"Kleines Land, großer Europäer" Jean-Claude Juncker au sujet de l'Europe et de la Suisse

Roger De Weck: Willkommen, Jean-Claude Juncker.

Jean-Claude Juncker: Hallo.

Roger De Weck: In dieser Aula der Züricher Universität im September 1946 hielt Winston Churchill eine Rede. Wäre jemals ein vereintes Europa im Stande, sich das gemeinsame Erbe zu teilen dann genössen seine 300 oder 400 Millionen Einwohner Glück, Wohlstand und Ehre. Der churchillche Traum, ist er verwirklicht?

Jean-Claude Juncker: Er ist zu großen Teilen verwirklicht, obwohl nicht alle glücklich sind und der Wohlstand nicht alle erreicht hat. Es gibt eine nicht unerhebliche Zahl europäischer Bürger die unter der Armutsgrenze leben. Und dies entspricht mit Sicherheit nicht dem churchillchen Traum.

Aber andere Träume von Churchill sind ganz in Erfüllung gegangen. Er hat hier in Zürich von 300 Millionen Europäern geredet. Wir haben jetzt 500 Millionen Europäer in der Europäischen Union. Und das knüpft an eine andere Churchill-Rede an, die ich zu seinen großen Reden halte obwohl ich die Churchill-Rede nicht kleinreden möchte, sei es auch nur weil er sehr engagiert über die Rolle kleiner Staaten auf dem europäischen Kontinent geredet hat.

Aber er hat gesagt in Den Haag 1947, als die paneuropäische Union sich zu ihrem ersten Treffen zusammengesetzt hatte, und als man die Idee der Gründung des Europarates auf den Weg brachte, und die Sowjetunion ihre damaligen sogenannten Satellitenstaaten daran hinderte bei dieser europäischen Integrationsübung mitzumachen, und sie im übrigen davon abhielt von den Geldern des Marshallplanes zu profitieren, da Churchill hat gesagt in Den Haag 1947: "Wir fangen heute im Westen an was wir eines Tages im Osten zu Ende führen werden". Genau dort sind wir gelandet. Wir sind 500 Millionen Europäer - Westeuropäer, Mitteleuropäer, Osteuropäer. Churchill war ein großer Mann mit Weitblick

Roger De Weck: Seit dem Beitritt vieler Mittel- und Osteuropäer gibt es in der Tat eine Mehrheit von kleinen Staaten, wie Sie erwähnten, in dieser Europäischen Union. Und in der Rede sagte Churchill, ich zitiere, "wenn das Gefüge gut und richtig gebaut wird, so wird die materielle Stärke eines einzelnen Staates weniger wichtig sein. Kleine Nationen werden genau so viel zählen wie große. Und sie werden sich ihren Rang durch ihren Beitrag für die gemeinsame Sache sichern." Ist das so, dass die kleinen soviel zählen wie die großen?

Jean-Claude Juncker: Wenn ich hier im französischen Fernsehen sitzen würde, würde ich sagen: Ja. Weil wir unter uns sind, würde ich sagen: meistens. Weil wir ganz unter uns sind würde ich sagen: wenn es sich zuspitzt, versuchen die Großen eine Einigung zu finden. Und weil viele uns zuhören, die nicht zu den Grossen gehören, füge ich hinzu: wenn sie sich zusammensetzen um eine Lösung, eine Einigung zu finden, schaffen sie es im Regelfall nie wenn es nicht die Hände vieler Kleiner hätte, die mit anfassen und mit anpacken würden.

Wenn Europa immer darauf hätte bauen können, dass die größeren Mittelstaaten der Europäischen Union, oder der Europäischen Gemeinschaft in früheren Zeiten, in eine Richtung ziehen, dann wären wir viel weiter als wir sind. Es wird sehr oft gesagt, und das stimmt auch in der Substanz, dass die deutsch-französische Freundschaft unverzichtbar wäre um den Europäischen Zug auf den Gleisen zu halten. Das ist so. Es ist aber nicht mehr so ausgeprägt wie es früher war. Es braucht immer noch die deutsch-französische Antriebskraft, aber sie reicht nicht mehr. Es braucht viele Kleine die das Gaspedal mitdrücken, damit jedwedes Bremsmanöver, das von Größeren eingeleitet würde, schon im Vorfeld nicht stattfindet weil man dann weiß, es trägt den Wagen aus der Kurve.

Roger de Weck: Als er noch Kandidat war, dachte der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy an ein Direktorium der 7 großen EU-Mitglieder.

Jean-Claude Juncker: Als Kandidat kann man vieles denken, als gewählter Staatspräsident kann man vieles von dem was man denkt nicht tun.

Roger de Weck: Fühlen Sie sich als Luxemburger manchmal an die Wand gedrückt?

Jean-Claude Juncker: Ich habe das Gefühl nie gehabt. Situationen wo man isoliert gewesen wäre, hat es wenige gegeben. Und wenn es sie gegeben hat - in Steuerfragen beispielsweise - dann wurde man auch sehr schnell von den Kleinen verlassen. Ich habe nie den Eindruck gehabt von den Großen plattgewalzt zu werden. Überhaupt nicht.

Roger de Weck: Was macht man als kleines Land um seine Interessen effizient durchzusetzen?

Jean-Claude Juncker: Man argumentiert. Man redet zur Sache. Man macht seine Späße dort wo Humor weiterhilft. Man übt sich in feiner Ironie ohne in blanken Zynismus abzurutschen. Und man muss die dicken Bretter besonders beharrlich bohren. Man muss länger bohren mit unseren kleinen Bohrern als die Großen bohren müssen mit ihren etwas größeren Bohrern. Aber sie bohren nicht tiefer.

Roger de Weck: Und dieses beharrliche Bohren mit kleinen Bohrern, ist das ein Geschäft das Luxemburg so im Laufe der Jahrzehnte erlernt hat? Ist das eine Kompetenz die, die Eidgenossenschaft, wenn sie denn eines Tages Mitglied der EU wäre, von heute auf morgen denn auch hätte?

Jean-Claude Juncker: Also das Handwerkliche muss man lernen und man lernt es durch jahrzehntelange Praxis. Und es vererbt sich auch von Politikergeneration zu Politikergeneration. Es wird ein zweites Habitus, es wird eine Art und Weise zu sein. Erfolgsrezepte dafür gibt es eigentlich nicht, nur dieses eine vielleicht: Dass man aus europäischem Geist heraus argumentieren muss. Dass das Stichwort Europa sehr oft als Arbeitstitel einer Einlassung, im Ministerrat beispielsweise, auftauchen muss. Die Benennung des eigenen Landes, oder die genaue Interessenbeschreibung des eigenen Landes, oder die breite Darstellung eigener Befindlichkeiten müssen in den Hintergrund treten. Alle müssen den Eindruck haben, man strebt eine europäische Einigung an, auch wenn man versucht sogenannte nationale Interessen, die legitim sind, mit unter Dach und Fach zu bringen. Und vor allem, es darf niemand auf die Idee kommen, dass man für weniger Menschen redet als die Vertreter größerer Staaten. Niemand darf jemals auf die Idee kommen, wenn ich rede, dass ich für 400 000 Luxemburger rede. Diesen Verdacht darf niemand haben.

