Jean-Claude Juncker: Wissen Sie, da kitzeln Sie mich an einer völlig unempfindlichen Stelle. Ich habe aktenkundig mich immer gegen den Ausdruck europäische Verfassung gewehrt. Mir hätte ein europäischer Grundlagenvertrag, oder Grundvertrag gereicht, dass wir einmal aufschreiben was Sache ist, und was Sache sein muss in Europa. Das muss man nicht Verfassung nennen.

Was bringen die Menschen mit dem Ausdruck Verfassung in Verbindung? Sie bringen nationale Kontexte, nationale Nähe, Landschaften, Menschen, Parteiensysteme, regionale Ordnungen, nationale Verfasstheiten in Zusammenhang.

Unsere saarländischen und rheinland-pfälzischen Nachbarn haben eine Landesverfassung, die ist ihnen wichtig. Wurde zwar nie nachgefragt, aber ich gehe mal davon aus, dass das ihnen wichtig ist. Es gibt das Grundgesetz. Das ist der Verfassungsrahmen in dem die Menschen leben. Wenn jetzt plötzlich die Europäische Union sagt, wir werden jetzt verfassungsgeberisch tätig, nährt das den Verdacht, dass die Nationalstaaten langsam verschwinden, und dass so etwas wie ein europäischer Staat, die vereinigten Staaten von Europa heranwüchse, und das mögen die Menschen nicht.

Und die Menschen haben auch völlig Recht, dass sie das nicht mögen. Ich möchte nie nur Europäer sein, ich bin auch gerne Luxemburger. Und die Deutschen möchten Deutsche sein, auch wenn sie Europäer sind. Und die Bayern möchten Deutsche und Europäer sein, aber auch Bayern.

Also dieses Gefühl, hier kommt die grosseuropäische Planierraupe und walzt alles nieder was es an Nationalem gibt, was es an Nationalstaatlichem gibt, ist ein Eindruck den wir durch unvorsichtiges Formulieren geradezu provoziert haben. Und Menschen wissen, dass man Verfassungen nicht abändern kann wie man ein einfaches Gesetz abändert, und denken dann diesen europäischen Verfassungsvertrag, den kann man nie mehr ändern. Obwohl man ihn hätte so ändern können wie alle internationale Verträge.

Wir haben uns in der Terminologie sträflichst daneben benommen.

Gerhard Irmler: Nehmen wir das 421-Seiten starke Werk und packen es ganz unten in die Schublade und warten 10 Jahre ab, bis es sozusagen euterreif ist, zu Diskussionen?

Jean-Claude Juncker: Nein, das sehe ich nicht so. Weil es hat ja europäische Verträge gegeben, und die hat man in Ordnung gebracht, in dem sogenannten dritten Teil der europäischen Verfassung, wo die bestehenden Politiken beschrieben und auch juristisch ausformuliert wurden.

Man hat den Eindruck bei diesen negativ verlaufenden Referenden, die Menschen hätten diesen Verfassungsvertrag inklusiv seinem dritten Ding, die aktuelle Politik beschreibenden Teil abgelehnt. Wenn ich den Menschen zur Abstimmung das vorlegen würde, was zur Zeit in Kraft ist, wären das 10, 15, 20 Bände. Es war eine Vereinfachung des Textes an die gedacht wurde, und die wurde empfunden weil das Ding halt Verfassung hiess. Als ob wir jetzt diese Texte in Marmor eingraben würden.

Nein, ich bin der Meinung, dass wir diesen Verfassungsprozess weiter führen müssen. Es gibt 16 Staaten mit Finnland - die Finnen werden demnächst den Vertrag ratifizieren - die ratifiziert haben werden, und die zwei die nicht ratifiziert haben, müssen auch auf die hören, die ratifiziert haben, und vor allem die, wie die Spanier und wir, die das via Referendum gemacht haben. Und die, die Ja gesagt haben, müssen auch hinein hören in die Befindlichkeit derer, die Nein gesagt haben. Aber dass wir einfach jetzt stehen bleiben würden, hielte ich für einen Fehler. Wir sollten weiterhin nachdenken, gemeinsam nachdenken, und dann 2007, 2008, 2009 zu weiterführenden Beschlüssen kommen. Wir können nicht nur diskutieren, aber wir müssen auch reflektieren bevor wir die Ergebnisse konsumieren können.

