"Die Chancen auf Einigung stehen 50 zu 50." Le Premier ministre, Jean-Claude Juncker, au sujet du Conseil européen

Die Welt: Herr Premierminister, mit welchen Gefühlen betrachten Sie das Feilschen um den neuen Verfassungsvertrag?

Jean-Claude Juncker: Mich stört sehr, dass die Ansichten derer, die die Verfassung unterschrieben, aber nicht ratifiziert haben, mehr Aufmerksamkeit finden als der Standpunkt derer, die ratifiziert haben. Luxemburg und viele andere Staaten werden einer Substanzschwindsucht der Verfassung nicht tatenlos zusehen. Wir werden uns mit aller Kraft dafür einsetzen, dass die Substanz des alten Verfassungstextes in einen neuen Vertrag übertragen wird. Alles andere würde keinen Sinn machen. Wenn ich den Eindruck habe, dass die Fortschritte im Verfassungsvertrag, aufgrund derer die luxemburgische Bevölkerung mit Ja gestimmt hat, gefährdet sind, werde ich Nein sagen müssen.

Die Welt: Die polnische Regierung fordert eine Änderung der Stimmengewichte bei EU-Beschlüssen. Ist das für Sie akzeptabel?

Jean-Claude Juncker: Die Einführung der sogenannten doppelten Mehrheit als Abstimmungsprinzip ist das Resultat von langwierigen Verhandlungen gewesen. Dieses Prinzip wird mehr Effizienz und gerechtere Entscheidungen bringen. Eine Änderung der Stimmengewichtung, wie sie Polen fordert, würde dazu führen, dass die Büchse der Pandora geöffnet wird und jedes Land mit seinen Sonderwünschen kommt. Das ist nicht akzeptabel.

Die Welt: Aber Luxemburg würde doch auch profitieren, wenn die polnische Quadratwurzel angewendet würde und die kleinen Länder mehr Stimmrechte bekommen.

Jean-Claude Juncker: Das stimmt. Aber das ist kein hinreichender Grund, die Festlegungen, die wir getroffen haben, aufzukündigen.

Die Welt: Bundeskanzlerin Merkel darf den polnischen Forderungen also nicht nachgeben?

Jean-Claude Juncker: Ich habe der Bundeskanzlerin keine öffentlichen Ratschläge zu geben. In unseren Gesprächen musste sie schon genügend Ratschläge meinerseits ertragen.

Die Welt: Ist der Konflikt über die Stimmrechte nicht im Kern ein deutsch-polnisches Problem?

Jean-Claude Juncker: Ich wehre mich ausdrücklich gegen diesen Eindruck. Die deutschen Bundeskanzler Kohl, Schröder und Merkel haben sich immer außerordentlich freundlich gegenüber Polen verhalten. Das gilt für die Beitrittsverhandlungen, aber auch für die Vereinbarungen über den neuen EU-Haushalt. Es ist unangemessen, dass Warschau jetzt so tut, als ginge es darum, sich gegen Deutschland durchzusetzen. Das ist eine Gefechtslage, die ich nicht akzeptiere, weil ich überhaupt keine Gefechte in der Europäischen Union akzeptiere.

Die Welt: Werden sich die Regierungschefs beim EU-Gipfel auf einen neuen Vertrag einigen?

Jean-Claude Juncker: Die Chancen für eine Einigung sehe ich bei 50 zu 50. Ich halte eine Einigung aber für absolut notwendig, denn es steht viel auf dem Spiel. Wenn wir jetzt nicht unter deutschem EU-Vorsitz - und das ist nicht irgendein Vorsitz - zu einer Einigung kommen, wird es Jahre dauern, bevor wir uns wieder zusammenraufen, um einen neuen Anlauf zu nehmen. Wir hätten viele Jahre verloren und müssten wieder von vorne beginnen. Alle 27 Mitgliedsstaaten werden dann in ihrer Mottenkiste kramen und alle Positionen mit Leben erfüllen, die sie aus nationaler Sicht vertreten haben, als wir anfingen, über den Verfassungsvertrag zu sprechen.

Die Welt: Alle gucken auf die widerspenstigen Polen. Aber Großbritannien dürfte mehr Probleme machen.

Jean-Claude Juncker: Die größten Sorgen bereitet mir Großbritannien. London hat eine Reihe von Forderungen, die mit Blick auf den ursprünglichen Verfassungstext einen Substanzverlust bedeuten. Das wollen wir nicht. Diese Forderungen sind so nicht erfüllbar. Das habe ich meinem Freund Tony Blair am Montag in einer Videokonferenz auch gesagt.

Die Welt: Was fordern Sie?

Jean-Claude Juncker: Die Charta der Grundrechte muss unbedingt einen rechtsverbindlichen Charakter haben. Ich bin auch der Meinung, dass wir die Ausweitung um 51 Bereiche, wo mit qualifizierter Mehrheit anstatt mit Einstimmigkeit entschieden werden muss, nur noch unwesentlich verändern können.

Die Welt: Könnte sich die EU auch ohne Großbritannien weiterentwickeln?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube nicht, dass die Frage sich so stellt. Ich möchte auch nicht, dass ein großes Feldgeschrei vor dem Gipfel entsteht. Ich wünsche mir ein Europa, in dem alle 27 Mitglieder von demselben Willen beseelt sind, Europa weiterzubringen.

Die Welt: Warum ist dieser Gipfel für Sie so wichtig?

Jean-Claude Juncker: Wir haben es bei diesem EU-Gipfel in der Hand, dass die Europäische Union einen Quantensprung macht. Wir müssen jetzt die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Europa mit sich selbst in Harmonie lebt und seine Stellung in der Welt ausbauen kann. Dazu muss jedes Land seinen Beitrag leisten.

Die Welt: Was wird Luxemburg tun, wenn es keine Einigung gibt?

Jean-Claude Juncker: Ich bin allergisch gegen ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Ich will lieber ein starkes Europa, in dem alle 27 in eine Richtung ziehen. Aber wenn wir nicht gemeinsam voranschreiten können, dann wird ein Europa der zwei Geschwindigkeiten der einzige Ausweg aus der Sackgasse sein. Wenn bestimmte Herausforderungen da sind, müssen wir auch handlungsfähig sein.

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