Roger de Weck: Und wie macht man das?

Jean-Claude Juncker: Dadurch, dass man europäische Zuschnitte und europäische Profilierungen dem gibt was man vorträgt. Man muss, um es ein bisschen pathetisch zu formulieren, aus kontinentaler Sicht der Dinge heraus seine Argumente vortragen. Nicht sagen Luxemburg hätte gern, oder Luxemburg sagt „Ja“, oder Luxemburg sagt „Nein“. Der französische Staatspräsident kann sagen: „La France estime“ und der britische Premierminister kann sagen: „Britain is against“. Das kann man als Kleiner so nicht tun. Man kann es tun, das hat dieselbe fortschrittbehindernde Wirkung. Aber man muss wissen, man kann das nicht so oft tun wie die Anderen.

Roger de Weck: Wie handhaben Sie ein Problem wenn es sich stellt, wie packen Sie es an? Suchen Sie jedes Mal sozusagen nach der Konstellation, nach den Verbündeten die für Sie wichtig wären? Gehen Sie strategisch vor und suchen Sie sich die und die Verbündeten für die und die Sachfrage?

Jean-Claude Juncker: Man muss sich im Entstehen begriffene Konstellationen riechen und sie dann in positivem Sinne des Wortes instrumentalisieren. Man kann [unterbrochen]

Roger de Weck: Das Riechen macht man durch viele Gespräche, das Dauergespräch in der Europäischen Union?

Jean-Claude Juncker: Ich rieche es am Telefon, und dadurch, dass man sich sehr intensiv auf dem Laufenden hält über die innenpolitische Entwicklung in den jeweiligen Mitgliedsstaaten. Es ist so, jemand am Tisch sagt etwas, das gefällt oder gefällt nicht. Wichtig ist nicht so sehr, dass er es sagt. Wichtig ist zu wissen, wieso er es sagt. Und die meisten, die etwas sagen was gefällt oder nicht gefällt, tun es vor dem Hintergrund ihrer innenpolitischen Entwicklung oder des momentanen Ambientes in einem Mitgliedsland.

Man muss sich also auf dem Laufenden halten. Größere tun das im Regelfall nicht, die brauchen dieses Wissen auch nicht. Man muss sich auf dem Laufenden halten über das was in Finnland ansteht. Man muss wissen welche Färbungen die innenpolitischen Debatten in Österreich haben. Und man muss sich kundig machen in maltesischen und zypriotischen Befindlichkeiten. Große brauchen das nicht weil deren Wort kommt ein demographisches Gewicht zu was kleine Länder durch argumentatives Gewicht ersetzen müssen. Und die Argumente werden gut und reifen heran wenn man weiß, was die anderen umtreibt. Ansonsten bin ich der Meinung wenn man eine Strategie hat, soll man sie nicht im Fernsehen erklären weil spätestens dann hat man sie verloren.

Roger de Weck: Wer in der Eidgenossenschaft etwas bewirken will, der muss von morgen früh bis abends spät nur an eines denken, an Kompromisse. In der großen europäischen Eidgenossenschaft namens EU ist das dasselbe?

Jean-Claude Juncker: Ja, das ist genau dasselbe. Ich bin kein Freund so genannter billiger oder fauler Kompromisse. Kompromisse schließen nur um eine Lösung zu finden die keine Lösung ist, das ist nicht so sehr mein Ding. Aber an der Bildung von Kompromissen mitzuwirken, die ein erkanntes Problem wirklich lösen oder einer Lösung sehr nahe bringen, und zwar einer Lösung die Bestand hat, dies ist eine Kompromisssuche die ich für urdemokratisch halte und von der ich weiß, dass wenn es sie nicht gäbe, wir in Europa - wie die Schweizer auch in der Eidgenossenschaft - nicht zusammen arbeiten könnten.

Verzichten nicht auf eigene Grundüberzeugungen aber auf die Farben die man seinen Grundüberzeugungen in dem Moment gerne geben würde. Das muss man tun wollen. Das muss man tun können. Dies hat als Folge - wenn ich mich im luxemburgischen Rahmen weiterhin bewegen darf - dass mal sehr intensiv und sehr engagiert für europäische Belange in Luxemburg eintreten muss. Ich wünsche mir dies von jeder Mitgliedsregierung. Und dass man genau so engagiert für luxemburgische Belange, ohne die notwendigerweise immer so benennen zu müssen, in Europa eintreten muss.

Im Nationalstaat innenpolitisch aufzuwerben und in Brüssel das Gegenteil zu tun, oder in Brüssel etwas zu tun, das man zu Hause wieder in Abrede stellt, dies ist eine Variante des Fehlverhaltens vieler europäischer Regierungen die zur Europamüdigkeit geführt hat.

Roger de Weck: Bleiben wir in Brüssel. Was ist dieses Brüssel? Wie nehmen Sie dieses "Brüssel" wahr? Eine große bürokratische Maschine? Oder im Gegenteil eine hocheffiziente, kleine und straffe Verwaltung?

Jean-Claude Juncker: Brüssel ist der Geburtsort unzähliger Missverständnisse. Und eines davon ist, dass man denkt - in Luxemburg, in Deutschland, in der Schweiz, sonst wo - dass es in Brüssel so etwas wie ein Bürokratiemonster gäbe. Das gibt es nicht. Die Europäische Union hat weniger Bedienstete als die Stadt Köln. Es mag ja sein, dass die Stadt Köln zu viele hat aber die Europäische Union hat nicht so viele Beamte wie man denkt. Das hat die Durchschnittsbeamtendichte einer europäischen Großstadt.

Wahr ist, dass einige die in Brüssel arbeiten, amtieren, herrschen und walten und verwalten manchmal vergessen für wen sie eigentlich zu arbeiten haben. Reißbrettentwürfe zuhauf schaden der europäischen Sache weil sie die europäische Politik von den Menschen zu entfernen droht. Aber Brüssel als bürokratischen Tausendfüssler, Brüssel als Allesfresser der in alles hineinbeißt was an nationalem Grün noch in europäischen Landschaften zu beobachten ist, dies ist eine Beschreibung die so nicht stimmt.

