"Wir brauchen jemanden, der den Konsens ausarbeitet". Nicolas Schmit au sujet de la ratification du traité de Lisbonne à la Chambre des députés

Tageblatt: Die Kammer stimmt heute über den Vertrag von Lissabon ab. Probleme sind wohl keine zu erwarten?

Nicolas Schmit: Ich glaube die vier Parteien CSV, LSAP, die Grünen und die DP scheinen für den Vertrag zu stimmen, denn sie haben vorher auch für den Verfassungsvertrag gestimmt. Es wird daher wohl keine Probleme geben.

Tageblatt: Womit kann Luxemburg denn am wenigsten zufrieden sein in diesem neuen Reformvertrag?

Nicolas Schmit: Hauptsächlich, dass die soziale Dimension weiterhin in der ganzen europäischen Architektur unterentwickelt bleibt. Obwohl der Lissabonner Vertrag eine Verbesserung gegenüber der aktuellen Situation in diesem Bereich bringt. Das Prinzip der freien Konkurrenz wird nicht mehr als ein Ziel der Europäischen Union betrachtet, sondern nur noch als ein Mittel. Es gibt die Sozialklausel, die als solche zwar nicht alles möglich macht, aber genutzt werden kann, wenn der politische Wille vorhanden ist, um eben das Soziale mehr in den Vordergrund zu stellen. Es gibt zudem ein Protokoll zu den öffentlichen Diensten.

Tageblatt: Und die positiven Elemente?

Nicolas Schmit: Das waren schon die ersten positiven Elemente. Ich würde weiter dazu zählen, dass eine gewisse Vereinfachung im Funktionieren der Institutionen eingeleitet wurde, etwa indem die Mitentscheidung (Europäisches Parlament gemeinsam mit dem Ministerrat, Anm.) die Regel sein wird. Es werden mehr Entscheidungen mit einer qualifizierten Mehrheit getroffen, beispielsweise im Bereich der Immigration. Das bedeutet, dass es einfacher sein wird, zwischen den 27 zu Entscheidungen zu kommen. Die Union wird transparenter entscheiden. Hinzu kommt eine Beteiligung der nationalen Parlamente, wodurch die europäische Demokratie stärker in den nationalen Räumen verankert wird. Die Rechte der Bürger werden über die Möglichkeit einer Bürgerinitiative gestärkt. Dadurch entsteht ein großer Spielraum für die Bürger, um Initiativen in der Europapolitik zu starten.

Obwohl es schwierig ist, dieses relativ komplexe System der Europäischen Union zu vereinfachen, ist dies mit dem Vertrag in manchen Punkten gelungen.

Hinzu kommt die große Hoffnung, Europa mehr Präsenz auf der internationalen Bühne zu geben. Dort vermisst der Bürger Europa und wünscht sich ein aktiveres Europa. Mit dem neuen Hohen Vertreter für die gemeinsame Außenpolitik haben wir uns die Möglichkeit gegeben, besser auf der internationalen Ebene zu agieren.

Tageblatt: Die Gegner des Vertrages vermissen den Dialog. Wurde zu wenig über das Regelwerk geredet?

Nicolas Schmit: Wir wissen alle, dass dieser Vertrag eine ganz spezielle Geschichte hat, in Europa aber auch hier in Luxemburg. Ich beschäftige mich mit diesem Werk jetzt seit praktisch acht Jahren, vom Beginn des Verfassungs-Konvents bis zu den Referenden. Hier in Luxemburg hatten wir im Zuge der Volksbefragung die größte Debatte über Europa, die je in diesem Land stattgefunden hat. Obwohl zwei Länder den Verfassungsvertrag abgelehnt hatten, hat es sich die Volksbefragung in Luxemburg zum Positiven gewendet. Es haben sich selten so viele Menschen mobilisiert, um über Europa zu diskutieren, um mehr über Europa zu erfahren, um sich aber auch kritisch über Europa zu äußern, als damals.

Diesen Vertrag finden wir in der Substanz jetzt wieder. Eigentlich ist es kein neuer Vertrag. Wir haben es fertig gebracht, die Substanz im Wesentlichen zu retten. Es wurde Neues hinzugefügt wie z.B. das Protokoll zu den öffentlichen Diensten. Es wurden aber auch Abstriche vorgenommen, etwa jene der europäischen Symbole. Global betrachtet ist es für Luxemburg ein Erhalt der wesentlichen Punkte des Verfassungsvertrages, was für das Land positiv ist.

Ich würde nicht sagen, dass über den Vertrag nicht genügend diskutiert wurde. Ich stelle jedoch fest, dass die Gegner des Verfassungsvertrages sich wenig zu Wort gemeldet haben. Außer vor einigen Tagen, als sie sich hauptsächlich zu drei jüngsten Urteilen des Europäischen Gerichtshofes geäußert haben. Diese wurden aber nicht aufgrund des neuen Vertrages getroffen, da dieser noch nicht in Kraft ist.

