"Wir brauchen in Europa ein Grundeinkommen für alle". Jean-Claude Juncker au sujet de l'actualité européenne

Frankfurter Rundschau: Was verbinden Sie mit dem Begriff "Unterschicht"?

Jean-Claude Juncker: Eine deutsche Debatte. Ich mag den Ausdruck nicht. Aber wenn er die Situation derer wiedergibt, die abgehängt werden, die nicht mitkommen, die in Armut abzudriften drohen, dann beschreibt dieser Begriff eine Realität, vor der viele die Augen verschließen.

Frankfurter Rundschau: Sie setzen sich seit Jahren für soziale Mindeststandards in Europa ein. Tatsächlich gibt es aber immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Warum versagt die EU bei der sozialen Absicherung?

Jean-Claude Juncker: Die Missstände gehen zunächst einmal auf eine verfehlte nationale Politik zurück. Im Laufe der vergangenen 15 Jahre beobachte ich mit wachsendem Unmut, dass in Europa zunehmend unregelmäßige Arbeitsverhältnisse zur Regel werden, die früher zu Recht als atypisch bezeichnet worden wären. Ich bin da konservativ.

Frankfurter Rundschau: Was heißt das?

Jean-Claude Juncker: Arbeitnehmer haben Anspruch auf ein Mindestmaß an Sicherheit. Deshalb sollte der unbefristete Arbeitsvertrag die Regel sein. Wer alle sechs Monate um seine berufliche Zukunft bangen muss, kann nicht planen, seinen Kindern keine Perspektive bieten und letztlich auch nicht konsumieren. Diejenigen, die der neuen Mode von Flexibilität und prekären Arbeitsverhältnissen huldigen, werden noch erleben, was sie damit anrichten.

Frankfurter Rundschau: Was befürchten Sie?

Jean-Claude Juncker: Es wird der Zeitpunkt kommen, dass sich große Teile der Arbeitnehmer gegen die systematische Verunsicherung wehren werden, weil sie sich in diesem Europa und in ihren nationalen Staaten nicht mehr aufgehoben fühlen. Deregulierung um jeden Preis bringt letztlich auch die Wirtschaft nicht voran, sie schadet ihr eher.

Frankfurter Rundschau: Das sehen aber viele ganz anders!

Jean-Claude Juncker: Die geäußerten Befürchtungen haben doch nichts mit falsch verstandener Arbeiterromantik zu tun. Dahinter steckt vielmehr die große Sorge, dass sich die Mehrheit der Europäer - und das sind nun mal die Arbeitnehmer - von dem europäischen Projekt abwendet.

Frankfurter Rundschau: Am 1. Januar 2007 übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Die Bundesregierung will in dieser Zeit vor allem die Sozialpolitik in den Vordergrund rücken. Was kann, was muss sie tun?

Jean-Claude Juncker: Die Europäische Union muss auch eine Sozialunion werden. Derzeit bekommen Ordnungspolitiker allein schon bei der Vorstellung einer Sozialunion krankhafte Anfälle. Die Bundesregierung sollte die sechs Monate Ratspräsidentschaft dazu nutzen, um das Thema Sozialpolitik auf längere Sicht neu zu beleben. Ich hoffe nicht, dass dies eine Eintagsfliege bleibt - auch keine Semesterfliege.

Frankfurter Rundschau: Welche Mindeststandards halten sie in der EU für unerlässlich?

Jean-Claude Juncker: Ein Grundeinkommen. Das heißt: Jeder, der in einem EU-Mitgliedsland wohnt, hat Anspruch auf ein Mindesteinkommen. Dieses muss natürlich nicht überall gleich sein. Brüssel kann nicht die Höhe festlegen, sollte aber prinzipielle Regeln für eine soziale Grundsicherung formulieren.

Frankfurter Rundschau: Manche schreiben die sozialen Spannungen in der EU auch der Osterweiterung zu. Verstehen Sie die Ängste vor der neuen Konkurrenz?

Jean-Claude Juncker: Ich verstehe sie, aber ich teile sie nicht. Die Erweiterung und ihre Chancen sind ja nur richtig zu begreifen, wenn wir uns in die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges zurückversetzen. Seit 1990 sind an der direkten Peripherie der Europäischen Union 23 neue Staaten entstanden: Von den acht mitteleuropäischen Ländern, die am 1. Mai 2004 der EU beigetreten sind, hat es sechs Anfang der neunziger Jahre noch nicht unter eigener Staatsform gegeben.

Frankfurter Rundschau: Die Konsequenz?