Roger de Weck: Aber so wird Brüssel wahrgenommen. Woher kommt das?

Jean-Claude Juncker: Weil viele Regierungen über Jahrzehnte in ihren Hauptstädten Brüssel so geschildert haben. Mich ärgert immer der Satz, wenn man im nationalen Umfeld etwas bewirken muss was den Menschen nicht so sehr gefällt - das ist die eigentliche Politik, der Rest ist weniger Ernst zu nehmen - dann wird vieles erklärt mit Hinweis auf Brüsseler Beschlüsse, Entscheide, Richtlinien.

Man tut so als ob man am Zustandekommen dieser Entscheidungen nicht beteiligt gewesen wäre. Die Kommission, die ja die eigentliche Chefin dieser europäischen Beamtenschar ist, die kann ja nichts entscheiden, die kann nur vorschlagen. Entscheiden tun die Minister der jeweiligen nationalen Regierungen und entscheiden tut das Europäische Parlament. In vielen Fällen wird einstimmig entschieden. Man kann dann nicht nach Hause fahren und sagen, wir wurden gezwungen dieses und jenes zu tun, weil man hat in der Entscheidung gleichberechtigt mit allen anderen mitgewirkt.

Vieles wird auch mit Mehrheit und zwar mit qualifizierter Mehrheit entschieden. Und da wird man manchmal überstimmt. Das ist aber die Regel in parlamentarisch verfassten Demokratien und zu diesem selekten Club gehören alle europäischen Staaten.

Aber auch wenn man eine Abstimmung verliert, darf man nicht nach Hause gehen und erklären man wäre an der Unvernunft der anderen gescheitert. Genau so sehr wie wenn man sich in einer bestimmten Sache durchsetzt, man nicht nach Hause gehen darf und den Menschen erklärt, man hätte gesiegt. Diese Wortwahl, die ich immer wieder höre, vor allem im angelsächsischen Raum nach Brüsseler Ratstagungen, dass Großbritannien gesiegt hätte, und dass Frankreich, was nicht zum angelsächsischen Raum gehört, gesiegt hätte, ist eine Redensunart die verheerende Schäden anrichtet, weil der Eindruck entsteht als träfen sich in Brüssel Vertreter fast verfeindeter Staaten die gegeneinander kämpfen würden. Nein, wir machen Politik für den gesamten Kontinent. Wir regieren in Europa nicht gegeneinander sondern miteinander im Vertrauen darauf, dass das was wir zustande bringen, wie hieß das bei Churchill, zu Wohlstand und Glück führt.

Roger de Weck: Seit 1995 gehören Sie dem Kreis der Regierungs- und Staatschefs in der Europäischen Union an. Wird man ein bisschen zynisch wenn man die Leute kommen und gehen sieht, die eben das machen was Sie soeben bemängelten, nämlich sich auf Kosten des gemeinsamen Clubs zu profilieren?

Jean-Claude Juncker: Nicht alle tun das, einige tun das. Einige tun das manchmal. Einige tun das immer wieder. Als ich 1995 an der ersten Sitzung des Europäischen Rates teilnahm habe ich mich erstmal geduckt und nichts gesagt. Das ist eine gute Verhaltensregel für alle Neuankömmlinge. Nicht alle respektieren diese Regel. Ich stelle nur fest von all denen die damals um den Tisch herum saßen sitzt keiner mehr am Tisch. Das führt aber nicht darauf zurück, dass sie sich politisch verirrt oder verrannt hätten. Ich stelle nur heiter und gelassen fest, dass ich das überlebt habe.

Roger de Weck: Weswegen?

Jean-Claude Juncker: Ja, weil die Luxemburger - manche mögen die tiefere Weisheit dieses Volkes ja bezweifeln, ich tue das nicht - mich immer wieder in dieses Amt gewählt haben. Ich bin nicht da weil ich geputscht hätte, sondern weil ich gewählt worden bin.

Roger de Weck: Sie haben Ihr Amt aufs Spiel gesetzt, dass Sie nach dem Nein der Franzosen, nach dem Nein der Niederländer den EU-Verfassungsvertrag zur Abstimmung stellten in Luxemburg und ihr politisches Schicksal damit verbanden.

Jean-Claude Juncker: Ich war, nur wenige wissen das, gegen das Abhalten einer Volksbefragung in Luxemburg weil wir keine Tradition in dem Sinne und in dem Maße haben, dass man dies ohne größeres Problem bewerkstelligen könnte. Es hat in Luxemburg im 20. Jahrhundert zwei Referenden gegeben. Dann haben wir am Anfang des 21. ein drittes im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Verfassungsvertrages organisiert.

Ich war dagegen. Aber die vorherrschende Meinung war die, dass man dies tun sollte weil es eh keinen Zweifel daran gäbe, dass die Luxemburger dem wie immer auch gearteten Vertragswerk zustimmen würden. Das war dezidiert nicht meine Einschätzung. Es reicht, dass man mit den Menschen auf der Strasse redet um zu wissen, wieviel Europamüdigkeit, wieviel Zweifel an Europa und wieviel Europafaulheit weil es uns im Regelfall gut geht, es in Luxemburg gibt.

Als dann Franzosen und Niederländer „Nein“ gesagt haben - aber ich hatt das schon vor deren „Nein“-Votum zum Ausdruck gebracht - ist mir klar geworden, auch in vielen Gesprächen mit allen Regierungschefs, dass wenn Luxemburg nach diesem doppelten „Nein“ aus Paris und Den Haag auch noch „Nein“ sagen würde, dass man dann nicht nur den europäischen Verfassungsvertrag auf der Schutthalde ablegen könnte, sondern überhaupt die Idee begraben könnte die europäischen Institutionen und die europäischen Entscheidungsmechanismen und die europäischen Entscheidungswege vertraglich neu zu straffen, effizienter zu gestalten und neue Bereiche für europäisches gemeinsames Wirken aufzubrechen.

Deshalb war dies für mich ein Herzensanliegen und viele haben dies nicht verstanden. In Luxemburg haben viele sogar gemeint sagen zu müssen, dies wäre ein Erpressungsversuch. So als ob es Erpressung wäre, wenn man aus einer Niederlage – ich hatte den Vertrag immerhin verhandelt und unterschrieben - die logische Schlussfolgerung zieht, nämlich wenn der Volkssouverän einen abstraft, hat man das Recht verwehrt diesem Volkssouverän weiterhin auf den Nerven herumzutrampeln.

