Le Premier ministre Jean-Claude Juncker au sujet du Conseil européen de Bruxelles

Deutschlandfunk: Keine Verfassung, keine Hymne, keine Fahne - Europa verzichtet auf Symbole. Ein Grundlagenvertrag mit vielen Fussnoten, mehr war offenbar nicht drin auf diesem Krisengipfel. Doch auch dieser Erfolg stand bis zuletzt auf der Kippe. EU-Neumitglied Polen wollte für seine Quadratwurzel sterben, erst nach einer zähen Nachtsitzung gelang der Durchbruch. Die Drohung von EU-Ratspräsidentin Merkel Warschau zu isolieren, zeigte Wirkung. Zuvor hatten die Briten und Franzosen intensiv mit den Kaczynski Zwillingen verhandelt, mit dabei auch der luxemburgische Regierungschef. Guten Morgen, Jean-Claude Juncker.

Jean-Claude Juncker: Guten Morgen.

Deutschlandfunk: Herr Premierminister, als Luxemburger sprechen Sie viele Sprachen. Haben Sie an diesem Wochenende auch polnisch gelernt?

Jean-Claude Juncker: Ich bin des aktiven polnisch nicht mächtig, habe mich aber sehr bemüht ein passives Verständnis für polnisch zu entwickeln.

Deutschlandfunk: Waren das am Ende denn die guten Argumente, oder die Erschöpfung die am frühen Morgen dann den Durchbruch möglich machten?

Jean-Claude Juncker: Das ist immer eine Mischung aus Einsichten, Ansichten, Erschöpfung, Angst vor den Folgen des Scheiterns, Lust auf Erfolg, Ermüdung.

Deutschlandfunk: Wie lange stand denn der Gipfel vor dem Scheitern?

Jean-Claude Juncker: Der Gipfel stand öfters vor dem Scheitern, und hätte die Bundeskanzlerin nicht eine Engelsgeduld aufgebracht, dann wäre er auch gescheitert, weil es war ein mühseliges Unterfangen, immer wieder bei Null anfangend zu erklären wieso Vorschläge gemacht wurden, wieso Vorschläge weiter entwickelt wurden. Ich hätte die Geduld, der ich oft dabei war, nicht gehabt. Bei mir wäre gegen Mitternacht Schluss gewesen. Die Kanzlerin hat Gott sei Dank durchgehalten, und dadurch Europa einen Erfolg verschafft.

Deutschlandfunk: War es nur die Geduld oder welche Rolle hat die Drohung von Angela Merkel gespielt, Warschau am Ende zu isolieren?

Jean-Claude Juncker: Diese Drohung, wie Sie diesen Vorschlag des gesunden Menschenverstandes nennen, war notwendig, und eine richtige Drohung war das auch nicht. Wenn 26 Staaten sich in eine Richtung bewegen, und einer kann diese Marschrichtung nicht zu seiner eigenen Route erklären, ja dann muss man ihm bedeuten, dass man ohne ihn auf diese Reise geht. Das war eigentlich mehr Schlussfolgerung als Drohung.

Deutschlandfunk: Konnte Angela Merkel sich denn der Solidarität aller anderen 26 sicher sein?

Jean-Claude Juncker: Angela Merkel konnte sich der Solidarität derer sicher sein, die auf Grund eines ausgeprägten Zukunftsverständnisses der Europäischen Union mit ihr das Wissen und den Willen halten, dass eine Einigung jetzt notwendig wäre und nicht einige Monate, oder einige Jahre verschollen werden könnten. Es hat die Solidarität der Vernünftigen durchaus gegeben.

Deutschlandfunk: Herr Juncker, Sie haben an den Gesprächen ja aktiv mitgewirkt, wer hat denn letztendlich nach Ihrem Eindruck die Entscheidung für Polen getroffen, der anwesende Präsident Lech Kaszynski oder sein Zwilling Jaroslaw? Der Ministerpräsident war ja via Fernsehen und via Telefon aktiv in die Gespräche eingeschaltet.

