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"Ich werde mich nicht an irgendeiner Vendetta gegen die Schweiz beteiligen". Jean-Claude Juncker au sujet des l'actualité politique européenne et des discussions autour d'une harmonisation fiscale entre la Suisse et l'Union européenne
Tages-Anzeiger: Die Schweiz liegt mit der EU in einem bitteren Steuerstreit. Was empfehlen Sie?
Jean-Claude Juncker: Ich wünschte mir von der Schweiz, die ich sehr gut kenne, etwas mehr Souveränität im Umgang mit der EU. Dieses Thema beherrscht die Schweizer Medien, aber in der EU muss man lange suchen, um auch nur einen Miniartikel über diesen Steuerstreit zu lesen.
Tages-Anzeiger: Als Luxemburger wissen Sie, wie brisant es werden kann, wenn sich die EU in Steuerfragen einzumischen beginnt.
Jean-Claude Juncker: Wir sind Mitglied der EU und dadurch ganz anderem "Druck" ausgesetzt als die Schweiz. Das hat aber nicht dazu geführt, dass deswegen 500.000 Luxemburger während dreier Jahre den Atem angehalten hätten. Zum Glück, sonst gäbe es heute keine Luxemburger mehr. Ich wundere mich über manches Drängen von Seiten der EU-Kommission, aber ich wundere mich noch mehr über die aufgeschreckte Reaktion der schweizerischen Öffentlichkeit.
Tages-Anzeiger: Die Schweiz weigert sich, über Steuerfragen mit der EU zu verhandeln. Ist das klug?
Jean-Claude Juncker: Man führt momentan Gespräche. Über die aktuellen Details sind die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten nicht eingeweiht. Denn die Verhandlungen führt die EU-Kommission in Brüssel. Wenn ich Schweizer Freunde treffe, bedauern sie immer meinen mangelnden Wissensstand über den Steuerstreit. Denn ich verstecke im Umgang mit Schweizern mein Wissen dazu sehr gerne. Was ich sagen kann, ist Folgendes: Ich werde mich nicht an irgendeiner Vendetta gegen die Schweiz beteiligen. Ich bleibe dabei, dass man die Schweiz nicht behandeln soll wie den Irak der Alpen. Es gibt überhaupt keinen Grund, die sehr freundschaftlichen Beziehungen zur Schweiz zu überprüfen. Bei meinen schweizerischen Kollegen plädiere ich für den Standpunkt der Kommission und bei der Kommission plädiere ich für die Position der Schweiz.
Tages-Anzeiger: Sie kennen diese Machtpoker mit der EU-Kommission aus eigener Anschauung. Wie verhält man sich am besten?
Jean-Claude Juncker: Meine Beziehungen zu den Schweizer Bundesräten, die gegenüber der EU-Kommission die Schweizer Position zu vertreten haben, sind so gut, dass ich ihnen keine Ratschläge via "Tages-Anzeiger" zu erteilen brauche. Man sollte in der Schweiz zudem nicht den Eindruck erwecken - auch weil das nur in die Hände von Herrn Blocher und anderen Aufgeregten spielt -, dass die Schweiz völlig isoliert, allein zu Hause, zurückgezogen in den Alpen wäre. So ist das nicht. Sie haben durchaus auch Freunde in der EU.
Tages-Anzeiger: Kennen Sie eigentlich Herrn Blocher?
Jean-Claude Juncker: Ich bin ihm persönlich nie begegnet, mein Justizminister hingegen öfters. Ich hatte auch nie das Bedürfnis, in seinen intimen Bekanntenkreis einzutreten.
Tages-Anzeiger: Sie haben aber bestimmt schon über ihn aus den Medien und von Ihren Schweizer Freunden gehört. Würden Sie das, das was er verkörpert, ein typisch schweizerisches Phänomen nennen?