Und ich war der festen Überzeugung, Luxemburg als solches hätte sich von einem „Nein“ auch nicht gut erholt in europäischen Gesamtzusammenhängen. Wenn alles unmöglich geworden wäre weil es dann auch dieses luxemburgische „Nein“, das dritte „Nein“ aus einem Gründungsmitglied der Europäischen Union gegeben hätte, und man dann die Vertragsneufassung auf Eis gelegt hätte – ja, Frankreich wird sich von derartigen Verfehlungen immer schnell erholen. Ein kleines Mitgliedsland, das mit dem Makel leben muss, Fortschritte in Europa durch ein negativ verlaufendes Referendum verhindert zu haben, wird sehr lange brauchen um wieder in den Kreis derer vorstoßen zu können, die in dem Raume sitzen wo die Musik gespielt wird. Ich habe gerne, dass Luxemburg dort sitzt wo die Musik gespielt wird.

Roger de Weck: Wenn die Schweiz dort säße wo die Musik gespielt wird, Mitglied wäre der Europäischen Union, dann gäbe es nicht nur ein Referendum sondern es gäbe jedes Jahr über die Umsetzung dieser oder jener EU-Richtlinie X Referenden, Volksinitiativen, vielleicht sogar gegen das eine oder andere was in Brüssel gemeinsam beschlossen wurde. Sehen Sie das als realistisch an?

Jean-Claude Juncker: Ist die Frage ob ich es als realistisch ansehe, dass die Schweiz Mitglied würde oder ob ich es als realistisch ansehe, dass die Schweiz Mitglied wird unter voller Beibehaltung ihrer besonderen Form der direkten Demokratie?

Roger de Weck: Letzteres.

Jean-Claude Juncker: Ich halte dies nicht für unmöglich. Ich halte dies selbstverständlich für schwierig. Man hat sich in Europa und in der Schweiz, denke ich, auch noch nie intensiv, im Detail, mit der Frage beschäftigt wie europäisches Entscheiden und schweizerisches Nachentscheiden eigentlich miteinander in Einklang gebracht werden könnten.

Ich gehöre zu denen die höchsten Respekt vor der direkten Demokratie der Schweiz haben. Und wer sich etwas intensiver mit der Schweiz beschäftigt, wird auch die unwahrscheinliche Reife des schweizerischen Volkes feststellen. Die Schweizer geben manchmal per Volksinitiative oder per Volksbefragung ihre Zustimmung zu Projekten die, legte man sie den Mitgliedsländern der Europäischen Union zum Referendum vor, ohne jeden Zweifel mit einem sehr hohen Prozentsatz abgelehnt würden. Ich kann mich erinnern, dass die Schweiz einmal per Volksbefragung, per direkte Demokratie die Benzinsteuer erhöht hat. Wer das in einem Mitgliedsland der Europäischen Union versuche, der würde die 90%-Grenze sehr schnell, sehr konkret erleben.

Deshalb, die Schweiz kann stolz sein auf diese Art der direkten Volkskontrolle, die ja dazu führt, dass es eine mehr als informelle Mitgestaltung durch das Volkes bei der Politikentscheidung auch dort kommt wo das Volk nicht direkt befragt wird. Wenn man dies dann in Einklang bringt, darüber muss man nachdenken. Es ist perfekt denkbar, dass - ich mag das Wort nicht sehr weil es historisch konnotiert wird – es einige Ermächtigungsgesetze gäbe wo der Schweizer Volkssouverän seiner Regierung und seinem Parlament Zustimmungsrecht auf der europäischen Ebene einräumen würde, ohne dass der Volkssouverän zu diesen Fragen noch einmal gehört würde. Aber das ist keine Frage mit der wir uns aktuell auseinandersetzen, weil die Beitrittsfrage Schweiz in der EU, Schweiz nicht in der EU, wird in der Schweiz nicht hochaktuell diskutiert und in der Europäischen Union auch nicht.

Roger de Weck: Sollte sie diskutiert werden?

Jean-Claude Juncker: Ich bin ein ausgewiesener Freund der Schweiz. Ich wäre über eine Vollmitgliedschaft der Schweiz in der Europäischen Union sehr froh. Und ich würde auch perspektivisch frohlocken, weil es gäbe einen Schub an gesundem Menschenverstand und an Erdverbundenheit, an Bodenhaftigkeit der Europäischen Union, die ja manchmal Gefahr läuft abzuheben. Die Schweizer gemeinsam mit anderen würde sie daran hindern dies zu tun.

Tatsache ist, dass die Schweiz ja nicht Mitglied der Europäischen Union sein muss um von der stabilisierenden Wirkung sowohl des Euros als auch von der Gesamtintegration Europas in hohem Masse nutzen zu tragen. Ich denke mir manchmal, wenn ich mit Schweizer Freunden rede, dass die Souveränitätsabtritte des Nicht-EU-Mitgliedes Schweiz größer sind als die Souveränitätsabtritte des EU-Mitgliedes Schweiz wären.

Der Unterschied zwischen Schweiz und Luxemburg ist, dass wir and dem Tisch sitzen wo Entscheidungen getroffen werden, dass wir mitreden und mit abstimmen wenn es zum Votum kommt, und dass die Schweiz sehr oft Abnehmer ist, dessen was in Brüssel von anderen entschieden wurde.

Roger de Weck: Das nennt man hierzulande den autonomen Nachvollzug.

Jean-Claude Juncker: Ja, es gibt aber mehr Nachvollzug als Autonomie in demselben.

Roger de Weck: Und könnte die Schweiz, wenn sie denn eine Debatte führte, auf Ihre Unterstützung zählen? Oder würden Sie sich von vorne herein heraushalten und sagen, der Luxemburger mit seiner Erfahrung, obwohl sein Land in mancher Hinsicht ja durchaus vergleichbare Interessen hat, muss sich von vorne herein zurückhalten.

Jean-Claude Juncker: Also ich kann mir luxemburgisches Sich-Wohlfühlen auf unserem Kontinent überhaupt nicht vorstellen, wenn Luxemburg nicht Mitglied der Europäischen Union wäre. Und dies hat mit sehr unterschiedlichen historischen Erfahrungen zu tun. Zweiter Weltkrieg in Luxemburg und Zweiter Weltkrieg in der Schweiz sind völlig auseinanderdriftende Erfahrungen. Das setzt sich über Generationen hinweg. Es gibt keine Schweizer Großväter die ihren Enkeln Kriegserlebnisse schildern müssen. Die gibt es in Luxemburg, die gibt es in Frankreich, die gibt es in Deutschland. Das hat also sehr verschiedenartige Prägungen im Volkscharakter wenn ich dies so sagen darf, zur Folge gehabt.