Jean-Claude Juncker: Sarkozy, Blair und ich haben in der Nacht mit dem polnischen Premier telefoniert um den von mir in die Wege geleiteten Kompromissvorschlag verständlicher und für alle Polen verständlich zu artikulieren. Mein Eindruck war, dass der Premierminister doch, obwohl in Warschau und nicht in Brüssel verweilend, den Ausschlag gegeben hat um das polnische Ja herbeizuführen.

Deutschlandfunk: Also in Zukunft besser Verhandlungen direkt mit dem Ministerpräsidenten, der Präsident kann nicht mehr ganz ernst genommen werden auf der europäischen Bühne.

Jean-Claude Juncker: Ich nehme selbstverständlich den polnischen Präsidenten ernst, weil er ist das von den Polen gewählte Staatsoberhaupt. Aber ich habe es streckenweise doch als Zumutung auch für die sehr geschickt verhaltende Bundeskanzlerin empfunden, dass man hier nicht denjenigen an den Verhandlungstisch schickt, der den Daumen heben oder kippen kann, sondern dass man ihm seinen Bruder schickt. Wir mussten dann mit Beiden reden in der Nacht, mit dem polnischen Präsidenten in Brüssel, und mit dem polnischen Premierminister in Warschau. Ich habe so etwas noch nicht erlebt, ich habe im Übrigen auch keine Lust es noch einmal zu erleben.

Deutschlandfunk: Wann haben Sie denn Ihren Vorschlag aus der Tasche gezaubert, dass Polen beim Abstimmungsrecht diese Übergangsfrist bis 2017 erhält? War das ein spontaner Einfall, oder von Ihnen lange geplant?

Jean-Claude Juncker: Ich habe mit der Kanzlerin am Freitagmittag um 12 darüber geredet. Ich habe mit 13 anderen Kollegen darüber geredet. Die Kanzlerin hat mich gebeten den Vorschlag abends um 9 in der Runde vorzutragen, und so habe ich es gemacht. Dann wurde unterbrochen, mit Warschau telefoniert, und dann kam der Zug langsam ins rollen.

Deutschlandfunk: Zu welchem Zeitpunkt konnten Sie dann genau den Polen die Quadratwurzel ziehen?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube das war so gegen Mitternacht. Aber wenn ich mich an etwas nicht mehr zurückerinnern möchte, dann vergesse ich auch die genauen Umstände.

Deutschlandfunk: Dann blicken wir voraus. Herr Juncker, bis 2014 oder 2017 bleibt es beim Abstimmungssystem von Nizza. Wie stark blockiert das nun in Zukunft noch die europäische Handlungsfähigkeit?

Jean-Claude Juncker: Das wird kein grosses Blockadeelement in den nächsten Jahren sein. Wenn wir bei dem System von Nizza, also bei dieser Stimmengewichtung - Deutschland 29, Polen 27, Luxemburg, um auch die untere Skala hier einmal zu erwähnen - geblieben wären, dann hätte dies, kurzfristig wie gesagt, keine Auswirkung gehabt. Längerfristig hätte das durchaus zu Stillstand führen können. Bis 2014 wird man mit dem Nizza-System über die Runden kommen, auf Anfrage dann auch bis 2017 das Prinzip der doppelten Mehrheit nicht anwenden, sondern das Nizza-System anwenden können. Dies wird dem jeweils herrschenden Zeitambiente durchaus gerecht, was wir da - uns nicht kompromettierend, aber Europa weiter bringend - aufs Papier gebracht haben.

Deutschlandfunk: Über die Runden bringen, sagen Sie, das hört sich nicht gerade nach europäischer Aufbruchstimmung in den kommenden Jahren an.

Jean-Claude Juncker: Ich habe hier in Luxemburg, wo wir den Verfassungsvertrag per Volksbefragung angenommen haben, sehr für diesen europäischen Verfassungsvertrag gekämpft. Mit dem europäischen Verfassungsvertrag, dessen Beibehaltung mir ja lieber gewesen wäre, als die Neuverhandlung die jetzt in Brüssel Ende der Woche gestartet wurde, hätte Europa hoch und weit fliegen können. Mit diesem neuen Vertrag, den wir kriegen werden, wird Europa nicht so hoch und nicht so weit fliegen.