Jean-Claude Juncker: Ich glaube, solche "Figuren" gibt es in allen Ländern. Es gibt immer wieder in Charisma eingebettete und Führungsanspruch erhebende Persönlichkeiten, die die komplizierteste Welt auf die einfachste Art und Weise erklären. Wer sich abrackert, um den Menschen zu erklären, wie kompliziert die Dinge geworden sind, wie viel es zu bedenken gibt, wie gross die Verflechtungsdichte in der Welt ist, der hat es natürlich schwerer. Wer sagt, wir sollten verhandeln, weil wir die Positionen der anderen respektieren müssen, der verliert im Wettbewerb mit jenem, der sagt, wir sind stark, wir sind souverän, uns kümmert der Rest der Welt nicht. Diese Form der populistischen Vereinfachung internationaler Zusammenhänge gibt es nicht nur in der Schweiz. Ich stelle allerdings fest, dass sie hier fast 30 Prozent der Wähler überzeugt hat.
Tages-Anzeiger: Diese 30 Prozent wehren sich für die direkte Demokratie, das Mitbestimmungsrecht und den Föderalismus gerade in Steuerfragen.
Jean-Claude Juncker: Ich masse mir an, beurteilen zu können, dass diese 30 Prozent sich nicht staatspolitisch erklären lassen: in dem Sinne, dass es ihnen nur um direkte Demokratie oder die föderale Ordnung der Schweiz ginge. Ich respektiere im Übrigen beides sehr. Ich führe die Zustimmung für Blocher und seine SVP vielmehr auf das Ambiente zurück, das er kreiert, das so Singular schweizerisch eben gar nicht ist: Man fühlt sich bedroht durch Zuwanderung, durch Globalisierung und Dinge, die man nicht sofort einordnen kann. Blocher ist der Sprecher der Gruppe, die sagt: Wir Schweizer sind toll, und wir brauchen sonst niemanden. Wobei es zwei Länder in Europa gibt, die in Sachen Globalisierung bahnbrechend waren: die Schweiz und Luxemburg.
Tages-Anzeiger: Sind die Abwehrreflexe in Luxemburg auch so stark.
Jean-Claude Juncker: Aber sicher doch. Dabei sollten sich gerade die Schweiz und Luxemburg davor hüten, sich zu Globalisierungskritikern erster Güte aufzuspielen. Wir haben durch unsere Erfolgsgeschichte im Finanzbereich, Mediensektor oder in Steuerfragen die Globalisierung regelrecht forciert.
Tages-Anzeiger: Haben Sie es je bereut, dass Ihr Land der EU beigetreten ist?
Jean-Claude Juncker: Luxemburg verdankt seinen Wohlstand und seine Position in Europa und in der Welt in allererster Linie der Einsicht derer, die nach dem Weltkrieg bei allen europäischen Zusammenschlüssen sofort dabei waren. Es hat auch in Luxemburg immer Stimmen gegeben, die sich sentimental in die Richtung äusserten, dass wir - um es einmal in den Worten zu sagen, die die Luxemburger benutzen, wenn sie unter sich sind - nicht mit den grossen Hunden pinkeln sollten. Wir haben nicht daraufgehört: Luxemburg hat immer - um mich noch einmal salopp auszudrücken - sein Bein gehoben, sonst wären wir nass geworden.
Tages-Anzeiger: Ist das der Weg, den ...?
Jean-Claude Juncker: Der Unterschied zur Schweiz, wenn Sie das fragen wollten, liegt darin, dass Luxemburg im 20. Jahrhundert zweimal eine deutsche Besatzung erlebt hat. Mein Vater war zwangsrekrutierter deutscher Soldat im Zweiten Weltkrieg, obwohl er mit diesem Schwachsinn überhaupt nichts am Hut hatte. Er wurde in eine verhasste Uniform gezwungen. Ich möchte nicht mehr erleben, dass Kinder wieder den Kriegserlebnissen ihrer Väter zuhören müssen. Und ein Land, das wie die Schweiz nie besetzt war und überhaupt keine Ahnung hat, was Fremdherrschaft bedeutet, was es heisst, Tausende und Zehntausende ins KZ oder an die Front zu schicken, das hat eine völlig andere historische Erfahrung und ein völlig anderes Selbstbild als ein Land, das, zwischen Frankreich und Deutschland eingeklemmt, immer wieder das Schlachtfeld dieser deutsch-französischen Feindschaft bereitstellen musste. Ich erteile nie öffentliche Ratschläge, was die EU-Mitgliedschaft der Schweiz betrifft. Die Schweizer müssen sich aber mit der Frage auseinander setzen, ob es der Schweiz so gut ginge, wenn es die Europäische Union nicht gäbe. Wenn es Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Polen etc. ohne die disziplinierende Klammer der Europäischen Union gäbe. Ginge es der Schweiz dann auch so gut?