Jean-Claude Juncker: Es gab verschiedene Szenarien: Wir lassen zu, dass die Länder auf dem europäischen Kontinent ihre wieder gewonnene oder neu erfundene Souveränität total austoben. Das tun Staaten, wenn sie nicht in eine Fassung und in einer Verfassung eingebunden sind. Deshalb wurde den Ländern der Weg in die EU geebnet. Andernfalls wäre es heute um Europa erheblich schlechter bestellt.

Frankfurter Rundschau: Aber es macht sich doch Ernüchterung breit, weil die Verhältnisse in manchen jüngeren Beitrittsländern instabiler als erwartet sind?

Jean-Claude Juncker: Das liegt unter anderem daran, dass viele auch in Mitteleuropa von der Mode infiziert wurden, die Lebensverhältnisse der Arbeitnehmer eher in prekäre statt in geordnete, stabilisierende Bahnen zu lenken.

Frankfurter Rundschau: Und nun? Die Union bringt nicht mal eine gemeinsame Verfassung zustande.

Jean-Claude Juncker: Ich bleibe ein Anhänger eines fundamentalen Vertrags, weil Europa auch einen verbindlichen politischen Rahmen braucht. Wir werden uns unter deutscher Präsidentschaft intensiv mit dem Thema befassen. Was konkret geschieht, hängt auch vom Ausgang der anstehenden Wahlen in Frankreich und den Niederlanden ab, die das bestehende Vertragswerk ja abgelehnt haben.

Frankfurter Rundschau: Wie könnte ein Ausweg aus dem Dilemma aussehen?

Jean-Claude Juncker: Es kann nicht sein, dass sich die 18 Staaten, die den Vertrag bis zum Jahresende ratifiziert haben werden, nun dem Diktat der Zauderer unterwerfen. Dieses Grüppchen darf sich nicht zum Wortführer in der EU aufschwingen. Es geht nicht an, dass einige die Entscheidung herauszögern, nur weil sie sich nicht trauen, zu Hause die Probe aufs Exempel zu statuieren. Das haben zum Beispiel Spanien und Luxemburg per Volksentscheid getan. Nach sehr schwierigen Verhandlungen wurde der ausgehandelte Vertrag von allen 27 EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet. Alle haben nun die Pflicht, ihn in ihrem Land zur Ratifizierung vorzulegen.

Frankfurter Rundschau: Mit dem Risiko, dass zum Beispiel Polen und Großbritannien den Daumen darüber senken?

Jean-Claude Juncker: Ja. Wir müssen uns ja auch mit den vorgebrachten Bedenken der Franzosen und Niederländer auseinandersetzen.

Frankfurter Rundschau: Wie weit kann das gehen?

Jean-Claude Juncker: Der Vertrag darf nicht zerpflückt werden, nur weil manchen Ländern einige Passagen plötzlich nicht mehr passen. Die Vorstellung mancher, wir machen nur den ersten Teil der Vereinbarungen zum europäischen Gesamtvertrag, lassen aber die Charta der Grundrechte weg und vergessen den dritten Teil, ist unakzeptabel. Diese Passagen enthalten auch wichtige Rahmenbedingungen für ein soziales Europa. Das Parlament muss, wie in Teil drei des Vertrages vorgesehen, bei wichtigen die Bürger betreffenden Themen wie Freiheit, Recht und Sicherheit mitentscheiden können.

Frankfurter Rundschau: Rechnen Sie damit, dass ein umfassendes Vertragswerk noch bis zu den Europawahlen im Juni 2009 zustande kommt?

Jean-Claude Juncker: Ich würde es mir wünschen, aber halte es für wenig realistisch, wenn wir eine tragfähige und nicht eine halbgare Lösung anstreben.

Frankfurter Rundschau: Der deutsche Bundespräsident Horst Köhler hat kürzlich im FR-Interview an die Europäische Union appelliert, wieder stärker den Kontakt mit den USA zu suchen. Wie sehen Sie das?

Jean-Claude Juncker: Der Bundespräsident hat vollkommen Recht. Ich war nie der Ansicht, dass die EU eine Konkurrenzveranstaltung zu den USA bilden sollte. Die Europäische Union kann selbst in total gefestigter Form das transatlantische Verhältnis nicht ersetzen. Beides ist wichtig.

Frankfurter Rundschau: Wird der jüngste Sieg der Demokraten im US-Kongress das transatlantische Verhältnis verbessern?

Jean-Claude Juncker: Ich war auch europäischer Regierungschef, als die Demokraten im Weißen Haus für Sonne und Regen zuständig waren. Der damalige US-Präsident Bill Clinton hat es manchmal ebenfalls auf Europa regnen lassen. Ich gebe allerdings zu: die Großwetterlage hat sich nach der Ablösung der Republikaner im Senat und im Repräsentantenhaus gebessert.

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