Gerhard Irmler: Würde es vielleicht leichter gehen, wenn zunächst mal eine Diskussion darüber geführt würde, wo Europas Grenzen sind, was Europa sein soll, ein politisch verfasstes Gebilde, wie auch immer das verfassungsrechtlich abgesichert sein soll, oder eine Freihandelszone mit ein bisschen Gemeinschaftsinstitutionen? Diese Frage wurde ja nie diskutiert in Europa.

Jean-Claude Juncker: Also, da möchte ich Ihnen doch sehr energisch widersprechen. Nicht energisch, einfach widersprechen, das reicht ja. Dieses Vertragsfeld das wir zu Unrecht, wie ich finde, europäischen Verfassungsvertrag genannt haben, beschreibt sehr genau was die Europäische Union ist. Obwohl man nicht in allen Winkel wird ausleuchten können, wie sich diese Europäische Union, die wir rüsten, und als einen Konstrukt sui generis bezeichnen, sich in Zukunft wird bewegen können und müssen.

Aber es ist in diesem sogenannten Verfassungsvertrag klar, dass die Europäische Union, das nennen wir Kompetenzzuordnung, nur das tut, was die Europäische Union besser tun kann als die einzelnen Nationalstaaten. Und dass die Nationalstaaten eigentlich den grösseren Kompetenzraum in den politischen Gestaltungsprozessen ihr Eigen nennen würden können, wenn denn dieser sogenannte Verfassungsvertrag in Kraft träte, als die Europäische Union.

Das was wir anstreben sind nicht die vereinten Staaten von Europa. Ich wehre mich gegen diesen Begriff aus den 50ger Jahren und später. Dieser Begriff, vereinigte Staaten von Europa von Churchill, in seiner Züricher Rede 1946 schon angemahnt, und von vielen anderen nachgebetet, wird ja verständlich aus dem Kriegsdurcheinander, und aus den Verwerfungen des Kontinentes in der zweiten Hälfte der 40ger Jahren.

Es ist kein Begriff mehr der auf unsere Zeit passt. Wir wollen nicht die vereinten Staaten von Europa so wie die Vereinigten Staaten von Amerika sich selbst Vereinigte Staaten nennen konnten. Nein, nein, nein, ich hätte gerne, dass man begreift, dass die Nationalstaaten an sich nichts Böses sind. Der Nationalstaat, wenn er sich auf sich selbst besinnt, und die anderen nicht verachtet, sich nicht gegen die anderen richtet, sondern versucht mit anderen in engster Umarmung europäische Schicksale zu gestalten, ist nichts was ich ablehnen würde. Wer denkt, der Nationalstaat wäre ein Provisorium der Geschichte, etwas Vorübergehendes, der irrt sich. Nationalstaaten sind auf Dauer eingerichtet, weil Menschen so etwas wie Nähe brauchen, Proximität wie die Franzosen sagen. Und diese Nationalstaaten müssen dadurch, dass sie die Souveränitätsteile aufgeben, die sie selbst nicht mehr voll effektiv und voll umfänglich mit politischen Inhalten ausfüllen können…

Gerhard Irmler: Haben Sie dafür Beispiele?

Jean-Claude Juncker: …. auf die europäische Ebene transferieren.

Währungspolitik beispielsweise. Die in Deutschland ist - ich bin ja ein ausgewiesener, denke ich, Deutschlandfreund - ein kleines Land wenn es um internationale Währungspolitik geht. So tüchtig die deutsche Wirtschaft war, so erfolgreich die deutsche D-Mark war, so wenig würde deutsche Währungspolitik, "deutsch-nationale" zwischen Gänsefüsschen, Geldpolitik in der Welt bewirken können.

Gerhard Irmler: Kriminalität?

Jean-Claude Juncker: Der Euro kann mehr für die Deutschen. Kriminalität kann man ja nicht mehr als Bundesland oder als Bundesrepublik bekämpfen, grenzüberschreitendes Verbrechen [unterbrochen]

Gerhard Irmler: Aussenpolitik?

