"Juncker: Chancen stehen 50:50." Le Premier ministre, Jean-Claude Juncker, au sujet du Conseil européen

d'Wort: Herr Premierminister, nach dem Besuch der deutschen Kanzlerin und Ratspräsidentin Angela Merkel am Sonntag in Luxemburg haben Sie sich optimistisch zum Ausgang des Verfassungsgipfels heute und morgen in Brüssel geäußert. Sind Sie nach Ihren Gesprächen der vergangenen Tage immer noch so optimistisch?

Jean-Claude Juncker: Mein Optimismus nach dem Gespräch mit Angela Merkel gründete auf dem verzweifelten Wunsch, dass der gesunde Menschenverstand sich durchsetzen könne. Jeder Staats- und Regierungschef müsse doch am Verhandlungstisch in Brüssel merken, nach den zahlreichen misslungenen Versuchen, Europa handlungs- und zukunftsfähiger zu gestalten, dass dies eine der letzten Chancen ist, um das europäische Schiff wieder seetüchtig zu machen.

d'Wort: Mit Frau Merkel haben Sie sich größtenteils über Abstimmungsmechanismen und das angedrohte polnische Veto unterhalten. Hatten Sie noch andere Vorbereitungsunterredungen? Und wie sehen Sie heute die Erfolgschancen vor Gipfelbeginn?

Jean-Claude Juncker: Ich habe mich auch noch u.a. mit Tony Blair und Nicolas Sarkozy unterhalten. Vor allem nach meinem Gespräch mit Premier Blair schätze ich die Chancen 50:50 ein.

d'Wort: Das hört sich nicht mehr sehr optimistisch und positiv an...

Jean-Claude Juncker: Nein, ich würde Ihnen gerne anderes berichten, aber so sieht zurzeit die Ausgangslage aus. Positiv wäre der Gipfel ja nur, wenn der vorliegende Verfassungsvertrag so in Kraft treten würde, wie er von einer Mehrheit der Luxemburger gutgeheißen wurde. Dies ist aber nicht der Fall. Und selbst der Verfassungsvertrag ist noch weit von meinem Wunschwerk entfernt. Jetzt kommt es jedoch darauf an, die entscheidenden Substanzelemente des gescheiterten Verfassungsvertrags in einen neuen EU- Vertrag zu retten.

d'Wort: Dieser wird jedoch auf keinen Fall mehr Verfassung heißen...

Jean-Claude Juncker: Dies steht jetzt schon fest, ja. Und auch auf sogenannte Verfassungssymbole, also etwa eine Flagge, eine Hymne, ein europäischer Feiertag, verzichten wir. Dies ist keine Katastrophe. Ich verstehe deshalb auch nicht, warum in den Niederlanden dies bereits als großer Verhandlungsdurchbruch angesehen wird.

d'Wort: Welches sind die entscheidenden Substanzelemente für Luxemburg? Wo liegt Ihre Schmerzgrenze bei den Verhandlungen?

Jean-Claude Juncker: Für uns ist eine rechtsverbindliche und einklagbare Grundrechtecharta, die das gemeinsame Leben der Menschen und Nationen in Europa regelt, entscheidend. Für uns ist weiter wichtig, dass wir mit den neuen Elementen die bestehenden Verträge abändern. Für uns ist wichtig, dass die Ausweitung jener Bereiche des Verfassungsvertrags auf eine Entscheidungsfindung nach qualifizierter Mehrheit bestehen bleibt. Für uns ist zudem wichtig, dass die Europäische Union eine juristische Identität, also eine einheitliche Rechtspersönlichkeit erhält. Dies erlaubt ein strafferes internationales Handeln. Weiter muss die a-priori-Überprüfung der Sozialverträglichkeit aller EU-Initiativen im neuen Vertrag ihren Niederschlag finden. Und auch die institutionellen Neuerungen sind für uns wichtig. Sie erlauben eine zielführendere Entscheidungsfindung.

d'Wort: Polen hat eben diesen Punkt zur möglichen Vetofrage gemacht und eine neue Quadratwurzelformel, nach der das Stimmenverhältnis neu berechnet werden soll, vorgeschlagen.