Aber wenn die Schweiz Mitglied werden möchte, würde ich das selbstverständlich mit Herzenslust und mit Herzenslaune unterstützen. Ich halte allerdings überhaupt nichts davon als Nichtschweizer in die Schweiz zu reisen und den Schweizern zu erklären wie sie sich am besten selbst zu ihrem endgültigen kontinentalen Glück verhelfen könnten. Nein, nein, nein. Belehrungen von außen verbieten sich die Schweizer. Ich verstehe etwas von kleinen Räumen und von kleinen Völkern. Kleine Räume und kleine Völker sind nicht der Raum in dem Appelle von außen und Einwirkungen von außen besonders willkommen sind.

Roger de Weck: Die historische Erfahrung von Luxemburg ist das Zerrieben-werden in den europäischen Kriegen. Die historische Erfahrung im kriegerischen 20. Jahrhundert der Schweiz war: abseits stehen lohnt sich. Würden Sie sagen, dass es sich weiterhin lohnen könnte?

Jean-Claude Juncker: Abseits stehen lohnt sich, wenn nicht alle abseits stehen. Wenn aber alle abseits stehen, dann lohnt sich das Abseits stehen für niemand. Dann wird das Spiel für den gesamten Kontinent sofort abgepfiffen.

Ich kritisiere die Schweiz nicht für die Tatsache, die glückliche Fügung auf den schweizerischen Raum bezogen, dass sie nicht in die Kriegswirren des 20. Jahrhunderts hineingezerrt wurde wie andere das wurden. Aber Luxemburg liegt zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen diesen sich über Jahrhunderte mit feindlichen Blicken und Gebärden gegenüber stehenden europäischen Großmächten. Das waren sie damals, das sind sie heute nicht mehr. Es hat in den letzten 400 Jahren alle 15 Jahre Krieg zwischen Deutschland und Frankreich gegeben. Und Luxemburg war immer Kriegsschauplatz. Ich habe das schon erwähnt, öfters in der Schweiz.

Mein Vater wurde gegen den Willen und gegen den Willen eines ganzen Volkes unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg gezwungen Soldat der Wehrmacht zu werden. Nicht weil er das wollte, nicht weil er Lust verspürt hätte das Deutschtum in fremde Räume hineinzutragen, sondern weil er gezwungen wurde und weil dieses kleine Luxemburg ähnlich wie das Elsass, wo dies auch stattfand, sich dagegen nicht wehren konnte. Wenn ich vor den Herausforderungen auch neuerer Geschichte stehe und um die Beschränktheit luxemburgischer Arsenal und Mittel weiß, bis hin zu diplomatischen Mitteln, dann komme ich sowohl auf rationaler Erwägungsgrundlage als auch dann, wenn ich nur mein Herz sprechen lasse zu keiner anderen Schlussfolgerung, als dass es für dieses kleine Großherzogtum keine andere Wahl geben kann als mitmachen.

Über Luxemburg wurde früher entschieden. Luxemburg entscheidet jetzt mit. Wenn es über Sein oder Nichtsein Luxemburgs ging haben die großen Mächte und die Fremdmächte entschieden ohne, dass jemand auch nur mit uns geredet hätte wie es mit Luxemburg jetzt weitergeht. Jetzt sitzen wir gleichberechtigt an dem Tisch wo die kontinentalen Linien jeden Tag neu gezogen werden. Das ist ein unwahrscheinlicher Souveränitätsgewinn für ein kleines Land.

Anderes Beispiel: Euro. Luxemburg hat seit 1921 eine Währungsgemeinschaft mit Belgien gehabt. Mit wenig Rechten und mit wenig Steuerungsmöglichkeiten. Jetzt sind wir der gleichberechtigte Miteigentümer der stärksten Währung der Welt. Europa hat Luxemburg die Möglichkeit geboten den Beschränkungen, die durch Geographie und Demographie entstehen, zu entschwinden.

Roger de Weck: Zählen Sie die Schweizerinnen und Schweizer zu den Rosinenpickern?

Jean-Claude Juncker: Nein. Ich mag ja die Art und Weise nicht wie in der EU oder sonstwo manchmal über die Schweiz geredet wird. Schweizerische Strukturen sind gewachsen aus gutem Grunde. Die föderative Ordnung der Schweiz hat weit zurückliegende historische Gründe. Und ich erlebe die Schweiz auch nicht als Rosinenpicker.

Schweiz und Luxemburg werden ja vor allem in Sachen Finanzplatz und Bankgeheimnis sehr oft in der Rubrik derer kategorisiert, die Rosinenpickerei machen würden. Dabei respektieren wir internationale Verhaltensregeln und Normengebungen in demselben Umfang wenn nicht sogar besser als manche die mit dem moralischen Zeigefinger dauernd auf die Schweiz und Luxemburg zeigen. Nein, ich habe ein sehr unkompliziertes Verhältnis zur Schweiz. Ich mag die Schweiz. So einfach ist das.

Roger de Weck: Wenn Sie sie mögen, bemängeln Sie dann nicht die Haltung dieses Landes, die sagt: Ich maximiere mein nationales Interesse und bringe das, was ich in Europa einbringen könnte, nicht ein?

Jean-Claude Juncker: Das ist eine schweizerische Entscheidung. Ich halte sie für falsch. Weil ich eben nicht glaube auf mittlere Sicht, dass man die Gewinnmaximierung quasi als Staatsideologie in die nächsten Jahrzehnte hinein wird tragen können. Aber ich belehre die Schweiz nicht über den Irrweg von dem ich denke, dass sie sich auf ihm befände, weil dieses sich verbietet.

Die Schweiz muss selbst für sich entscheiden ob sie Mitglied der Europäischen Union werden möchte oder nicht. Und sie muss sich die Frage stellen ob es auf Dauer gut gehen kann, dass wenn die Europäische Union sich, nachdem sie sich jetzt nach Mittel -und Osteuropa ausgedehnt hat, weitere Räume eigentlich zu europäischen EU-Räumen werden lässt, ob sie dann diese Stand-alone-policy, dieses Ich-allein - was ja kein Ich-gegen-den-Rest-der-Welt ist - ob sie sich das noch leisten kann. Je dichter die Entscheidungen die in der Europäischen Union getroffen werden, werden, umso schwieriger wird es schweizerische Sonderwege in diesem europäischen Regel- und Normenwerk ausfindig zu machen. Das wird die Schweiz sich auf Dauer nicht leisten können. Aber es ist ihre eigene Sache.

Die anderen Europäer und wir Luxemburger schon eh nicht sagen den Schweizern nicht händeringend, dass sie Mitglieder in der Europäischen Union werden müssen. Also keine Zugriffe und keine Angriffe von außen aber im Gespräch mit meinen schweizerischen Freunden, und davon habe ich viele, plädiere ich immer für diese Dosis gesunden Menschenverstandes den es braucht um die zusammenwachsenden Dinge richtig einzuordnen.