Tages-Anzeiger: Die Schweiz als Trittbrettfahrerin?
Jean-Claude Juncker: Ich würde mich nie zu einer solchen Formulierung versteigern, schon deshalb nicht, weil ich sonst in der Zitatensammlung von Herrn Blocher auftauchen würde. Nein, ich versuche, einen objektiven Zustand zu beschreiben. Ich beschimpfe die Schweiz nicht, wie käme ich dazu. Ich mache nur darauf aufmerksam, dass man sich wenigstens die Frage stellt, wie es um die Schweiz bestellt wäre, wenn es die EU nicht gäbe. Und als zweite Frage: Wäre es dann nicht besser, im Klub zu sein und mitzuentscheiden, als sich ausserhalb des Klubs arrangieren zu müssen? Im Steuerstreit ist es doch auch so, dass die Schweiz dachte, sie könnte auf der Tribüne sitzen, und jetzt meint, sie sei allzu brutal und ohne Training aufs Spielfeld gezogen worden. Das ist doch das Problem.
Tages-Anzeiger: Nein, die Schweiz hat im Moment das Gefühl, dass sie von EU-Seite ziemlich nass gemacht wird.
Jean-Claude Juncker: Von den Pinkelnden, ja? Das Bild gefällt Ihnen wohl?
Tages-Anzeiger: Die Schweiz dachte, sie hätte mit den bilateralen Verträgen ein gutes Verhältnis zur EU aufgebaut. Plötzlich aber kommt aus heiterem Himmel die Forderung nach einer Steuerharmonisierung ...
Jean-Claude Juncker: Das kommt nicht aus heiterem Himmel. Das hat sich angebahnt. Es war den schweizerischen Behörden bekannt, dass das kommen würde. Woher also die Aufregung?
Tages-Anzeiger: Man versteht das Motiv nicht: Wieso will man die Schweiz plötzlich aufs Steuerspielfeld zerren?
Jean-Claude Juncker: Na, weil die schweizerische kantonale Steuergesetzgebung ein wichtiges, ernst zu nehmendes Problem ist. Damit muss man sich beschäftigen.
Tages-Anzeiger: Gehen der EU so viel Steuereinnahmen verloren?
Jean-Claude Juncker: Wenn ich als Luxemburger bei allen Problemen mit der EU sagen würde: Was kann euch dieses kleine Luxemburg im Gesamtgefüge schon an Schaden zufügen, dann würde ich mich genau in die Lage begeben, in die sich kleine Länder nie bringen dürfen. Man kann nicht aus der Kleinheit des Raumes heraus argumentieren und sagen, wir können uns anders verhalten als die grösseren Länder. Wir haben als kleine Länder nicht mehr Rechte als andere, aber auch nicht mehr Pflichten.
Tages-Anzeiger: Wieso aber diese merkwürdige Attacke, in der man sich auf das Freihandelsabkommen von 1972 abzustützen will? Das wirkt doch alles reichlich konstruiert.
Jean-Claude Juncker: Das ist eine juristisch bestreitbare Position. Aber Sie werden doch von mir nicht verlangen, dass ich mich zum Rechtsdienst der Schweizerischen Eidgenossenschaft emporschwinge.
Tages-Anzeiger: Man hat hier doch einen Vorwand gesucht, um der Schweiz ans Leder zu gehen.
Jean-Claude Juncker: Das hat die EU-Kommission gemacht, jetzt beruhigen Sie sich doch! Man muss in der Schweiz auch einmal die Kompliziertheit der EU-internen Verhältnisse sehen. Es ist die EU-Kommission, die sich auf das Freihandelsabkommen von 1972 bezieht. Das heisst nicht, dass es auch alle EU-Regierungen tun ...
Tages-Anzeiger: Könnte die EU also von ihrem Vorhaben ablassen, wenn sie merkt, dass unheilige Junktims gemacht werden, etwa mit der Personenfreizügigkeit? Blocher droht damit.
Jean-Claude Juncker: Ich kann vor diesem Junktim nur eindringlich warnen.