Jean-Claude Juncker: Wir sind mit dem polnischen Vorschlag nicht einverstanden. Weil er eine Abkehr vom Prinzip der doppelten Mehrheit im Rat darstellt. Wir erkennen uns in diesem Prinzip, weil zunächst eine Mehrheit der Staaten erforderlich ist. Alle Staaten sind also in einer ersten Runde gleichberechtigt. Dann erst folgt das demografische Gewicht einer Mehrheit von 65 Prozent der Bevölkerung. Dies hat auch etwas mit einer gleichen Würde der Nationen zu tun.

d'Wort: Gibt es für Luxemburg noch Verhandlungsspielraum in Sachen Stimmenverhältnis?

Jean-Claude Juncker: Der Durchbruch hin zu einer doppelten Mehrheit war ein entscheidender Schritt nach Nice. Ein Schritt in Richtung Effizienzsteigerung der EU. Wir finden uns da gut aufgehoben. Im Gegensatz zu Polen. Ich halte den Vorschlag einer Stimmengewichtung nach der vorgeschlagenen demografischen Quadratwurzelformel für keinen realistischen Weg.

d'Wort: Wie sehen Sie eine mögliche Verschiebung der Entscheidung? Ich halte eine Aufschiebung auf 2014 für keine gute Option. Allerdings sind wir zu Überlegungen bereit, wie man ein neues Zwischenentscheidungsfindungssystem aufgrund des Abkommens von loannina definieren könnte. Konkret bedeutet dies: wenn eine blockierende Minderheit nur knapp verfehlt wird, muss die Debatte weitergeführt werden. Aber auch das sehen wir nicht als optimal an. Aber dies ist für uns der maximale Schritt hin in Richtung Polen. Ich habe dafür auch bei Frau Merkel und Herrn Sarkozy plädiert.

d'Wort: Können Sie notfalls auch lediglich mit einem Verweis im neuen Vertragswerk auf die Grundrechtecharta leben?

Jean-Claude Juncker: Ja. Aber sie muss durch einen klaren Verweis rechtsverbindlich und einklagbar bleiben! Dies ist für uns eine wesentliche Forderung, die von Großbritannien nicht geteilt wird. Natürlich zögen wir eine Grundrechtecharta als integraler Bestandteil des neuen Vertragswerks vor. Aber ich halte dies für wenig realistisch.

d'Wort: Liegen die von Ihnen genannten luxemburgischen Essentials eigentlich alle wieder auf dem Verhandlungstisch? Ist der Verfassungsvertrag wieder aufgeschnürt?

Jean-Claude Juncker: Nein! Für uns ist die Verhandlungsgrundlage der Verfassungsvertrag. Ich wiederhole noch einmal, dass dieser bereits von den Luxemburgern angenommen worden ist. Unsere Ausgangslage ist also keineswegs der Vertrag von Nice!

d'Wort: Was bedeutet dies konkret für den Verhandlungsablauf in Brüssel? Jene, die den Vertragsentwurf in seiner jetzigen Form ablehnen, müssen mit guten Argumenten beweisen und erstreiten, dass sie bestimmte Elemente des Verfassungsvertrags in ihrem Land politisch nicht durchsetzen können. Die Beweispflicht liegt bei diesen Ländern, die - obschon sie den Vertrag bereits unterzeichnet haben - noch nicht ratifiziert haben. Jene 18 Staaten, die ratifiziert haben - darunter Spanien und Luxemburg über Referendum -, sind berechtigt, den vorliegenden Text in all seinen Teilen zu verteidigen. Natürlich können wir nicht alles retten. Aber die Diskussionslogik darf nicht so sein, dass die guten Europäer jene sind, die nicht ratifiziert haben, die den Wind der Geschichte falsch interpretiert haben, und die schlechten Europäer jene sind, die ratifiziert haben.

d'Wort: Sie fühlen sich also auch durch das Luxemburger Referendum bestärkt und mandatiert?

