"Stillstand wäre höchst gefährlich." Le Premier ministre, Jean-Claude Juncker, au sujet du Conseil européen

Die Presse: Herr Premierminister, halten Sie eine Einigung beim Gipfel für möglich?

Jean-Claude Juncker: Eine Einigung ist notwendig. Wenn wir uns jetzt nicht auf die Grundlinien eines neuen Vertrags verständigen, wird es unwahrscheinlich schwer werden, in den nächsten Jahren zu einem Abschluss zu kommen. Alle Staaten werden nämlich vergessen, zu welchen Bedingungen sie ihre Zustimmung zum ursprünglichen Vertrag gegeben haben und wieder zu ihren nationalen Positionen von vor dem Vertragsabschluss zurückkehren. Das würde einen Rückschritt über viele Jahre bedeuten. Und in einer sich schnell entwickelnden Welt würde das für Europa einen Stillstand bedeuten, der höchst gefährlich wäre.

Die Presse: Wie müsste denn diese Einigung aussehen?

Jean-Claude Juncker: Wir brauchen eine kurze Regierungskonferenz mit einer präzisen inhaltlichen Festlegung. Sie muss im Juli beginnen und spätestens im Dezember abgeschlossen sein. Die Ratifizierung muss vor den Wahlen zum Europaparlament (Mitte 2009, Anm.) unter Dach und Fach sein.

Die Presse: Die deutsche Bundeskanzlerin und EU-Vorsitzende Angela Merkel hat Polen nachgegeben und das Thema Stimmgewichtung auf die Gipfel-Tagesordnung gesetzt. Ist das ein Fehler?

Jean-Claude Juncker: Man wird die Stimmgewichtung diskutieren müssen, weil sich der polnische Standpunkt dazu nicht verändert hat. Ich halte es aber für falsch, die doppelte Mehrheit in Frage zu stellen. Man kann jedoch die Frage stellen, wie man damit im Konfliktfall umgeht.

Die Presse: Ist die polnische Forderung nach mehr Stimmen für Polen und weniger Stimmen für Deutschland gerechtfertigt?

Jean-Claude Juncker: Die polnische Regierung müsste wissen, dass ihre Forderung die politische Einigung in hohem Maße erschwert. Es ist auch nicht gut, dass es mittlerweile so aussieht, als wäre der Konflikt um die doppelte Mehrheit ein Konflikt zwischen Polen und Deutschland, in dem Deutschland für die doppelte Mehrheit und Polen dagegen ist. Es sind 26 Staaten dafür. Auch Luxemburg, obwohl das polnische Quadratwurzelmodell auch uns besser stellen würde.

Die Presse: Wieso ist diese ganze Debatte eigentlich so ins Historische abgeglitten?

Jean-Claude Juncker: Mir scheint, dass sich die Diskussion über die Mehrheitsverhältnisse verselbstständigt hat. Ich habe dem polnischen Präsidenten und Premierminister wiederholt erklärt, dass Luxemburg im Zweiten Weltkrieg schlimmste Erfahrungen mit Deutschland gemacht hat. Dennoch waren uns die Deutschen noch nie so gute Nachbarn wie heute. Wir sehen die Deutschen nicht im Rückspiegel. Das ist die einzige Möglichkeit, um Europa nicht in den Traumata der 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts versinken zu lassen.

Die Presse: Die Polen machen nicht als Einzige Probleme. Jetzt wollen auch die Briten die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schwächen.

Jean-Claude Juncker: Ich habe meinem Freund Premierminister Tony Blair in einer dreiviertelstündigen Videokonferenz klargemacht, dass Luxemburg – das die Verfassung ratifiziert hat – nicht tatenlos zusehen wird, wenn jetzt eine Substanz-Schwindsucht eintritt. Das heißt: Die Grundrechte müssen rechtsverbindlich sein, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik muss entscheidungseffizienter werden, das heißt eine Rechtspersönlichkeit für die EU und dass die Mehrheitsentscheidungen nicht geschwächt werden.

Die Presse: Was ist der Grund für die britische Haltung?

Jean-Claude Juncker: Die Briten wollen offenbar alles tun, um einen Souveränitätstransfer zu vermeiden, der eine Volksabstimmung notwendig machen würde.

Die Presse: Viele sagen, eine Ausstiegsklausel aus der Grundrechte-Charta wäre die Antwort.

Jean-Claude Juncker: Eine Ausstiegsklausel für die Grundrechtecharta wäre keine optimale Option. Großbritannien hätte damit in der Selbstdarstellung wohl allergrößte Probleme.

Die Presse: Könnte es bei der Außenpolitik ebenfalls so ein Ausstiegsszenario geben?

Jean-Claude Juncker: Wenn ein großer Mitgliedstaat durch den EU-Vertrag einen Sonderweg erhält, wird es auf Dauer keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geben.

Die Presse: Braucht die EU nicht schön langsam Mechanismen, um sich nicht immer von einigen Staaten bremsen zu lassen? So etwas wie ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, in dem sich einzelne Staaten aussuchen können, wie eng sie zusammenarbeiten wollen?

Jean-Claude Juncker: Ich bin fast allergisch auf so ein bewusstes Herbeireden eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten. Falls die Meinungsunterschiede so groß werden, dass ein gemeinsames Handeln mittelfristig unmöglich wird, wird es zwangsweise zu einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten kommen. Ganz dezidiert aber: Ich wünsche mir das nicht. So etwas kann nicht Ziel, sondern nur der Ausweg aus einer Sackgasse sein.

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