Tages-Anzeiger: Kann die EU ihre Verhandlungsmaschinerie noch stoppen?
Jean-Claude Juncker: Für mich ist eine Maschine erst dann in Gang, wenn der für Finanzfragen zuständige Schweizer Bundesrat mit dem für Finanzfragen zuständigen Kommissar in Brüssel redet. Mich ärgert es masslos, dass die EU-Kommission auf der Beamtenschiene dieses Problem massiv hochschaukelt. So geht es nicht. Wenn es um Abmachungen zwischen souveränen Gebilden geht, müssen die politischen Hauptverantwortlichen antreten. Solange Herr Merz nicht ein intensives Gespräch mit dem zuständigen Kommissar und den zuständigen Finanzministern in Europa geführt hat, würde ich als Schweizer davon ausgehen, dass diese Gespräche noch nicht richtig begonnen haben.
Tages-Anzeiger: Sie laden Herrn Merz nach Brüssel ein?
Jean-Claude Juncker: Ich habe niemanden einzuladen. Ich sage nur, die Europäische Kommission wie die Europäische Union allgemein wären gut beraten, mit der Schweiz auf der richtigen politischen Ebene zu beraten.
Tages-Anzeiger: Kommt mit der französischen Präsidentschaft im zweiten Halbjahr eine EU-Führung ins Spiel, die nicht mehr so freundlich mit der Schweiz umgehen wird?
Jean-Claude Juncker: Ich bin von Frankreich in Steuerfragen schon so oft ge- und bedrängt worden, dass ich wund wäre, wenn ich nicht ein dickes Fell hätte. Ich möchte davon ausgehen, dass die Schweiz ähnliche Panzerabwehrkräfte hat wie Luxemburg. Im übrigen gilt in Steuerfragen die Einstimmigkeit in der EU. Was ich den Schweizern gerne sagen würde, ist, dass es in der EU keine Anti-Schweiz-Stimmung gibt. Die Schweiz erscheint vielen in der EU als eine Nation, die höchsten Respekt verdient. Es ist nicht so, dass es einen irrationalen Drang der EU gäbe, die Schweiz klein zu machen. Deshalb plädiere ich ja für souveränen Umgang von Seiten der Schweiz mit diesen Anwürfen und Anforderungen, die - ich betone es - von einigen Institutionen der Europäischen Union in Richtung Schweiz losgelassen werden.
Tages-Anzeiger: Nicolas Sarkozy hat bereits während des Wahlkampfs die Europäische Zentralbank und die Wirtschaftspolitik der Eurogruppe angegriffen. Wie muss man den französischen Präsidenten europapolitisch einordnen? Sie als erfahrener EU-Chef ...
Jean-Claude Juncker: Ich als Monument, meinen Sie.
Tages-Anzeiger: Ja, kommt hier ein neuer Wind in die europäische Politik?
Jean-Claude Juncker: Ich werde Ihnen hier keine Wertschätzung über Freunde und Kollegen in der europäischen Politik abgeben. Es gibt klassische Positionen, die nahtlos von allen französischen Präsidenten vertreten wurden. Was Präsident Sarkozy zur Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank vorbringt, unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was sein Vorgänger Jacques Chirac zu diesem Thema vorgetragen hat.
Tages-Anzeiger: Aber Sarkozy pflegt doch einen ganz neuen Politikstil. Selbst die Franzosen reiben sich die Augen ob der Eskapaden ihres Präsidenten. Wie müssen wir Sarkozy begreifen?
Jean-Claude Juncker: Ich kenne Herrn Sarkozy seit zehn Jahren, also mindestens so lange, wie die Franzosen ihn kennen. Ich mag an ihm die Respektlosigkeit, mit der er an Tabuzonen herangeht. Und ich mag auch die Art und Weise, wie er akzeptiert, dass die Probleme, die er in den Vordergrund gezerrt hat, gelöst werden. Diese Lösungen beschreibt er dann jeweils weniger laut. Also ich kann gut mit ihm, ich mag ihn.
Tages-Anzeiger: Ist er gut für Europa?
