"Ich habe gelitten". Le Premier ministre au sujet des résultats du Conseil européen

Rheinischer Merkur: Sie haben gesagt, so einen Gipfel hätten Sie noch nicht erlebt und Sie möchten ihn auch nicht noch einmal so erleben. Wie kann man derlei ausschließen ?

Jean-Claude Juncker: Ich weiß nicht, ob man das ausschließen kann. Ich habe Bezug genommen mit der Bemerkung auf die doch sehr besondere Form der argumentativen Auseinandersetzung Polens mit dem Thema Stimmenaufteilung - das war sehr antideutsch formuliert. In der Form habe ich es noch nicht erlebt, dass es so feindselige Anwürfe gegen ein Gründungsmitglied der Europäischen Union gibt. Ich habe da gelitten und mich auch sehr dagegen gewehrt. Denn für alle anderen am Tisch gilt, dass die Deutschen so gute Nachbarn sind, wie sie es noch nie waren. Man kann doch nicht fünfzig Jahre europäisches Zusammenwachsen mit einem schnellen Federstrich annullieren!

Rheinischer Merkur: Wie werden Sie den Kaczynskis künftig begegnen?

Jean-Claude Juncker: Ich habe mit beiden ein normales Verhältnis und habe ihnen auch in getrennten Arbeitsgruppen unsere, die luxemburgische Beziehung zu Deutschland erklärt. Auch wir hatten unter der deutschen Besatzungszeit massiv zu leiden. Aber die Zusammenarbeit in der Montanunion und ihren Nachfolgeorganisationen hat es beiden Seiten erlaubt, sich wieder einander zu nähern. Man muss einfach sehen, dass die Europäische Union von ihren Grundpfeilern her auf Verzeihen ausgelegt ist, wenn auch nicht auf Vergessen. Europa darf nicht zurückfallen in diese Revanchismen, in diese Bipolaritäten, von denen wir dachten, wir hätten sie überwunden. Die, die jetzt in Polen regieren, haben die Aussöhnung mit Deutschland nicht verinnerlicht.

Rheinischer Merkur: Waren der Streit und der Kompromiss am Ende eine heilsame Erfahrung? Oder müssen wir mit Wiederholungen rechnen?

Jean-Claude Juncker: Ich weiß nicht, ob sich das bei jedem Gipfel wiederholt. Aber die polnische Führung muss ihr Deutschlandbild massiv überprüfen. Sonst wird sie sehr schnell merken, dass andere diesem Geschichtsbild nicht anhängen. So ist es schon in Brüssel gewesen.

Rheinischer Merkur: Romano Prodi sagt, er sei traurig über den Verlauf des Gipfeltreffens, weil dort die europäischen Nationalismen triumphiert hätten. Teilen Sie dieses Urteil?

Jean-Claude Juncker: Der Verfassungsvertrag konnte nur verteidigt werden, indem wir Abstriche machen. Wir mussten bereit sein, auf Symbole zu verzichten wie Fahne oder Hymne, auf den Titel Verfassung. Es war aber sehr wesentlich, dass die Tugendhaften um den Tisch herum sich dafür eingesetzt haben, dass die Substanz gerettet wird. Dass die Briten dann draufgesattelt haben, sodass ihre Bürger nicht in den Genuss der Grundrechtecharta kommen werden, muss London nun selbst erklären: Warum sollen die Menschen im Süden der irischen Insel über Rechte verfügen, die die Menschen im Norden nicht haben? Natürlich bin ich enttäuscht, dass die Substanz der Vertragsreform nur in Teilen Europas zur Anwendung kommt.

Rheinischer Merkur: Wird hier nicht mit einem Grundsatz Europas - gleiches Recht für alle gebrochen? Ist am Ende sogar der Primat europäischen Rechts vor nationalem Recht gefährdet?

Jean-Claude Juncker: Dieser Primat wird zwar nicht in den Verträgen stehen, aber ganz deutlich in einer Zusatzerklärung - so wollten es die Gegner des Verfassungsvertrags. Was die Grundrechtecharta angeht, so dürfen Briten ihre Rechte nicht vor den eigenen Gerichten geltend machen. Allerdings werden sich europäische Richtlinien weiterhin dem britischen Rechtsraum aufdrängen.

Rheinischer Merkur: Wir haben gelernt: Vertiefung vor Erweiterung wäre besser gewesen. Was bedeutet das für die Zukunft?

Jean-Claude Juncker: Im Grundmuster des Brüsseler Ergebnisses ist die fast zwangsläufige Entwicklung der Europäischen Union in zwei Richtungen eingeschrieben. Ich bin kein Anhänger eines Europas der zwei Geschwindigkeiten, wenn dies zu einer absoluten Finalität europäischen Wirkens erklärt wird. Wenn es uns verschiedene Geschwindigkeiten aber erlauben, in Teilfeldern der Gemeinschaftszuständigkeiten aus der Sackgasse herauszukommen, in die das Festhalten an nationalen Interessen uns hineingeführt hat, dann muss man diesen Weg gehen. Ich wünsche ihn mir nicht, möchte ihn aber auch nicht ausschließen.