Roger de Weck: Viele Schweizer vertreten so etwas wie eine City-state-strategie. Die Schweiz die sich viel stärker auch zum Beispiel nach Asien, wo das Wachstum jetzt ausgebrochen ist, ausrichten müsste, nach den Vereinigten Staaten und Europa etwas weniger gewichten sollte, dieses angeblich etwas erlahmte Europa.

Jean-Claude Juncker: Also dass die Schweiz sich interessiert an dem was außerhalb Europas im Wachsen und Werden begriffen ist, halte ich für einen völlig normalen Reflex. Dies tut die Europäische Union ja auch. Wir verfügen über Asien-Strategie, über Afrika-Strategie, über Russland-Strategie. Und die Schweiz "profitiert" ja in hohem Masse von der Ruhe und Stabilität die die Europäische Union in diese neu entstehenden Wirtschaftsräume hineinbringt. Genau so wie sie von der Stabilität auf dem europäischen Kontinent profitiert die der Euro unsere Wirtschaftsräume gebracht hat.

Was wäre denn aus dem Schweizer Franken geworden, und im Übrigen aus allen europäischen Währungen, wenn es den Euro nicht gäbe angesichts der aktuellen Turbulenzen auf den Finanzmärkten? Was wäre denn passiert mit dem Schweizer Franken und den anderen europäischen Währungen am 11. September 2001 oder anlässlich des Irakrkieges? Dann hätten wir ein riesiges Währungsdurcheinander in Europa, im früheren europäischen Währungssystem gehabt mit einer massiven Abwertung der südeuropäischen Währungen - Beispiel Lira - und mit einer relativ substanziellen Aufwertung so genannter soliderer Währungen im Norden Europas. Die Schweiz wäre heute ohne den Euro ärmer, und die anderen Europäer im Übrigen auch. Die Schweiz profitiert und ich kritisiere sie nicht dafür. [unterbrochen]

Roger de Weck: Aber man muss ja sagen, Trittbrettfahrer.

Jean-Claude Juncker: Nein, ich sage das nicht. Ich sage nur, objektiv betrachtet ist die Eurozone ein Stabilitätslieferer auch für die Schweiz. Ich beklage das nicht. Ich würde das beklagen wenn es nicht so wäre. Ich hätte nur gerne, dass man dies auch sieht, dass der Euro nicht nur in seinem eigenen Währungsgebiet stabilisierende Wirkung entfaltet sondern auch um dieses Gebiet herum stabilisierende Wirkung entfaltet. Aber entschieden wird in Frankfurt nicht in Zürich.

Roger de Weck: Wenn die EU Maßnahmen trifft, die möglicherweise Schweizer Interessen tangieren, dann ist sehr schnell in diesem Lande das Gefühl eines Imperialismus von Seiten der Europäischen Union. Sei es, dass es Staus gibt an der Grenze bevor das Schengen-Regime sozusagen begann einzutreten, sei es, dass man Re-importzolle machen wollte oder sei es jetzt im so genannten Steuerstreit wo die EU Forderungen an das schweizerische Staatssystem erhebt. Gibt es einen Willen die Schweizer zu knechten, sie jedenfalls zu beherrschen?

Jean-Claude Juncker: Es gibt den unverkennbaren Willen einiger Angstmacher in der Schweiz diese Debatte so darzustellen. Aber es gibt in der Europäischen Union diesen Willen nicht. Es gibt im Gegenteil in der Europäischen Union eine Vielzahl, wenn nicht alle unserer Mitglieder, die zu der Schweiz freundschaftlichste Beziehungen unterhalten möchten. Die Schweiz wird ja nicht von den EU-Europäern betrachtet als ein Eindringling in feindliches Gebiet.

Wir sind mit den Schweizern zusammen Europäer. Und die Tatsache, dass die Schweiz eben nicht Mitglied der Europäischen Union ist, nimmt ihr ja das europäische Signum nicht weg. Und im Übrigen, einige Kollegen, ich selbst auch, haben sehr oft schweizerische Standpunkte in den Brüsseler Verhandlungen. Auch in den Brüsseler Verhandlungen mit der Schweiz, wie die Regelung die wir in Sachen Regelung der Zinsbesteuerung erreicht haben in Europa, haben wir in sehr engstem Kontakt mit den schweizerischen Freunden und Kollegen in Brüssel durchfochten. Manchmal war Luxemburg sogar froh darüber, dass es die Schweiz gab und sehr oft war die Schweiz froh darüber, dass es Luxemburg am Verhandlungstisch gab. Aber wir konnten am Tisch, wo die europäische Entscheidung fiel mitverhandeln, und dann erst wurde mit der Schweiz verhandelt. Und es wäre mir lieber gewesen die Schweiz wäre mit am Tisch gewesen. Aber die Frage hatten wir ja schon behandelt.

Roger de Weck: Ist die Kommission, so wie sie agiert im aktuellen Steuerstreit mit der Schweiz gut beraten?

Jean-Claude Juncker: Nein.

Roger de Weck: Und?

Jean-Claude Juncker: Ich plädiere beständig dafür, dass es zu direkten Verhandlungen mit der Schweiz auf der höchsten politischen Ebene kommen soll.

Roger de Weck: Verhandlungen schon die, die Schweiz als solche nicht akzeptieren will.

Jean-Claude Juncker: Das finde ich ja eigentlich einen Fehlgriff in die semantische politische Rhetorikkiste, dass man in der Schweiz - was im Übrigen kein Mensch so recht zur Kenntnis nimmt - einen feinen Unterschied zwischen Gesprächen und Verhandlungen macht. Ich weiß, wenn ich verhandle, spreche ich und wenn ich spreche bin ich bald an der Grenze zum Eintritt in den Verhandlungsraum eingetreten. Ich würde dieses Distinguo da nicht lange aufrechterhalten.

Es ist im Interesse der Europäischen Union mit der Schweiz verhandelbare und belastbare Ergebnisse zu erzielen, und es ist im Interesse der Schweiz in direkte Verhandlungen aber auf höchster politischer Ebene mit den Kommissaren, mit dem Kommissionspräsidenten einzutreten, anstatt diese Probleme sich auf einem Tisch anhäufen zu lassen um den herum hohe Beamte der Kommission sitzen. Hier geht es um Politik. Hier geht es um den anständigen Umgang mit einem souveränen Staat, und das ist die Schweiz. Und das kann man nicht verbeamten im schlechten Sinne des Wortes, das muss man auf gleicher Augenhöhe verhandeln können.