Jean-Claude Juncker: Er hat wohl wie jeder französische Staatspräsident am Anfang eine zu rationale Herangehensweise an die europäischen Dinge. Das rutscht jetzt langsam in den Bauch. Aber ich mag ihn als Menschen, ich mag ihn als anstossenden, zupackenden, gestaltenden Politiker. Wie alle wird er am Ende seiner Amtszeit zur Kenntnis genommen haben, dass es in der Europäischen Union nicht nur grosse Staaten gibt, sondern auch kleine.
Tages-Anzeiger: Man hat den Eindruck, dass das Verhältnis zu Angela Merkel nicht so ist, wie es zwischen Chirac und Schröder oder gar zwischen Kohl und Mitterrand war.
Jean-Claude Juncker: Das Verhältnis Schröder/Chirac war in der Anfangszeit auch miserabel. Es hat sich in der Folge trotzdem ein sehr freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Europa braucht den deutsch-französischen Schulterschluss. Dieser reicht nicht, um Europa weiterzubringen. Wenn er aber ausbleibt, kann es keinerlei Fortschritt geben.
Tages-Anzeiger: Nun machen sich auch anderswo Zersetzungserscheinungen bemerkbar. Wenn man Ihr Nachbarland Belgien betrachtet, zweifelt man am europäischen Zusammenhalt. Wenn man die europakritische Haltung der Niederländer sieht, fragt man sich, was aus Benelux geworden ist.
Jean-Claude Juncker: Das ist doch Unsinn. Wer genau hinsieht, wird feststellen, dass die Zersetzungsgefahr, die man in Belgien zu erkennen glaubt, im belgischen Volk so nicht besteht. Belgien ist nicht in einem Zerfallsprozess begriffen. Und die Niederländer sind nach dem negativ verlaufenen Verfassungsreferendum etwas vorsichtiger geworden in europäischen Fragen. Die Benelux hat an europäischer Naivität eingebüsst.
Tages-Anzeiger: Naivität oder Euphorie?
Jean-Claude Juncker: Die Belgier und Niederländer waren immer hoch euphorische Europäer. Wir waren da immer etwas zurückhaltender. Ich bin seit 25 Jahren Mitglied der luxemburgischen Regierung und habe immer mit den Belgiern und Niederländern gestritten, weil die nie genug haben konnten von Europa. Ich habe beide immer davor gewarnt und ihnen gesagt, sie sollten doch vielleicht einmal ihre Bevölkerungen danach fragen, ob sie das auch so sehen. Die Niederländer haben es gemacht, und die Belgier können froh sein, dass sie es nicht getan haben.
Tages-Anzeiger: Der deutsch-französische Motor stottert, in Benelux ist Ernüchterung eingetreten. Was bedeutet diese Entwicklung?
Jean-Claude Juncker: Es ist eine gewisse Realitätsbezogenheit eingekehrt, was ich sehr begrüsse. In Belgien und den Niederlanden hat die offizielle Politik manchmal auf penetranteste Art den Fehler gemacht, so zu tun, als ob der Nationalstaat, die Nation, etwas Obszönes wäre. So als gälte es, nur noch die europäische Sicht der Dinge zu haben. Ich bin weiss Gott ein überzeugter Europäer. Aber die Vorstellung, dass Europa den Nationalstaat von der europäischen Bildfläche wegfegen könnte, habe ich nie gehabt. Nationen sind keine provisorischen Erfindungen der Geschichte. Die Menschen brauchen den direkten Bezug zu ihrer unmittelbaren Umgebung. Es gibt schon einen irrsinnig grossen Graben zwischen nationaler Politik und den Bürgern, um so weiter ist dieser Graben zwischen europäischer Politik und der europäischen öffentlichen Meinung. Die Menschen sind Europäer und Belgier und Österreicher und Deutsche und Sachsen und Bayern und Sarden und Italiener. Man sollte aufhören den Menschen weiszumachen, dass wir nur Europäer wären.
Tages-Anzeiger: Hat die Erweiterung der EU um die osteuropäischen Mitgliedsstaaten dieses Nationalstaatsgefühl wieder zurückgebracht, weil diese Länder ihre Unabhängigkeit eben erst erlangt hatten und sie nicht gleich wieder aufgeben wollten?