Rheinischer Merkur: Welches ist der innere Kern Europas, auf den man sich dabei verlassen kann ? Die Euro-Gruppe, der Sie vorstehen?

Jean-Claude Juncker: Nachdem zwei Euro-Mitglieder, Frankreich und die Niederlande, dem Verfassungsvertrag die Gefolgschaft verweigert haben, es also in der Kerntruppe selbst auseinanderdriftende Kräfte gab, müssen sich die Euro-Länder überlegen, ob es auf Dauer reicht, nur eine einheitliche Wirtschafts- und Geldpolitik zu betreiben. Oder ob dies nicht mit weiter reichenden Zielen unterfüttert werden muss.

Rheinischer Merkur: Als da wären ?

Jean-Claude Juncker: Wir werden uns überlegen müssen, ob wir auf das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit zurückgreifen, wenn sich einige Staaten integrativen Schritten verweigern. Ich plädiere nicht dafür, dass wir aus der Euro-Gruppe die europäische Vorhut, die europäische Stoßtruppe machen. Aber ich wünsche mir keine verstärkte Zusammenarbeit, an der nicht alle Euro-Staaten teilnehmen.

Rheinischer Merkur: Was bedeutet das für künftige Erweiterungsrunden?

Jean-Claude Juncker: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir in Zukunft Mitgliedschaften mit unterschiedlicher Intensität schaffen. Ein Land, das beitreten möchte, muss ja nicht alle Politiken der EU mittragen. Es muss also auch eine Zusammenarbeit um den Kern der EU herum geben, wo diejenigen Platz finden, die nicht alles mittragen wollen, auch aus dem Kreis der heutigen Mitglieder. Ich bin nicht für eine Zweiklassen-Mitgliedschaft, wohl aber für unterschiedliche Mitgliedschaftsintensitäten.

Rheinischer Merkur: Der französische Präsident Sarkozy hat die Gründung einer Mittelmeerunion vorgeschlagen - auch als Alternative zum EU-Beitritt der Türkei.

Jean-Claude Juncker: Eine Mittelmeerunion sehe ich nicht als zukunftstragendes Projekt. Ich bin aber nicht dagegen, dass sich die Anrainerstaaten des Mittelmeeres untereinander neu sortieren. Die Türkei muss wissen, dass sie immer wieder abgebremst werden wird, wenn sie sich nicht schneller auf europäische Normalverhältnisse zuentwickelt. Ich finde mich nicht einfach damit ab, dass ein junger Deutscher unter unmöglichen Umständen und in unmöglichen Zuständen in einem türkischen Gefängnis festgesetzt wird. Dies hat eine verheerende Wirkung auf unsere öffentliche Meinung.

Rheinischer Merkur: Sarkozy hat beim Gipfeltreffen eng an der Seite der Kanzlerin agiert. Kommt der deutsch-französische Motor wieder in Gang?

Jean-Claude Juncker: Dieser Gipfel wurde gerettet von der tugendhaften Vernunft der Weiterdenkenden. Dass Frankreich wieder Zugang zu diesem Kreis gefunden hat, halte ich für ein positives Nebenprodukt des Treffens.

Rheinischer Merkur: Was erwarten Sie vom neuen britischen Premierminister Gordon Brown?

Jean-Claude Juncker: Ich kenne Gordon Brown seit 1997. Wir haben seither als Finanzminister zusammengearbeitet. Ich wünschte mir, dass er eine bei ihm immer wieder auftauchende Euroskepsis hintanstellt und begreift, dass die Anliegen Großbritanniens am besten in der EU aufgehoben sind.

Rheinischer Merkur: Wie sähe eine ideale Europäische Union für Sie aus?

Jean-Claude Juncker: So wie sie im Verfassungsvertrag stand.

Rheinischer Merkur: Kommt das irgendwann wieder?

Jean-Claude Juncker: Nicht in der angedachten Form. Aber ich wünsche mir sehr, dass sich irgendwann wieder einmal der Mut einstellen wird, die europäischen Dinge zu Ende zu denken. Das heißt nicht, aus der EU einen Superstaat zu machen - das war auch nicht das Ziel der Verfassung -, sondern einen auf Dauer harmonischen Schulterschluss zwischen den Nationalstaaten zu finden. Die EU ist ein Gebilde, das nur aus kleinen Staaten besteht. Die ganz kleinen wie Luxemburg wissen das. Die anderen werden es in den nächsten zwanzig Jahren erkennen müssen.

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