Roger de Weck: Also hier Ihre Kritik an Brüssel auch.

Jean-Claude Juncker: Das mache ich dann, wenn ich die Kritik auch in Brüssel vorgetragen habe und das habe ich getan.

Roger de Weck: Und was war die Reaktion?

Jean-Claude Juncker: Die kennen Sie ja. Aber wir kommen auf dieses Thema zurück. Ich meine auch die Deutschen, auch die Österreicher, auch andere teilen die Auffassung, dass wir unser Auskommen mit der Schweiz haben müssen. Und diese Verhandlungen werden geführt werden.

Wobei ich meine schweizerischen Freunde eigentlich gerne darauf aufmerksam machen würde, dass sie weniger aufgeregt an diese Verhandlung heran gehen sollten. Es wird auch in der überregionalen schweizerischen Presse mit einer Inbrunst über diese Steuerverhandlungen oder Gespräche diskutiert und disputiert, die in keinerlei Weise in der Europäischen Union anzutreffen ist. Über die Schweiz wird am Tisch der Minister nicht geredet. Auch nicht über den sogenannten Steuerstreit mit der Schweiz. Das hat uns auf der politischen Ebene noch überhaupt nicht in vollem Umfang erreicht. Und ich wünschte mir von der Schweiz, dass sie etwas ruhiger, etwas souveräner mit diesem Thema umgehen würde. Es besteht keine Feuergefahr.

Roger de Weck: Es gab eine Zeit, da in der EU wie in der Schweiz der Europäische Gedanke beliebter war als heute. Und da haben wir ein Paradox. Auf der einen Seite große Erfolge: die europäische Wiedervereinigung ist in geordnete Bahnen gelenkt worden und vollzogen worden. Der Euro ist da. Der europäische Binnenmarkt ist da. Historischer Erfolg auf der einen Seite, und unter den Europäerinnen und Europäern eine zunehmende Distanzierung vom Gesamten. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?

Jean-Claude Juncker: Ich mag ihn nicht. Ich leide manchmal auch an ihm weil mir diese Larmoyanz, diese Weinerlichkeit vieler Europäer eigentlich nicht passt, dass wir uns an unseren Erfolgen nicht freuen und auch nichts tun wollen um Misserfolge zu verhindern. Weil Misserfolge in Europa verhindern wollen, setzt voraus, dass man mehr Europa haben möchte.

Nun ist das Problem das, dass in der europäischen öffentlichen Meinung - sofern es die gibt, die gibt es nicht wirklich - es zwei Grundtendenzen gibt. 50 % der Europäischen Menschen wünschen sich mehr Europa. Und 50 % der Menschen in Europa sind der Auffassung, dass wir eh schon Europa zu viel hätten. Und diese beiden Befindlichkeiten, Grundbefindlichkeiten die es überall in jedem europäischen Land gibt, die können wir einander kaum ins Gespräch kommen. Und der Politik gelingt es auch nicht eine Brücke zu schlagen zwischen denen die gerne mehr Europa hätten und denen, denen Europa heute schon zu weit reicht. Früher war alles einfacher. So reden ja alle die, die sich im vorgerückten politischen Alter befinden. [unterbrochen]

Roger de Weck: Mit 25 gingen Sie in die Politik.

Jean-Claude Juncker: Ja, das war zu früh. Viele wissen, dass die Europabegeisterung früher größer war. Man wollte Europa machen weil der Wunsch Europa weiterzubringen, zu vertiefen ja der Wunsch einer hart geprüften Generation war, der Kriegsgeneration. Wer wie unsere Väter Krieg erlebt hat, wer im Krieg verwundet wurde, wer seine zerstörten Dörfer und Städte nach Kriegsende wiedergefunden hat, wer Wiederaufbau im nationalen Rahmen hat machen müssen, wer bescheiden sein musste, damit seine Kinder besser leben konnten hat zu dem was das Europäische an sich bedeutet einen völlig anderen Bezug als unsere Generationen dies hat. Uns hat die Sonne dauernd auf den Kopf gebrannt, manchen erkennbar zu viel. Und den Vorgängergenerationen war das Leben eigentlich in jungen Jahren schon entgegengetreten eher mit einer schrecklichen Fratze als mit einem freundlich lächelnden Gesicht. Und diese Männer und Frauen, die eigentlichen Erfolgsbringer der europäischen Integration, haben mit aller Gewalt aber mit aller friedlichen Gewalt den Zusammenschluss des Kontinentes gewollt. Wir sind Erben der Leistung der Vorgängergeneration und Erben sind nur in den seltensten Fällen so tüchtig wie die von denen sie geerbt haben.

Roger de Weck: Das klingt fatalistisch.

Jean-Claude Juncker: Ich beschreibe etwas, was ich sehe und eine Sorge die ich habe. Und die Sorge ist die: Wenn wir die Europäischen Dinge nicht fest machen, wenn wir jetzt das europäische Wasser nicht in die Kanäle einfließen lassen aus denen dieses Wasser nicht übertreten kann, dann wird dies nicht mehr gelingen. Vieles wurde ja erreicht. Ich hätte gerne - und der Euro war ein Stück auf dem Weg -, dass die europäische Einigung irreversibel wird, weil dieses ewige Thema, dieses dramatische europäische Thema, sich zwischen Krieg und Frieden immer wieder entscheiden zu müssen ist kein Thema das aus der Vergangenheit stammt. Dies ist ein Thema das hochaktuell werden kann, wenn wir nicht auf diesem europäischen Kontinent höllisch aufpassen.

Und die, die unsere Länder regieren werden in 30 Jahren oder die, die unsere Gesellschaften animieren werden in 30 Jahren und die null Ahnung haben von den Zwängen die unsere Vorgängergeneration dazu gebracht hat den europäischen Kontinent in Frieden zusammenwachsen zu lassen, die werden die Kraft nicht haben um dies zu tun, weil ihnen das sentimentale und damit auch das moralische Argument fehlen wird. Sie werden es jedenfalls nicht glaubhaft für alle verständlich darstellen können. Deshalb: wir sind Erben der Kriegsgeneration, aber wir sind die letzten die dieses Erbe wirklich auf dem europäischen Kontinent endgültig verankern können. Und das sage ich nicht, weil ich Lust habe zukünftige Generationen zu beschimpfen oder weil ich zukunftsungläubig wäre. Das sagt mir mein Gefühl.

Roger de Weck: Wenn Sie am Tisch des europäischen Rates sitzen, dann sind Sie einer der wenigen die noch leidenschaftlich europäisch denken?