Jean-Claude Juncker: Nein, dieses Nationalstaatsgefühl war in der EU immer präsent. Richtig ist aber, dass für diese mittel- und osteuropäischen Staaten über Nacht der lang ersehnte Traum der Eigenständigkeit in Erfüllung ging. Dabei gehört es zu den glücklichen Fügungen der europäischen Nachkriegsgeschichte, dass diese Staaten ihre neu gewonnene Souveränität nicht auf Kosten der Nachbarn ausgelebt haben. Sie wollten sie vielmehr sofort in das Frieden und Stabilität stiftende Projekt der EU einbringen. Man muss sich einmal vorstellen, wir hätten in Europa den Euro und die Wiedervereinigung nicht hingekriegt. In welchem Zustand befände sich Europa und die Schweiz, wenn wir die disziplinierende Kontinentalklammer der Einheitswährung nicht geschaffen hätten, wenn sich europäische Geschichte und Geografie nicht friedlich wieder zusammengefunden hätten? Europa wäre heute ohne die stabilisierende Wirkung der EU ein chaotischer Kontinent.
Tages-Anzeiger: Wie muss man sich ein EU-Gipfeltreffen mit 27 Staatschefs genau vorstellen?
Jean-Claude Juncker: Das wüssten Sie gerne (lacht)
Tages-Anzeiger: Verraten Sie uns, wie sich das abspielt. Gibt es noch die engen Freundschaften?
Jean-Claude Juncker: Also, es ist weniger intim als früher, aber das Mass an persönlichen Freundschaften ist immer noch da. Die Verhandlungen mit Polen führen wir im Kreise von vier oder fünf und überzeugen dann die andern davon, dass das Resultat richtig ist.
Tages-Anzeiger: Es gibt jetzt also kleinere Klubs?
Jean-Claude Juncker: Ja, variierende Kombinationen, wobei einige immer dabei sind.
Tages-Anzeiger: Das wäre dann "Kerneuropa"?
Jean-Claude Juncker: Ach, ich bin kein Anhänger dieser Idee. Ich bin nicht für Kerneuropa, sondern für Kernkompetenz. Wenn man Europa weiterbringen möchte, auch als Einzelperson, braucht es ein sehr genaues Wissen über die Befindlichkeiten der andern. Man muss wissen, mit wem man es zu tun hat. Wie soll ich etwa mit einem Schweizer Bundesrat korrekt über Steuerprobleme verhandeln können, wenn ich nicht weiss, wer Blocher ist? Weiss Gordon Brown, wer Blocher ist?
Tages-Anzeiger: Apropos Kernkompetenz: Sie wären doch die ideale Besetzung für den Posten des ersten EU-Präsidenten, der mit dem Vertrag von Lissabon geschaffen worden ist.
Jean-Claude Juncker: Ich antworte Ihnen in der Sprache der Fussballspieler: Ich habe mit Luxemburg noch lange nicht fertig. Schauen wir mal.
[...]
Tages-Anzeiger: Herr Juncker, was macht "Mister Euro", der Vorsitzende der Finanzminister der Euro-länder, während einer Börsenkrise? Flimmert bei Ihnen die ganze Zeit der Bildschirm mit den abstürzenden Aktienkursen?
Jean-Claude Juncker: Ich werde nicht dafür bezahlt, die Aktienkurse minütlich zu verfolgen. Aber wir kümmern uns in der Eurogruppe intensiv um diese Vorgänge. Im Kreis der fünfzehn Finanzminister haben wir die Zusammenhänge analysiert, die es jetzt zu beachten gilt. Dabei sind wir zum Schluss gekommen, dass keine Gefahr für eine weltweite Rezession besteht.
Tages-Anzeiger: Weil sich die europäische Wirtschaft von jener der USA abgekoppelt hat?
Jean-Claude Juncker: Der Einfluss der Hypothekarkrise auf die europäische Wirtschaftsentwicklung ist relativ begrenzt, weil unsere Staaten von den Grunddaten her sehr gut aufgestellt sind: Die Haushalte der meisten Eurostaaten sind konsolidiert, die Zahl der Beschäftigten wächst, die Arbeitslosenquote sinkt, und die Sparquote ist im Gegensatz zu jener in den USA weiterhin hoch. Auch unsere Leitungsbilanz ist positiv.
Tages-Anzeiger: Hat die Aufsicht versagt, dass die Hypothekenkrise sich derart ausbreiten konnte?
