"Ich möchte Kerneuropa nicht, aber es wird kommen". Jean-Claude Juncker au sujet de l'avenir de l'Europe

Sie haben vor einem Jahr behauptet, Europa befinde sich in einer tiefen Krise. Gilt das noch?

Jean-Claude Juncker: Ich sehe das heute abgekühlter, aber nicht wesentlich anders. Europa steckt in einer tiefen Krise. Diese Krise besteht darin, daß ein Teil der Bevölkerung denkt, wir hätten nicht genug Europa. Der andere Teil der europäischen Bürger denkt, wir hätten längst zuviel Europa. Und die Politik schafft es nicht, den Spagat zwischen diesen beiden Polen zu machen und zwischen ihnen zu vermitteln.

Die politischen Eliten haben demnach versagt.

Jean-Claude Juncker: Die politischen Eliten haben versagt, aber auch das gesunde Volksempfinden. Von den fünfziger bis in die neunziger Jahre hinein hatten die Politiker das Gefühl, daß sie im Namen der "europäischen Völker" handelten. Heute wissen wir gar nicht mehr, was die "europäischen Völker" eigentlich wollen. Mal wollen sie mehr Europa, mal wollen sie weniger. Früher haben uns die Völker gedrängt, schneller voranzuschreiten mit der Integration. Jetzt wollen sie abbremsen.

Viele Menschen fürchten durch Europa wirtschaftliche Nachteile, insbesondere infolge der Erweiterung. Erklärt das den Bewußtseinswandel?

Jean-Claude Juncker: Ich bezweifle, daß diese angst begründet ist. Die Kommission hat in einem Bericht zur Erweiterung bewiesen, daß die Aufnahme neuer Länder in die EU ein großer wirtschaftlicher Gewinn für die alten Mitgliedsstaaten war.

Das mag sein. Aber viele Menschen bleiben skeptisch.

Jean-Claude Juncker: Es ärgert mich, daß wir in den westlichen Gesellschaften keine Freude darüber empfinden, daß beide Teile Europas zusammengefunden haben. Früher waren die Raketen aus dem Osten auf uns gerichtet - das hat Angst gemacht. Heute sind die Hoffnungen der Menschen aus Mittel- und Osteuropa auf uns gerichtet - und das macht uns erstaunlicherweise noch größere Angst als die Raketen.

Wie wird die EU in 20 Jahren aussehen?

Jean-Claude Juncker: In 20 Jahren werden der EU 27 bis 33 Mitglieder angehören. Irgendwann wird diese Gruppe dann feststellen, daß sie nicht in allen Punkten gemeinsam Zukunft gestalten kann. Dann wird sich eine Kerngruppe formieren, die nicht identisch sein wird mit der Euro-Gruppe - aber fast. Um diese Kerngruppe herum wird es die normalen Mitglieder geben. Sie müssen die Kernanliegen der EU in der Steuer-, Innen- und Außenpolitik nicht vertiefen. Ich möchte dieses Kerneuropa nicht. Aber es wird sich eines Tages herausbilden als der einzige Weg aus der kollektiven Ausweglosigkeit, die eine Verständigung auf gemeinsame Ziele unmöglich macht.

Wird dieses Kerneuropa auch vertraglich abgesichert werden?

Jean-Claude Juncker: Das wird wohl so sein müssen. Es wird in Europa eine Zeit der Rütlischwüre kommen.

Wie läßt sich die europäische Verfassung retten?

Jean-Claude Juncker: Frankreich und die Niederlande haben nach ihrer Ablehnung der Verfassung eine Bringpflicht. Sie müssen einen Vorschlag machen, mit dem die anderen Staaten leben können. Es kann nicht sein, daß die 16 Länder, die bereits ratifiziert haben, schlaflose Nächte verbringen und überlegen, was man tun könnte, damit die Franzosen und Niederländer zustimmen.

Wann rechnen Sie mit der Ratifizierung einer Verfassung?

Jean-Claude Juncker: Ich rechne frühestens 2009 mit der Verabschiedung einer europäischen Verfassung. Im übrigen sollte man die deutsche Ratspräsidentschaft mit der Verfassungsfrage nicht überfrachten - die deutsche Bundesregierung wird in dieser Frage im Jahr 2007 keine epochalen Fortschritte machen.

Wäre es sinnvoll, diejenigen Staaten, die nicht ratifizieren, von der weiteren europäischen Integration auszuschließen?

Jean-Claude Juncker: Es wäre durchaus vorstellbar, die EU ohne die Briten fortzuführen, wenn sie die Verfassung ablehnen sollten. Ich wünsche mir das aber nicht. Auf Frankreich kann die Europäische Union aber nicht verzichten. Wenn Deutschland und Frankreich sich nicht in eine Richtung bewegen, wird das europäische Triebwerk so schwer gestört sein, daß der Karren nicht mehr zu ziehen ist.

Werden Bulgarien und Rumänien zum 1. Januar 2007 der EU beitreten?

Jean-Claude Juncker: Wenn Bulgarien und Rumänien nicht bereit sind, die Bedingungen der Europäischen Union rechtzeitig zu erfüllen, wird es keinen Beitritt zum 1. Januar 2007 geben. Ich fordere beide Länder auf, ihre Reformanstrengungen in den kommenden Wochen zu verstärken, damit sie reif für eine Aufnahme werden.

Wie aufnahmefähig ist die Union?

Jean-Claude Juncker: Wir wollen während des europäischen Gipfels die Kommission damit beauftragen, einen Bericht darüber vorzulegen, wie aufnahmefähig die EU ist.

Aber was sind Ihre Vorstellungen?

Jean-Claude Juncker: Es sollten nur solche Länder in die EU aufgenommen werden, die zu einer politischen Vertiefung der Union bereit sind. Es reicht nicht, eine gehobene Freihandelszone zu wollen.

Sie haben dabei die britische Regierung in Verdacht:

Jean-Claude Juncker: Mir fällt auf, daß diejenigen, die sich mit einer vertieften Integration schwer tun, identisch sind mit jenen, die ohne Prüfung der Aufnahmefähigkeit der EU eine Erweiterung vorantreiben wollen.

Sollte die Union stärker als globaler Akteur auftreten?

Jean-Claude Juncker: Es gibt in der ganzen Welt eine starke Nachfrage nach Europa. Wir müssen uns dieser Nachfrage stellen. Die Europäische Union muß stärker global präsent sein. Das ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch in unserem eigenen Interesse. Wenn wir das nicht tun, werden Millionen von Flüchtlingen nach Europa strömen.

Braucht die EU eine eigene Armee?

Jean-Claude Juncker: Es wäre sinnvoll, eine eigene europäische Armee aufzustellen, um den gewachsenen Aufgaben der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gerecht werden zu können. Eine zivile Konfliktlösung ist nicht bei allen Krisen möglich. Darum brauchen wir auch einen starken militärischen Arm, um Krisen bewältigen zu können. Je europäischer dieser Arm ist, um so besser.

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