Tageblatt: In rund zwei Wochen ist die wohl schwierigste Hürde mit dem Referendum in Irland für den Reformvertrag zu nehmen. Ist nach einem positiven Ausgang dieser Volksbefragung der Ratifizierungsprozess in trockenen Tüchern, oder sind weitere Überraschungen zu erwarten?

Nicolas Schmit: Ich würde sagen, die schwierigste Hürde ist tatsächlich das irische Referendum, da bei einer solchen Befragung die Leute auch andere Aspekte in Betracht ziehen als das, worüber abzustimmen ist. Umso mehr wir wissen, dass es nicht einfach ist, über ein solches Dokument abzustimmen.

Ich sehe eigentlich jetzt keine weiteren Gefahren. Es sind noch eine Reihe von Ländern, die den Vertrag ratifizieren müssen. Diese sind jedoch alle gewillt, dies bis zum Ende des Jahres zu tun. Ich bin jedoch ebenfalls relativ optimistisch, dass es in Irland zu einem positiven Ende kommt.

Tageblatt: Braucht die EU einen permanenten Ratspräsidenten, von dem bisher noch immer niemand weiß, was er zu tun hat?

Nicolas Schmit: Das würde ich trotz allem doch nuancierter angehen. Wir wissen schon, was er tun soll. Man kann nicht sagen, dass der Vertrag dazu nichts sagt oder darüber noch nicht diskutiert wurde, was der permanente Ratsvorsitzende tun oder auch nicht tun soll.

Ob wir ihn brauchen, auf diese Frage würde ich mit 'Jein' antworten. Wir waren a priori nicht begeistert vom Posten eines EU-Ratspräsidenten. Ich sehe jedoch auch gewisse Vorteile dabei. Es ist schon so, dass die Politik nach außen und insbesondere international zunehmend personifiziert ist. Dass dieser Europäische Rat, der nun einmal einer der Machtzentren in Europa ist, sich eine permanente Präsidentschaft installiert, hat eine Reihe von Vorteilen. Wir sehen immer mehr, dass eine Ratspräsidentschaft angesichts der 27 und demnächst 28 Länder, sich schwer tut, diese auf einen Nenner zu bringen, Verhandlungen vorzubereiten, einen Konsens zwischen allen auszuarbeiten ...

Das ist keine einfache Aufgabe. Wenn man nun davon ausgeht, dass die Ratspräsidentschaft auch noch eine Rolle in ihrem eigenen Land spielen soll, dann ist das nicht so einfach, mit 27 Ländern in Kontakt zu stehen, vor allem wenn es darum geht, schwierige Angelegenheiten zu bewältigen. Wir haben die Erfahrung gemacht, als es darum ging, den mehrjährigen EU-Haushalt auszuhandeln. Da gibt es schon ein Bedürfnis, auch intern, nach einem honest broker.

Das Zweite ist die Vertretung nach außen, was eigentlich auch ein Grund für die Schaffung dieses Postens war, da davon ausgegangen wurde, dass der Kommissionspräsident nicht in allen Fällen die EU vertreten soll. Wir hatten damals gesagt, dass wir uns vorstellen könnten, was übrigens auch im Vertrag steht, dass der Kommissionspräsident auch der Ratspräsident sein könnte. Es wird vom Vertrag nicht ausgeschlossen, dass diese Fusion eines Tages kommen könnte, auch wenn das nicht zu Beginn der Fall sein wird. Doch ich schließe nicht aus, dass das eines Tages eine Option sein könnte. Wenn es also erwünscht ist, dass eine andere Person als der Kommissionspräsident die EU nach außen vertreten soll, dann ist das nicht nur negativ. Europa braucht diese berühmte Telefonnummer, die sich (der ehemalige US-Außenminister Henry) Kissinger wünschte. Das hat auch Vorteile.

Wir wollen niemanden, der, wie die Franzosen sagen, "inaugure des chrysanthèmes'. Der Vertrag erlaubt jedoch auch keinen Hyperpräsidenten. Wir brauchen jemanden, der dazu beiträgt, im Europäischen Rat leichter einen Konsens zu finden. Der Ratsvorsitzende ist eine wichtige Funktion, die es erlaubt, Europa entscheidungs- und handlungsfähig zu halten, intern und extern. Sein Wirkungsfeld ist jedoch der Europäische Rat und nicht jenes der anderen Strukturen beim Rat. Er ist nicht der Präsident von Europa, sondern der Präsident vom Europäischen Rat.

Tageblatt: Ist der Posten anstrebenswert?

Nicolas Schmit: Natürlich ist dieser Posten anstrebenswert, da alle Posten anstrebenswert sind, die es erlauben, Europa nach innen effizienter zu gestalten, die Europa weiter bringen, um die europäische Integration zu festigen, sowohl in seinen Aktionsfeldern als auch bei den Bürgern Europas. Wie auch eine ganze Reihe anderer Posten in Europa anstrebenswert bleiben, in der Kommission, im Parlament oder in der nationalen Politik, wo ganz oft eine Verbindung zur Europapolitik besteht. Der Ratsvorsitz ist sicherlich ein wichtiger Posten, obwohl man ihm nicht mehr Wichtigkeit zuschreiben sollte, als er eigentlich hat.