Jean-Claude Juncker: Internationaler Terrorismus ist doch eine Aufgabe aller Staaten.

Aussenpolitik. Da tun sich grössere Flächenstätten in Europa leichter als so Ministaaten wie Malta, oder Luxemburg, oder auch viele andere. Aber deutsche Aussenpolitik ohne in europäische Aussenpolitik eingebunden zu sein, hat Null Wirkung in der Welt. Europäische Aussenpolitik mit starkem deutschem Einschlag, mit starker französischer Influenz, weil Deutsche und Franzosen einfach international mehr zu bestellen haben als Luxemburger, Dänen oder Griechen. Und das ist das, was wir brauchen. Gemeinsam stark sein, anstatt individuell zu scheitern.

Gerhard Irmler: Darf ich Ihnen noch zwei Fragen stellen, mit wirklich kurzen Antworten bitte. […]

Jean-Claude Juncker: Ich schaffe das nie.

Gerhard Irmler: […] Ich will Ihnen dennoch jetzt nochmals die Gretchenfrage stellen. Wie halten Sie es mit dem Beitritt der Türkei? Jetzt sind wir wieder bei den Grenzen, jetzt sind wir wieder bei dem was Europa ist. Ein Christenclub soll es ja nicht sein.

Jean-Claude Juncker: Ich bin gegen ein Europa der Christen, das macht überhaupt keinen Sinn, obwohl ich mich sehr wohl als Christ bezeichnen würde.

Ich hätte es für einen verheerenden Fehler gehalten, wenn wir mit der Türkei keine Beitrittsverhandlungen begonnen hätten. Ich würde es für einen mindestens so verheerenden Fehler halten, wenn wir diese Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht ergebnisoffen führen würden. Und diese Verhandlungen müssen ergebnisoffen geführt werden. Und vielleicht wird sich herausstellen, ich denke sogar, es wird sich eines Tages herausstellen, dass die Türkei nicht in dem Sinne Vollmitglied werden kann, wie Deutschland, Luxemburg, Frankreich oder Belgien.

Gerhard Irmler: Herr Juncker, Sie sind mit 28 in die Politik gekommen, jetzt sind Sie 51, Premierminister von Luxemburg. Was kann so jemand wie Sie, der auch natürlich Europa kennt und mitgeprägt hat, eigentlich noch werden? Kommissionspräsident wollten Sie nicht werden. Wie sieht es denn aus mit einem EU-Ratspräsidenten, einem amtierenden auf Zeit gewählten EU-Ratspräsidenten?

Jean-Claude Juncker: Ich wollte nicht Kommissionspräsident werden, obwohl alle mich darum gebeten hatten, weil ich den Luxemburgern versprochen hatte, dass, würde meine Partei die Wahl im Juni 2004 gewinnen, die am selben Tag stattfand wie die Europawahlen, ich Ministerpräsident in Luxemburg bleiben würde. Ich bin immer wieder erstaunt, dass man darüber erstaunt ist, dass man auch Montags nach der Wahl sich noch an das erinnert was man Samstags vor der Wahl gesagt hat.

Gerhard Irmler: Das sind die Leute nicht gewöhnt.

Jean-Claude Juncker: Das ist das Problem der Leute, nicht meines. Ich bin es gewohnt, es sei denn, es würden dramatische Veränderungen eintreten, mich an das zu halten was ich den Menschen versprochen habe. Die Politik hat oft genug gelogen, sie sollte sich darum bemühen wahrhaftiger zu werden.

Gerhard Irmler: Und wie sieht es aus mit einem Posten als EU-Ratspräsident, der ist ja in der Verfassung vorgesehen, 2,5 Jahre gewählt, der Präsident von Europa? Reizt Sie das?

Jean-Claude Juncker: Ich verfüge nicht über eine derart detailreiche Lebensplanung, wie Ihre Frage vermuten liesse.

Gerhard Irmler: Ich danke Ihnen schön für das Gespräch.

Jean-Claude Juncker: Danke sehr.

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