Jean-Claude Juncker: Ich mache folgende Beobachtung. Wenn Kollegen in den Kreis der Regierungschefs zustoßen - ich rede jetzt mal von den westeuropäischen Kollegen, im Zentrum und im Osten Europas ist das noch ein bisschen anders - dann gibt es diejenigen, die Europa im Bauch haben und die das Europäische das sie im Bauch tragen langsam rationalisieren und dann auch artikulieren. Und es gibt diejenigen, davon gibt es mehr, für die ist Europa eine selbstverständliche Sache, für die ist Europa Wirtschaft und Handel und Euro und, und, und.

Und dann stelle ich fest, – bei Gerhard Schröder habe ich das beispielsweise festgestellt - dass das, ohne den Kopf zu verlassen langsam in den Bauch rutscht. Dass das wirklich auch ein Aus-dem-Bauch-heraus-Erlebnis Europa wird, das dann zu richtiger europäischer Leidenschaft führt wie bei Schröder. Von vielen nicht bemerkt aber trotzdem geschehen.

Und so verbinden sich das rational Erdachte und im Täglichen klein weiterentwickeltes Europa mit der Leidenschaft derer, die das im Bauch tragen und es trotzdem auch im Kopf haben. Ich habe das im Bauch, da spür ich es. Und ich habe es im Kopf, da lasse ich es reden.

Roger de Weck: Viele möchten aber am liebsten sich begnügen mit so etwas wie einer europäischen Freihandelszone.

Jean-Claude Juncker: Ich hielt dies immer für ein falsches Konzept und verdächtige die, die immer in Richtung Erweiterung der Europäischen Union, in weitere Räume hinein bis in den Kaukasus hinein plädieren, dass sie dies eigentlich wollen, Europa als gehobene Freihandelszone.

Ich halte das Konzept der Freihandelszone - auch der gehobenen Freihandelszone - für ein zu simples Konzept für einen eminent kompliziert gebliebenen Kontinent. Man kann durch Machtlogik und durch Machtorganisation vieles bewirken. Wenn dieses Machtgeschehen nicht unterfüttert wird - ich versuche mal ein altmodisches Wort hier in unser Gespräch einzuführen - mit Liebe zu anderen, die sonst wo leben und die ich so intensiv nicht kenne, dann wird diese Macht in sich selbst zusammenbrechen.

Man muss dafür sorgen - und deshalb ist die Freihandelszone ein ungenügendes Konzept - dass die Menschen die in diesem Wirtschaftsraum leben, gerne in diesem Wirtschaftsraum leben. Dass sie auch die Sprachenvielfalt mögen. Dass sie die Landschaften die es sonstwo in Europa gibt, mögen. Dass sie durch das Kennenlernen der kulturellen Vielfalt und des kulturellen Reichtums der anderen selbst sich bereichern. Es brauch den Nationalstaat, die sofortige Nähe dessen was man kennt, das darf man den Menschen auch nicht wegnehmen. Ich bin gegen das Konzept der Vereinten Staaten von Europa. Ich bin für ein Europa wo man, wie soll ich das sagen, in zwei Richtungen tickt. Man hat die nationale Dimension des Patriotismus und man hat die europäische Dimension des Patriotismus. Aber Nationen sind auf Dauer eingerichtet. Es sind keine provisorischen Erfindungen der Geschichte. Und man sollte auch nicht den Eindruck geben als ob die Europäische Union Nationen und Regionen, Lokales und Regionales verdrängt.

Roger de Weck: Aber gerade diejenigen die, die Freihandelszone möchten, denken, dass das die beste Methode sei um die Nation aufrecht zu erhalten in ihrer Vollmacht.

Jean-Claude Juncker: Ich glaube nicht, dass die Nation an die ich glaube - ohne das zu überhöhen, ich bin nicht jemand der das Nationale überhöht. Ich bin jemand der sein Land mag und zwar sehr. Aber es gibt kein Land, keinen Staat, keine Nation in Europa die aus sich selbst heraus den Anforderungen der Zukunft gewachsen wäre. Europa ist nicht ein Sammelsurium von, aber ein Korb voller Kleinstaaten. Ich sage dies als zweitkleinster Staat in der Europäischen Union. Man darf nicht denken - die hören das nicht gerne, ich sage das trotzdem - dass Deutsche und Franzosen, bei aller Tüchtigkeit die beide Völker in sich tragen und bei aller Wirtschaftskraft die vor allem Deutschland hat, in der Welt den Respekt genössen den sie genießen wenn sie nicht Mitglieder der Europäischen Union wären. Sagen sie nicht oft, wissen sie aber sehr genau.

Roger de Weck: Mit anderen Worten: Hat Churchill fast in einer Ironie der Geschichte in dieser Aula eine Rede gehalten, als ein Brite der letztlich sich als Außenstehender betrachtete und die Vereinigten Staaten von Europa, die er ausrief oder die Art von Vereinigten Staaten von Europa, da sollte Großbritannien nicht dabei sein, in einem Lande, - die Schweiz - die ebenfalls nicht dabei sein will?

Jean-Claude Juncker: Beeindruckend an der Churchill-Rede hier in Zürich sind viele Sätze. Dauerhafte Aufmerksamkeit erheischte der Satz in dem er sagt, dass was er jetzt hier vorgetragen hat in diesem Saal beträfe nicht das Vereinigte Königreich. Da hat er sich ja geirrt, weil Großbritannien ist ja Mitglied der Europäischen Union geworden. Ein manchmal schwieriges Mitglied aber ich finde, ein unverzichtbares Mitglied. So. Und jetzt hat er dann die Rede vielleicht dann auch am falschen Ort gehalten, möchte man meinen weil er gesagt hat: Europäische Einigung passiert ohne das Vereinigte Königreich und her hat das hier in Zürich gesagt. Das Vereinigte Königreich ist ja dabei.

In vielen Jahren, wahrscheinlich Jahrzehnten wenn wieder ein Gespräch zwischen zwei Europäern in diesem Saal stattfindet, wird man vielleicht sagen, er hat sich zweimal geirrt. Er hat gedacht, Großbritannien würde nie Mitglied werden und er hat gedacht: ich sage das in der Schweiz, weil die Schweiz nie Mitglied werden möchte. Vielleicht stellt sich dieser Satz als einer der wenigen Irrtümer der sehr beeindruckenden Churchillchen Biographie heraus.

Roger de Weck: Jean-Claude Juncker, ich danke für dieses Gespräch.

Jean-Claude Juncker: Ich danke.

Membre du gouvernement

JUNCKER Jean-Claude

Organisation

Ministère d'État

Date de l'événement

22.03.2008

Type(s)

gouv:tags_type_event/interview