Ich habe mir Europa immer auf Umlaufbahnen gewünscht, wo es weit fliegt, wo es hoch fliegt, wo es andere mitreisst, wo es Perspektiven für sich selbst und für die Welt entwickelt, die Europa stolz auf sich gemacht hätten. Ich wünsche mir sehr, dass wir auch mit diesem neuen Vertrag, der jetzt im Entstehen begriffen ist, von dem ich weiss, dass er nicht so weit, und nicht so hoch fliegt wie der Verfassungsvertrag immer noch es fertig bringen, dass die Europäer sich immer wieder in Europa neu verlieben, und dass wir andere Menschen in der Welt an diesem europäischen Traum für uns und für sie teilhaben lassen können.

Deutschlandfunk: Aber zu diesem Zweitpunkt, Herr Juncker, klingen Sie sehr enttäuscht.

Jean-Claude Juncker: Ich habe mir über Europa nie Illusionen gemacht, weil ich habe mir immer gesagt, dass ich hier nicht eines Tages verlieren möchte. Hätte ich mir welche gemacht gehabt bevor ich nach Brüssel fuhr, dann hätte ich sie jetzt verloren. Trotzdem Europa, und Fortschritt in Europa, sind eine Schnecke, wir gehen langsam, wir gehen jetzt langsamer als ich mir gewünscht hätte, dass wir hätten gehen können.

Die Einigung an sich ist ein grosser Erfolg für die Bundeskanzlerin. Wer dabei war und weiss wie knapp vor dem Scheitern wir standen, und wieviel Jahre Kleinarbeit es gebraucht hätte um das Porzellan dann wieder zu kitten, der weiss dass Europa ein komplizierter Kontinent geblieben ist, und dass es Feinhäkelei ist um die Dinge beieinander zu behalten.

Deutschlandfunk: Europa ist ein komplizierter Kontinent, warum kann man es nicht einfacher machen, und einfach sagen: Polen und auch Großbritannien, ihr wollt nicht so schnell wie wir anderen wollen, geht ruhig langsamer aber wir schreiten gemeinsam schneller voran?

Jean-Claude Juncker: Es gibt ja viele Bereiche wo dies auch so sein wird, beispielsweise in dem Bereich Justiz und innere Angelegenheiten, also Kampf gegen Verbrechen, und in dem Zusammenhang Kampf mittels des europäischen Strafrechtes gegen das internationale Verbrechen, wird Großbritannien die Erlaubnis erteilt nicht mitzumachen, und alle anderen können weitermachen. Großbritannien wird uns wenn es um europäisches Strafrecht geht, nicht am Weitermachen hindern können, Großbritannien bleibt auf der Stelle stehen, aber die anderen, die fahren weiter. Dies ist eine wesentliche Errungenschaft des zustande gekommenen Lösungswerkes, das die Kanzlerin angestrebt hat. Dort gibt es in dem Bereich beispielsweise verstärkte Zusammenarbeit zwischen denen, die wollen, ohne dass die, die nicht wollen die anderen am Weitermachen hindern können. Und diese Logik wird sich langsam aber sicher in der Europäischen Union durchsetzen.

Ich wiederhole, was ich vor dem Gipfel öfters gesagt habe. Das Europa der zwei Geschwindigkeiten ist keine anzustrebende Lösung, wird auch dem nicht gerecht was der Kontinent insgesamt bewirken kann, wenn alle zusammen nach vorne marschieren. Aber das Europa der zwei Geschwindigkeiten ist der logische Ausweg aus den Sackgassen, in denen, ja, das Verliebtsein einzelner Staaten in sich selbst auf Kosten der anderen uns immer wieder führen wird.

Deutschlandfunk: Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch und Auf Wiederhören.

Jean-Claude Juncker: Auf Wiederhören.

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