Jean-Claude Juncker: Dieses Referendum war ja kein Spiel! Wir haben dazu beigetragen, in extrem schwieriger Lage nach dem Nein der Franzosen und Niederländer, die Vertragsidee am Leben zu erhalten. Für mich gilt deshalb, dass wir auf nichts verzichten können, was für die Luxemburger bei ihrem Ja im Juli 2005 wichtig war. Und dass nichts hinzukommt, das die Luxemburger von einem Ja abgehalten hätte. Mein Mandat ist also glasklar.

d'Wort: Stimmt es Sie eigentlich nicht traurig, dass wir nun eigentlich bei einem unleserlichen Vertragswerk bleiben?

Jean-Claude Juncker: Doch. Dies ist aber nun nicht mehr anders möglich, weil der neue Vertrag nur die bestehenden Verträge abändern wird. Das was jetzt nach Brüssel herauskommen wird, ist wesentlich unleserlicher und unappetitlicher als der Verfassungsvertrag. Dies ist bereits eine große Konzession jener Länder, die ratifiziert haben. Und keine technische Formalität.

d'Wort: Es wird also ein Gipfel sein, der zum Ziel hat, das Schlimmste, also eine wirkliche europäische Krise zu verhindern...

Jean-Claude Juncker: Wir, die Ja gesagt haben, müssen uns fragen, ob wir den ganzen Verfassungsprozess stoppen wollen, um somit beim Vertrag von Nice zu bleiben, oder wir nicht versuchen sollen, auch wenn dies frustrierend ist, den größten Teil der Errungenschaften des Verfassungsvertrags in einen neuen Grundvertrag zu retten.

d'Wort: Wie wird dieser Grundvertrag am Ende des Gipfeltages aussehen?

Jean-Claude Juncker: Wenn wir uns einigen können, werden wir zwei Verträge haben: ein Vertrag über die Europäische Union, der Vertrag von Maastricht also. Dieser wird durch neue, vom Verfassungsvertrag übernommene Bestimmungen abgeändert. Der zweite Vertrag wird jener über die Europäische Gemeinschaft sein. Auch dieser wird abgeändert werden. Wir bezeichnen ihn als Vertrag der Funktionsweise der EU. Wir werden zwei statt einen Vertrag erhalten. Und eine wesentlich unleserlichere Vertragslandschaft.

d'Wort: Hat nicht auch die Erweiterung dazu beigetragen, dass Europa zunehmend komplizierter wird?

Jean-Claude Juncker: Natürlich ist Europa komplizierter geworden. Wir müssen heute mehrschichtige Überlegungen vor Entscheidungen führen. Aber Tatsache ist, dass zwei alte Mitgliedsstaaten, zwei Gründungsländer der Europäischen Union, Frankreich und die Niederlande, mit ihrem Nein zum Verfassungsvertrag die Krise zwar nicht ausgelöst, aber verstärkt haben. Es wäre also ungerecht, die neuen EU-Länder verantwortlich zu machen.

d'Wort: Sie haben gesagt, es bestehe eine 50:50-Chance für den heutigen Verfassungsgipfel. Gibt es einen Plan B in der Schublade, wenn es zu keiner Einigung kommt?

Jean-Claude Juncker: So oder so folgt eine Regierungskonferenz. Wenn wir uns einigen, beschließen wir ein Mandat für diese Regierungskonferenz, die bis Ende des Jahres unter portugiesischer Ratspräsidentschaft abgeschlossen sein muss und die Details verhandelt. Verbindliches Ziel bleibt eine Ratifizierung des neuen Grundvertrags vor den Europawahlen von 2009.

Dernière mise à jour