"Viele Polen haben ein falsches Deutschlandbild". Jean-Claude Juncker au sujet des relations entre l'Allemagne et la Pologne, les négociations d'adhésion avec la Turquie et le traité constitutionnel

Stuttgarter Zeitung: Herr Premierminister, die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland ist auch wegen des gemeinsamen Einsatzes für ein friedliches Europa geglückt. Beim Verhältnis zwischen Deutschland und Polen ist das Gegenteil der Fall. Überrascht Sie das?

Jean-Claude Juncker: Ich bin von der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen nach der Erweiterung der Europäischen Union sehr enttäuscht. Enttäuscht deshalb, weil ich der Auffassung bin, dass der deutsch-polnischen Freundschaft in den kommenden Jahrzehnten die gleiche Bedeutung zukommen wird, die der deutsch-französischen Freundschaft für die zurückliegenden Jahrzehnte zukam. Ich beklage, dass viele Polen ein völlig falsches Deutschlandbild haben. Sie bringen Deutschland sogar offenes Misstrauen entgegen.

Stuttgarter Zeitung: Ist dieses Misstrauen aus polnischer Sicht denn gerechtfertigt?

Jean-Claude Juncker: Ich kann keinen Grund erkennen, warum man Deutschland im Jahr 2006 kein Vertrauen entgegenbringen kann. Aus eigenem Erleben weiß ich, dass Deutschland uns allen in Europa noch nie so ein guter Nachbar war wie jetzt. Aus diesem Grund bemühe ich mich darum, dass man in Polen endlich zu einem geläuterten Deutschlandbild kommt. Und dass sich die Politiker in Warschau in die deutsch-polnischen Freundschaft - die essenziell ist für die Europäische Union - stärker einbringen.

Stuttgarter Zeitung: Diese Haltung der Polen ist erstaunlich. Deutschland hat im Vorfeld der Erweiterung sehr viel für Polen getan.

Jean-Claude Juncker: Ich habe selbst erlebt, dass sich die drei deutschen Kanzler Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel immer sehr engagiert für polnische Belange in der EU eingesetzt haben und einsetzen. Ich glaube nicht, dass sich diese Politiker dafür Dank von der polnischen Seite erwarten. Aber in Warschau muss man wissen, dass der reibungslose Beitritt Polens in die EU und die Bereitschaft der Union, auf polnische Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen, ohne maßgebliches deutsches Zutun nicht zu Stande gekommen wäre.

Stuttgarter Zeitung: Verstehen Sie die Haltung der Polen? Das Abkommen über die Gaspipeline zwischen Deutschland und Russland hat die Emotionen hoch schlagen lassen. Sogar von einem neuen Hitler-Stalin-Pakt war die Rede.

Jean-Claude Juncker: Um ehrlich zu sein, hätte ich mir gewünscht, dass man auf deutscher Seite in diesem speziellen Punkt stärker Rücksicht auf polnische Befindlichkeiten genommen hätte. Aber noch einmal: es darf nicht vergessen werden, dass sich Deutschland immer sehr für die polnischen Belange in der EU eingesetzt hat.

Stuttgarter Zeitung: Diese grundsätzlichen Probleme mit Polen werfen einen Schatten auf die Beitrittsgespräche mit der Türkei. Man möchte sich nicht noch mehr Probleme einhandeln.

Jean-Claude Juncker: Ich habe den Eindruck, dass sich die meisten Menschen in unserem Teil Europas die Türkei nicht als EU-Mitglied vorstellen können.

Stuttgarter Zeitung: Dennoch begannen die Beitrittsgespräche.

Jean-Claude Juncker: Es wäre ein großer Fehler gewesen, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht zu eröffnen. Alles andere wäre in den Augen der Türken und vieler anderer als die Weigerung Europas verstanden worden, sich eine gemeinsame Zukunft mit der Türkei vorzustellen. Ich muss aber auch anmerken, dass die Gespräche mit Ankara ein langwieriger Prozess sind. Die Türkei muss sich streckenweise fundamental verändern, um beitrittsfähig zu werden. Und die Türkei muss auch wissen, dass diese Phase ein offener Prozess ist. Das ist keine leere Formel. Erst am Ende dieses Verhandlungswegs wird endgültig darüber entschieden, ob dieser Beitritt machbar ist. Das heißt, dass es Sache der Türkei ist zu beweisen, dass sie "europatauglich" ist.

Stuttgarter Zeitung: Im Fall der Türkei fällt auf, dass die Kritik an der EU nicht immer auf die Sache zielt, sondern von vielen Politikern zur Schärfung des eigenen Profils genutzt wird.

Jean-Claude Juncker: Es ist wirklich zur Mode geworden, schlecht über die EU zu reden. Darüber wird vergessen, wie viel wir der Union zu verdanken haben. Aber ich versuche dieser Miesmacherei entgegenzuwirken. Nicht weil ich Lust habe, das Gegenteil dessen zu tun, was gerade Mode ist, sondern weil ich es für gefährlich hielte, wenn sich diese Mode endgültig in den Herzen und den Köpfen der Menschen festsetzten würde.

Stuttgarter Zeitung: Mode ist es auch, über die siechende Verfassung herzuziehen. Offensichtlich hat das Volk den Eindruck, dass den Politikern die Ideen ausgegangen sind und sie das Regelwerk aufgegeben haben.

Jean-Claude Juncker: Wenn wir nach dem Nein bei den Referenden in Frankreich und den Niederlanden einfach weitergemacht hätten wie zuvor, wenn man keine Pause eingelegt hätte, dann würde man die europäische Politik beschuldigen, autistisch und schwerhörig zu sein. Wir befinden uns in einer Denkpause, von der ich zugebe, dass sie sich manchmal mehr an Pause als an Denken erinnert. Aber ich gehe davon aus, dass es während der deutschen Präsidentschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2007 gelingen wird, den Vertragszug wieder auf die Gleise zu stellen. Es können sicher nicht alle Fragen vor dem Ende des deutschen Vorsitzes beantworten werden. Aber es wird den Deutschen ohne jeden Zweifel gelingen, die Punkte zu orten, die dazu beigetragen haben, dass dieser europäische Verfassungsvertrag nicht überall einen gleichwertigen Zuspruch gefunden hat.

Stuttgarter Zeitung: Was heißt das konkret?

Jean-Claude Juncker: Es wäre schon viel, wenn es gelänge, einige falsche Optionen auszuschließen. Dass man diesen Vertrag zum Beispiel nicht von Grund auf neu verhandeln kann. Es kann nicht sein, dass das gesamte Werk in seine Einzelteile zerlegt wird. Es kommt darauf an, die Gleichgewichte, die nach langen Verhandlungen erreicht wurden, in ihrer Substanz zu erhalten. Wenn dies gelänge, wäre die deutsche Präsidentschaft von Erfolg gekrönt.

Stuttgarter Zeitung: Das klingt so, als ob bei der Verfassung mehr deutsches Engagement nötig sei?

Jean-Claude Juncker: Es ist eine Binsenweisheit, dass in Europa nichts gelingen wird, was nicht von Deutschland mitgetragen wird. In Berlin darf man aber nicht vergessen, dass Deutschland nur dann in Harmonie mit sich selbst leben wird, wenn es nicht nur eine Nabelschau betreibt, sondern sich europadienlich bewegt.

Dernière mise à jour