Jean-Claude Juncker: Man muss die Ursachen dieser Krise sehr genau untersuchen. Tatsache ist, dass sich das weltweite Bankgewerbe nicht auf der Höhe der Zeit gezeigt hat.
Tages-Anzeiger: Viele Investitionsvehikel, die jetzt zu dem Debakel geführt haben, wurden bis vor kurzem noch als geniale Instrumente angepriesen, um die Risiken besser zu verteilen.
Jean-Claude Juncker: Ich habe das nicht zu kommentieren. Die international führenden Banker scheinen nur auf der Höhe der Zeit zu sein, wenn es darum geht, den Regierungen Ratschläge zu erteilen, wie man die öffentlichen Finanzen und die Wirtschaftspolitik zu gestalten hat. Dort aber, wo die Banker auf sich selbst gestellt sind, versagen sie brutal. Das Ansehen dieser Leute hat bei mir inzwischen das Niveau erreicht, das die Banker ihrerseits regelmässig meiner Berufssparte zusprechen.
Tages-Anzeiger: Diese Spitzenmanager kassieren zum Teil zweistellige Millionengehälter.
Jean-Claude Juncker: In den Chefetagen der Banken, aber auch anderer Unternehmen werden Gehälter und vor allem Abfindungssummen bezahlt, die jeder Beschreibung spotten. Das ist etwas, was mich punkto sozialer Gerechtigkeit massiv stört. Wenn ich den luxemburgischen Staatshaushalt an die Wand fahre, verliere ich die Wahlen. Wäre ich Manager, würde ich wohl 80 Millionen Euro dafür kriegen.
Tages-Anzeiger: Wann ist ein Spitzensalär unanständig?
Jean-Claude Juncker: Es ist nicht an mir, das festzulegen. Ich plädiere für Selbstregulierung. Die Führungspersönlichkeiten aus der Wirtschaft müssen ein Gefühl dafür entwickeln, was zulässig ist und was nicht. Was wir aktuell beobachten, ist es jedenfalls nicht.
Tages-Anzeiger: Was gibt Ihnen die Hoffnung, dass die Spitzenkräfte sich freiwillig mässigen könnten?
Jean-Claude Juncker: Die Wirtschaftsvertreter fordern ständig Lohnzurückhaltung von den Angestellten. Die europäische Wirtschafts- und Währungspolitik ist dabei stets zur Stelle und bemüht sich, dass es angesichts der gestiegenen Öl- und Nahrungsmittelpreise nicht zu Zweitrundeneffekten via Lohnanpassungen kommt. Das ist richtig. Aber im Gegenzug müssen jetzt auch die Chefetagen Verzicht üben. Alles andere wäre moralisch nicht korrekt.
Tages-Anzeiger: Hat die Politik in dieser Kernfrage des gesellschaftlichen Zusammenhalts versagt?
Jean-Claude Juncker: Ich kenne niemanden in den politisch relevanten Kreisen Europas, der diese völlig überhöhten Gehälter verteidigen würde. Die politische Debatte dazu findet statt. Und das wird die Wirtschaft nolens volens zur Kenntnis nehmen müssen.
Tages-Anzeiger: Gerade diese Fragen der Gerechtigkeit scheinen derzeit immer mehr Politiker in die so genannte Mitte zu treiben.
Jean-Claude Juncker: Das ist nicht neu. Dabei ist Mitte gemäss elementarer Geometrie ein Punkt und keine Fläche. Ich wundere mich denn auch darüber, dass alle Politiker plötzlich diesen Punkt für sich beanspruchen. Dort steht dann jeder jedem im Weg.
Tages-Anzeiger: Stärkt es die Extreme, wenn alle in der Mitte ihr Glück suchen?
Jean-Claude Juncker: Ich finde es grundsätzlich nicht bedauernswert, dass die politischen Familien in Europa - inklusive der Schweiz - sich von den Rändern entfernen und in der Mitte nach dem Konsens suchen. Früher haben sich die Politologen genau über das Gegenteil aufgeregt; dass nämlich die Extreme gestärkt wurden. Was man auch tut als Politiker, der Politikwissenschaft macht man es nie recht. Wo auch immer also die Mitte genau liegen mag, ich begrüsse die Zuwendung der Parteien zu dieser Schnittmenge.